# taz.de -- Kolumne German Angst: Hier und dort – und immer ohne Netz | |
> Wer pendelt, dem fehlt immer etwas: die Zahnbürste oder die Übersicht. | |
> Wer schläft da zum Beispiel in einem meiner Betten? | |
Bild: Deutschland-Pendeln: Grüner wird's immer | |
Als wäre die große Welt nicht schon unübersichtlich genug, verliere ich | |
auch immer öfter den Überblick über meine kleine. Ich bin Pendlerin. | |
Obwohl, eigentlich bloß Luxus-Pendlerin, denn ich fahre nur mehrmals | |
wöchentlich. Das ist eine Mischung aus „Und täglich grüßt das Murmeltier�… | |
und Roadmovie mit Low-Budget-Charme und ohne Musik. Die Tonspur ist auf dem | |
Weg verloren gegangen. | |
Mein Reisegepäck: 1 x T-Shirt, 1 Set Unterwäsche, so etwas wie 1 x alte | |
Porreestange oder 2 x dellige Paprika, die von einem in den anderen | |
Kühlschrank geht, ¼ Tüte Vollkornbrot. Das Problem: Wenn ich am einen Ort | |
aufbreche, habe ich vergessen, was ich am anderen Ort überhaupt habe. Und | |
andersherum. Ein paar eilige Schnappschüsse des Kühlschrankinhalts auf | |
meinem Handy zeugen von der Vergesslichkeit. | |
Meine Eltern rufen an. Statt zu fragen, wie es mir geht oder ob es gerade | |
passt, sagen sie: Hallo, wo bist du? