# taz.de -- Nachruf auf die Autorin Barbara Bollwahn: Sie schrieb über das Leb… | |
> Unsere langjährige Kollegin Barbara Bollwahn ist tot. Drei tazlerInnen | |
> berichten, was man von ihr lernen konnte. | |
Bild: Taz-Reporterin und Schriftstellerin Barbara Bollwahn | |
Was ist die wichtigste Eigenschaft einer herausragenden Reporterin? Klar, | |
sie sollte genau beobachten, hartnäckig nachfragen, scharf analysieren, | |
anschaulich schreiben und spannend erzählen können, all das. Allein, die | |
erste Voraussetzung ist, dass sie sich begeistert: für Ereignisse und | |
Phänomene, für Begeben- und Verrücktheiten, für Menschen und ihre | |
Geschichten. Eine Reporterin muss das Neue lieben, so sehr, dass sie am | |
Ende auch die Leserinnen und Leser begeistert. | |
Barbara Bollwahn hat das Neue geliebt. Sie war durstig und hungrig danach, | |
ganz buchstäblich neu-gierig. Zwischen Idee und erstem Google-Klick | |
verstrichen meist nur Sekunden. Sie telefonierte und fragte, terminierte | |
und plante. Auf den Zug fuhr sie immer überpünktlich, um am Bahnhof noch in | |
Ruhe einen Kaffee zu trinken. In diesem Moment genoss sie, dass es losging, | |
raus auf Reportage, rein ins Leben. | |
Im Sommer 1991 kam sie zur taz. Eigentlich Spanisch-Dolmetscherin, 1986 in | |
Leipzig diplomiert, wollte sie nach der Wende zur Zeitung. Zuerst arbeitete | |
sie als Redaktionsassistentin im Berlinteil, nach einem Jahr war sie | |
Redakteurin. Sie berichtete aus dem Obdachlosenheim, dem Bordell, dem | |
Zivilschutzbunker und begleitete Schrottsammler auf ihren Touren. | |
Aber warum soll eine bloß auf Deutsch recherchieren, wenn sie Spanisch so | |
fließend, ach was: so rasant spricht wie Deutsch? Sie fuhr nach Argentinien | |
und Venezuela, nach Kuba und Costa Rica. | |
1996 wurde ihr der Wächterpreis der Tagespresse verliehen: Ihre | |
[1][taz-Reportage über einen rassistischen Überfall auf drei Briten in | |
Mahlow] hatte zur Festnahme und Verurteilung der Täter geführt. Später | |
besuchte sie den seit dem [2][Überfall querschnittsgelähmten Briten] in | |
Birmingham. Auch einen der Täter traf sie im Gefängnis, um zu sehen, ob die | |
Verurteilung etwas bei ihm bewirkt hatte. | |
Was man von der großen Reporterin Barbara Bollwahn auch lernen kann: Wie | |
man Protagonisten gegenübertritt. Sie bezirzte, bequatschte, ermahnte sie, | |
lachte mit ihnen, empörte sich mit ihnen und nahm Anteil, wenn ihnen etwas | |
zugestoßen war. Sie sah sie nie funktional als Figuren, sondern begegnete | |
ihnen als Menschen. Von kaum jemandem wurde sie abgewiesen. | |
Sie konnte genauso Handwerker ohne Versicherung überzeugen, mit ihr zu | |
sprechen, wie die Eltern von zwei Brüdern, die einen Freund umgebracht und | |
verscharrt hatten. Wer sie reinließ, konnte sich darauf verlassen, dass sie | |
nicht dramatisierend schrieb, sondern mit beobachtender Klarheit. | |
2004 startete sie [3][ihre taz-Kolumne „Rotkäppchen“]. Gerade war die | |
Tragikomödie „Good Bye, Lenin!“ in den Kinos gelaufen, der MDR stürzte si… | |
auf Spreewaldgurken und Halloren. Barbara Bollwahn, die Reportagen über | |
Mauertote und Mauerschützen geschrieben hatte, erzählte nun über die DDR | |
jenseits von Regime und Repression. Sie schrieb über das Leben. Streng | |
ich-empirisch, mit Witz, aber ohne falsches Pathos über ihre Herkunft aus | |
dem Land, das es nicht mehr gab. Das war Avantgarde. | |
2007 kündigte sie, um etwas Neues zu machen: Sie schrieb Jugendbücher, das | |
erste: Mond über Berlin. Für die taz schrieb sie weiter, Gespräche mit | |
besonderen Menschen von [4][der Puppen-Doktorin] bis zum | |
[5][Heizungsableser-Ehepaar]. Aber auch wunderbare kleine Szenen. Eine | |
führte sie zum [6][Georgen-Parochial-Friedhof in Friedrichshain, zum | |
„evangelischen Totenacker“], wie es in typisch bollwahnschem Humor hieß, um | |
dann wieder ernst einen Grabspruch zu zitieren: „Er ist fürwahr ein Mensch | |
gewesen.“ | |
Zuletzt schrieb ich meiner Kollegin drei Attribute: sprechrasend, riesig | |
