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# taz.de -- Flandern und der Müll: Die Bloß-nicht-Wegwerf-Gesellschaft
> Deutschland recycelt fast wie ein Weltmeister. In Flandern läuft es
> anders – dort vermeidet man den Müll, wo es nur geht.
Bild: Nachhaltiger gehts nicht: „Open Plaats de Kringwinkel“ ist ein Kaufha…
Gent taz | Dreck ist Materie am falschen Ort. Das ist einfach. Die
Definition von Müll ist schon schwieriger. Die kleine grüne Glasvase in dem
Regal da hinten zum Beispiel; wenn ihre Vorbesitzerin sie in den Abfall
geworfen hätte, dann wäre die Vase jetzt Müll. Ist sie aber nicht. Sie
wurde zu „De Kringwinkel“ gebracht, einem doppelstöckigen, hellen Warenhaus
im Genter Stadtteil Brugse Poort. Es ist Teil eines Netzwerks, das die
belgische Region Flandern in Sachen Abfall-Management zum innovativsten
Standort Europas gemacht hat. In Deutschland ist Müllvermeidung durch
Wiederverwendung, neumodisch „Re-Use“ genannt, ein Expertenthema. In
Flandern ist es Alltag.
Darum ist die kleine grüne Glasvase weder Müll noch ein „Sekundärrohstoff�…
aus dem sich, geschreddert oder eingeschmolzen, neue Dinge machen ließen.
Sondern sie ist Teil eines staatlich subventionierten Warenhaussortiments.
Sie steht in einem flachen Wandregal neben der Treppe, in dem Glasvasen in
allen Farben des Regenbogens ein wirklich hübsches Stillleben ergeben. Es
schließen sich an die Abteilungen für Elektrogeräte, Möbel, Spielzeug,
Bücher und Haushaltswaren. Die graue Steintreppe führt hinauf in den ersten
Stock zur Bekleidung, Damen, Herren, Kinder.
Diese Treppe kommt, in kleinen, schnellen Schritten, eine gertenschlanke
Frau im leuchtend blauen Kleid heruntergefegt. Gut, dass dieser Text kein
Film ist. Eine Kamera hätte es jetzt schwer, und das liegt an Tine van
Rumst, der Geschäftsführerin des Warenhauses „Open Plaats de Kringwinkel“.
Was ist das für ein komischer, langer Name? Das kommt später.
Tine van Rumst ist 44 Jahre alt, gelernte Sozialarbeiterin mit honigblondem
Wuschelhaar und Sneakern, auf denen sie durch das Kaufhaus flitzt. Sie
spricht schnell, zeigt kurz auf ein altes Radio und begrüßt ein
Besuchergrüppchen. Sie schüttelt jedem die Hand, indem sie mit festem Griff
zupackt und den Arm runtersausen lässt, für wieder hoch ist keine Zeit.
## Ein Kaufhaus voller alter Dinge – aber kein Ramsch
Menschen und Dinge bleiben nicht lange in diesem Haus, die meisten
Mitarbeiter nur einige Monate, die Waren höchstens vier Wochen. Im besten
Fall funktioniert das Kaufhaus De Kringwinkel wie eine Drehscheibe, die
Menschen zu Arbeitsplätzen befördert und alte Dinge zu neuen Besitzern. Bei
den Dingen ist es leichter, aber van Rumst hat vor allem die Menschen im
Blick. „Hartelijk welkom“, ruft sie freundlich, dreht sich um und eilt
davon. „Kommen Sie mit“, ruft sie über die Schulter, „erst mal zur
Warenannahme“.
In der Annahmestelle von Open Plaats, ein hoher Raum mit dem Betoncharme
einer alten Garage, kommen die Kleider, Möbel, Vasen, Smartphones an.
Entweder bringen sie die weiß-orangen Transporter von De Kringwinkel aus
dem fünf Kilometer entfernten Lagerhaus, oder sie werden gleich
hergebracht, auf einem Gepäckträger oder auch, wie jetzt gerade, in zwei
Plastiktüten.
Anwar Hassan, 28, nimmt einem älteren Herrn die zwei Tüten ab, Danke, auf
Wiedersehen, der Mann schlurft weiter. Dinge bei einem der 137 Läden von De
Kringwinkel abzugeben oder von ihnen abholen zu lassen ist in Fladern
genauso selbstverständlich, wie sie dort zu kaufen. Ein „Kringloop“, das
ist auch für deutsche Ohren hörbar ein Kreislauf, und ein
„Kringloopwinkel“, das ist Flämisch für „Gebrauchtwarenladen“. Als si…
flämischen Secondhandläden und Sozialkaufhäuser vor rund 16 Jahren einen
einheitlichen Namen gaben, ließen sie den „loop“ weg und nannten sich „De
Kringwinkel“. Ihre alte, eingeführte Bezeichnung behielten die Initiativen
bei, und darum heißt das Geschäft in Brugse Poorts „Open Plaats de
Kringwinkel“. Nächstes Jahr wird es 20 Jahre alt.