recherchierend, ideenwunderbar. Sie erkannte sich darin. Wir sprachen über | |
ein taz-Tagebuch über ihre unheilbare Krankheit. Bald sollte es starten. | |
Aber dann ging alles zu schnell. | |
Am Sonnabend ist Barbara Bollwahn in Berlin gestorben. Sie wurde 54 Jahre | |
alt. | |
Georg Löwisch | |
*** | |
## Schreiberin der Herzen | |
Die Diagnose ereilte sie Anfang des Jahres. Weitermachen, Leben. Das war | |
Barbara. Den nahenden Tod hat sie bis zum Schluss nicht akzeptiert. „Wenn | |
ich hier wieder draußen bin“, vertröstete sie gute Bekannte, die sie | |
besuchen wollten, als sie vor drei Wochen ins Krankenhaus kam. Sie meinte | |
das ernst. | |
Ihre Mutter, die zwei Schwestern und den engen Freundeskreis empfing sie | |
mit den Worten: „Los, wir gehen auf den Balkon.“ Mit dem Rauchen hatte sie | |
aufgehört, umso munterer dampften im Klinikum die Cannabisschwaden. | |
Auf dem Balkon im fünften Stock war die Hitze erträglich, der Blick ruhte | |
auf sattem Grün, in der Ferne die Kuppel des Gewächshauses des Botanischen | |
Gartens, am tiefblauen Horizont der Fernsehturm. Lachen, Geschichten | |
erzählen – sanft wie der Luftzug plätscherten die Gespräche dahin. Mit | |
Barbara ging einem nie der Text aus. | |
Anfang der 90er Jahre war sie in die Berlin-Redaktion der taz geschneit. | |
Eine große gut aussehende Frau, braunes schulterlanges Haar. Sie war die | |
erste Redaktionsassistentin des Lokalteils. Über das Chaos war sie | |
entsetzt. | |
Die große Ordnungsliebe stand in scheinbarem Widerspruch zu ihrer Person: | |
direkt und unverblümt, kein Laster war ihr verpönt. Von einem Moment in den | |
anderen vermochte sie vom Hochdeutschen ins tiefste Sächsisch zu wechseln, | |
wenn sie eine Anekdote zum Besten gab. So schnell wie ihre Finger auf der | |
Tastatur waren, so schnell war ihre Zunge, rau und herzhaft war ihr Lachen. | |
Sie war eine prämierte Reportagenschreiberin, als sie die taz verließ. Dass | |
sie den sicheren Job für das Wagnis aufs Spiel setzte, Schriftstellerin zu | |
werden, passte zu ihr. In einem ihrer Jugendbücher – „Der Klassenfeind + | |
ich“ – hat sie ihre eigene Biographie verarbeitet: raus aus den beengten | |
Verhältnissen der DDR, Freiheit, Reisen. | |
Raffiniert, wie sie war, hatte sie sich damals auf der Leipziger Messe | |
einen Job ergaunert. Nur Parteimitglieder durften auf der Messe | |
dolmetschen. Gekleidet in westlichem Schick, textete Barbara die | |
Kontrolleure am Eingang so überzeugend auf Spanisch zu, dass man ihr | |
abnahm, dem Messestand der Spanier anzugehören. | |
Die beschäftigten sie dann wirklich als Dolmetscherin – unter strikter | |
Verschwiegenheitspflicht. Bezahlt wurde mit Westgeld. Mit einem Teil davon | |
bezahlte Barbara den Taxifahrer, der sie am 9. November 1989, als die Mauer | |
fiel, von Leipzig nach Westberlin kutschierte. Es war die einzige | |
Möglichkeit wegzukommen, die Züge waren proppevoll. Einen Moment lang | |
zögerte der Mann, als sie am Taxistand mit den Geldscheinen wedelte. Er | |
müsse aber vorher noch nach Hause, seinen Privatwagen holen, sagte er dann. | |
Man hatte sich viele Jahre aus den Augen verloren. Die kleinen Geschichten, | |
die Barbara für die Rubrik „Berliner Szenen“ schrieb, ließen einen ein | |
bisschen teilhaben an ihren Erlebnissen. Manchmal war es ein Hauch von | |
Traurigkeit und Einsamkeit, der die Szenen umwehte. Barbara wohnte seit 20 | |
Jahren in Friedrichshain. Den Casanova aus Argentinien, der mit Nachnamen | |
wirklich so heißt, den sie auf einer Südamerikareise kennengelernt und | |
geheiratet hatte, hatte sie kurz nach dem Einzug rausgeschmissen. | |
Die Gespräche mit ihr auf dem Balkon waren ein Geschenk. Wohin sie fahren | |
würde, wenn sie reisen könnte? Zu den Ziegenbauern nach Estremadura, zur | |
Tante an die Ostsee und natürlich nach Schollach. In dem Dorf im | |
Hochschwarzwald [7][war Barbara Dorfschreiberin]. | |
Sie war bei der Treibjad dabei, hat einem Kälbchen auf die Welt geholfen, | |