Es liegt im Genter Stadtteil Brugse Poort, nur 10 Fahrradminuten entfernt
von den Gipfeln der Gravensteen, der Burg der Grafen von Flandern, aber die
sind hier nicht zu sehen. Touristen lernen das Viertel höchstens kennen,
wenn sie dort in einer günstigen Airbnb-Wohnung unterkommen. In den
schmalen Reihenhäuschen von Brugse Poort wohnen Arbeitslose, Studenten,
Migranten. Mittendrin liegt eine kleine Grünanlage mit Spielplatz, der
Pierkespark. Im heißen Sommer 2018 verdorrt dort das Gras. Ihn umschließen
ein vegetarisches Café, ein soziokulturelles Zentrum und eben das Open
Plaats de Kringwinkel.
## Menschen in Arbeit bringen und Müll vermeiden
Seit fünf Monaten arbeitet Hassan in der Annahmestelle, vor drei Jahren ist
er aus Somalia nach Belgien gekommen. Finanziert wird seine Stelle aus
einem der staatlichen Sozialpogramme wie die der allermeisten der 58
Mitarbeiter, nur 18 von ihnen sind fest angestellt. Ungewöhnlich für einen
De-Kringwinkel-Geschäft ist die hohe Zahl von Freiwilligen, die mithelfen.
180 Menschen unterstützen regelmäßig unentgeltlich für ein paar Stunden
oder ganze Tage lang den Laden. In anderen Läden ist die Struktur der
Mitarbeiter anders, sie finanzieren Mitarbeiter etwa aus den Töpfen der
Arbeitslosenversicherung.
Hassan späht kurz in die beiden Tüten, aha, Kleidung, er lässt sie in einen
grauen Rollcontainer fallen. Der Container daneben ist für Haushaltswaren,
daneben stapeln sich blaue Kunststoffkisten und Bananenkartons, neben einem
beigefarbenen, schmalen Kleiderschrank und einer Garderobe, alles heute
angekommen. „Ich habe hier mein Flämisch verbessert“, sagt er, „und einen
Einblick bekommen, wie die Logistik von so einem Kaufhaus funktioniert “.
Wichtig sei, dass die Kunden sich wohlfühlten, sagt van Rumst. Früher seien
sie vor allem Anlaufpunkt für Leute gewesen, die sich keine neuen Sachen
leisten konnten, sagt sie, „heute kauft bei uns auch die Mittelschicht,
weil es gute Dinge gibt, weil es umweltfreundlich und sozial ist“. Darum
der freundliche, helle Laden, darum die ausgefeilte Logistik vom Lager über
den Empfangsbereich bis in den Laden. Der dürfe nicht überfüllt wirken,
aber auch nicht leer. Wenn also ein Mitarbeiter der Haushaltswaren Lücken
im Sortiment meldet, fängt Hassan an, Kartons zu schleppen. Bald ist seine
Zeit hier vorbei, dann will er einen Führerschein machen und als Postbote
arbeiten. „Klasse“, sagt van Rumst, „das ist ein guter Plan.“
Pläne hat sie auch selbst, viel mehr Pläne als Zeit. „Wir möchten ab und zu
ein Repair-Café anbieten“, sagt van Rumst, „das als Anlaufstelle für
Interessierte dienen könnte.“ Ein kleiner Imbiss wäre nicht schlecht, in
dem man Kaffee trinken könnte, meint sie, oder zumindest erst mal ein
freundlicherer Eingangsbereich. Vielleicht müsse man auch noch mal über das
riesige Sortiment nachdenken.
## 137 Geschäfte, 55 Millionen Euro Umsatz
„Wir müssen unser Angebot an die jeweilige Kundschaft anpassen“, sagt
Jürgen Blondeel, stellvertretender Geschäftsführer von Komosie, der
Dachorganisation von De Kringwinkel. Das sei gerade die große
Herausforderung der Geschäfte, sagt er, zu lernen, dass nicht jeder Laden
genau gleich sein muss. Blondeel, 43, Hornbrille, Shorts, Turnschuhe,
graues T-Shirt, sieht aus wie ein Soziologie-Postdoc, ist aber studierter
Betriebswirt. Das kann man noch hören, wenn er zum Beispiel sagt, „wir
haben eine wundervolle Geschichte über die Umwelt, über soziale
Beschäftigung und gute, billige Produkte“ – Marketingsprech vom Feinsten.
Allerdings wollte Blondeel nicht sein Geld „damit verdienen, Geld zu
vermehren“, sagt er, „ich wollte was Sinnvolles machen“. Also ging er zu
Komosie, einer Non-Profit-Organisation in Flandern, unter dessen Dach sich
De Kringwinkel gegründet hat. 2002 war das, gerade in dem Moment, als sich
die Organisationen professionalisierten, ein einheitliches Marketing
beschlossen, eine einheitliche Warenpräsentation.
In den 1980er Jahren, als die Arbeitslosigkeit in Flandern explodierte,
gründeten sich viele kleine Initiativen, um Erwerbslosen Jobs und günstige
Einkaufsmöglichkeiten zu geben. Sie führten Sozialkaufhäuser, die es auch
in deutschen Städten gibt, ein bisschen ramschig, ein bisschen staubig,
viel guter Wille, sehr wenig Umsatz von Geld und Waren. In Flandern aber
schaltete sich 1993 die Ovam ein, doe Openbare Afvalstoffen maatschapij vor
het vraams gewest – die flandernsche Abfallbehörde. Sie betrachtete den
Gebrauchtwarenhandel, heute schicker „Re-Use“ genannt, schon damals als
wichtigen und selbstverständlichen Bestandteil einer nachhaltigen
Abfallpolitik. Heute betreibt das Netzwerk De Kringwinkel 137 Geschäfte,
gemeinsam haben sie im vergangenen Jahr einen Umsatz von 55 Millionen Euro
gemacht. Flächendeckend können die rund 6,5 Millionen Flamen in Läden von
De Kringwinkel einkaufen – und alte Dinge spenden.
Die Kombination aus Sozial- und Umweltpolitik ist das Erfolgsgeheimnis von
De Kringwinkel. Von den rund 5.500 Beschäftigten sind nur 10 Prozent
„normal“ angestellt, 90 Prozent arbeiten in verschiedenen öffentlichen
Beschäftigungsprogrammen oder Weiterbildungsmaßnahmen. Heute bestreitet das
De-Kringwinkel-Netzwerk ungefähr 55 Prozent des Umsatzes durch Verkäufe in
den Shops, 45 Prozent machen die subventionierten Löhne aus.
## Hohe Fluktuation unter den Mitarbeitern
Der derzeitigen flämischen Regierung, einer konservativen
Drei-Parteien-Koalition, passt das allerdings nicht ins sozialpolitische
Konzept. Es werde zunehmend schwerer, Jobs öffentlich zu finanzieren,
seufzt Jürgen Blondeel, „ständig gibt es neue Regeln, neue Ideen, es ist
die Hölle“. Zwar gelten die Flandern in Europa mit ihrem „Re-Use“-Netzwe…
als Vorbild, doch zu Hause knirscht es. „Wir sollen Arbeitslose so schnell
wie möglich fit machen für den ersten Arbeitsmarkt“, sagt Blondeel, „das
geht aber nicht mit allen.“ Trotzdem sei für die meisten nach sechs Monaten
Förderung Schluss.
Darum muss auch Kristine Verkanter bald gehen, die von ihren 49
Lebensjahren 27 Jahre lange alte Menschen in Aachen gepflegt hat, darum
schwingt ihr Deutsch in sanftem Rheinisch. „Immer wieder Abschied nehmen“,
sagt sie, „das ging nicht mehr.“ Und jetzt? Jetzt würde sie sehr gerne hier
bleiben, bei ihren Kolleginnen in der Kleidersortierung. Textilien gehören
zu den umsatzstärksten Warengruppen bei De Kringwinkel, vor Haushaltswaren,
Möbeln und Elektrogeräten.
Bei Open Plaats wandern die alten Klamotten in Kisten in einen hellen Raum
im ersten Stock. Ganz früher war das Kaufhaus mal eine Schule, große
Fenster und schwarz-weiße Steinböden sind geblieben. Alte Hosen, Röcke,
Jacken werden von Frauen über Tische geschoben, auf Flecken, Risse, kaputte
Reißverschlüsse geprüft. Was einen kleinen Defekt hat – und sei es ein
Schweißrand unter dem Ärmeln –, landet in der Tonne. Textilien sind zu
billig, um sie zu reparieren oder zu waschen, Fehlerhaftes wird exportiert,
recycelt oder verbrannt. Was die erste Prüfung schafft, wandert zu Kristine
Verkanter. Sie begutachtet jedes Teil, gibt ihm einen Preis und zieht es
auf Bügel. Ein Euro kostet eine lange Kinderhose, 50 Cent eine kurze. Ein
Damen-T-Shirt gibt es für 2 Euro, eines mit Spaghetti-Trägern für 1,50
Euro. „Das sind alles gute Sachen hier“, sagt Verkanter und klemmt eine
kleine rosa Mädchenhose an einen Bügel, „nichts dran, und so billig“.
Sorgfältig zieht sie die Hose glatt und fragt: „Ist schön, oder?“
Schön – oder Abfall. Die Frage, was Abfall eigentlich ist, ist ja deshalb
so schwierig, weil die Antwort sich wandelt, je nachdem, wer sie wo und
wann gibt. Die Antwort der Flandern ist ziemlich überzeugend: Es ist
weniger Müll, als man denkt.
17 Aug 2018
## AUTOREN
Heike Holdinghausen
## TAGS
Abfall
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