das Barbara heißt. Im Bierhäusle hat sie die Bauern unter den Tresen | |
getrunken und ihnen Geschichten erzählt, bei denen ihnen die Münder offen | |
stehen geblieben sind. In Barbaras Küche hängt ein Artikel aus einer | |
Schwarzwald-Zeitung. Die Dorfschreiber vor und nach ihr sind darin lobend | |
erwähnt. Zu Barbara heißt es: die Dorfschreiberin der Herzen. | |
Die Mutter war bis zum Schluss bei ihr. Zu einem Ausflug auf den Balkon | |
reichte die Kraft in den letzten Tagen nicht mehr. Am Mittwoch dann | |
plötzlich die Ansage: „Wir gehen in den Garten.“ Mutter, Schwester und ein | |
enger Freund halfen ihr auf. Mit dem Rollstuhl ging es hinaus. Für den | |
Ausflug hatte sich Barbara das bunte Sommerkleid angezogen. Mit | |
ausgebreiteten Armen legte sie sich auf den Rasen. So, als sauge sie das | |
Leben in vollen Zügen in sich auf. | |
Plutonia Plarre | |
*** | |
## Boll wie Bollwerk, Wahn wie Wahnsinn | |
Barbara Bollwahn war eine der ersten tazlerInnen, die ich kennenlernen | |
durfte, als ich ab 1992 meine ersten Schritte als freier Autor im | |
Berlin-Teil wagte. Da war diese Assistentin, die so eine Energie und gute | |
Laune ausstrahlte, dass sie unwillkürlich eine Rolle einnahm, die darüber | |
weit hinausging. „Boll wie Bollwerk und Wahn wie Wahnsinn“ sagte sie glaube | |
ich immer am Telefon, wenn es darum ging, einem Gesprächspartner ihren | |
Nachnamen zu buchstabieren. | |
Wir konnten beide spanisch, auch wenn wir es aus sehr unterschiedlichen | |
Gründen gelernt hatten. Sie als Übersetzerin in der DDR, in der Hoffnung, | |
über die Sprache die Welt erkunden zu können. Ich als Nicaragua-Aktivist, | |
der zwar reisen konnte, aber zunächst nix verstand. | |
Nach Kuba durfte sie, wie sie oft erzählte und auch einmal in einer | |
taz-Kolumne schrieb, damals nicht reisen, weil der Zwischenstopp im | |
kapitalistischen Kanada, den die von Schönefeld abfliegenden Aeroflot- und | |
Cubana-Maschinen auf dem Weg nach Havanna zum Auftanken nehmen mussten, den | |
Genossen zu unsicher erschien. Auf Kuba war sie gedruckt präsent – durch | |
die von ihr übersetzten Aufbau- und Betriebsanleitungen aller möglichen | |
Dinge, die die DDR ins sozialistische Bruderland schickte. | |
Barbara wurde in der taz Redakteurin, Reporterin, später dann Buchautorin – | |
alles mit diesem trockenen Humor, den ich so eigentlich nur bei Ossis | |
kennengelernt habe und der einem mitunter den Mund offenstehen ließ. | |
Miteinander zu tun gehabt haben wir dann nach langer Zeit erst wieder 2015. | |
Die taz-Panterstiftung bereitete den ersten Workshop mit kubanischen | |
JournalistInnen vor, und Barbara erbot sich, nach Kuba zu fliegen und die | |
Einzuladenden kennenzulernen, ihnen die taz und das Programm zu erklären, | |
sich um die Visa-Erteilung durch die deutsche Botschaft zu kümmern. | |
Das tat sie sehr engagiert, und als es Schwierigkeiten gab mit der | |
Bundesbürokratie erinnere ich eine Mail von nachts um halb zwei deutscher | |
Zeit, in der sie sich entrüstet beschwerte, warum sie Konny Gellenbeck von | |
der Genossenschaft nicht am Telefon erreiche, ob die etwa schon weg sei. Am | |
nächsten Tag musste sie selbst sehr lachen. | |
Während des Programms in Berlin sprang sie immer wieder als Übersetzerin | |
ein und organisierte einen Konzertbesuch in dem von ihr hoch geschätzten | |
Piano Salon Christophori in den alten Uferhallen im Berliner Wedding. Wenn | |
Barbara jemals die deutsch-kubanische Freundschaft aufs Spiel gesetzt hat, | |
dann an diesem Abend. Die KubanerInnen waren im Jetlag und totmüde, und | |
eine koreanische Pianistin spielte Werke von Liszt. | |
Die Nachricht von ihrer Krankheit hat mich sehr getroffen. Hör auf mit dem | |
Scheiß, hätte ich ihr am liebsten gesagt. Das passt echt nicht zu dir. Ich | |
werde sie nicht vergessen. | |
Bernd Pickert | |
29 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
Plutonia Plarre | |
Bernd Pickert | |
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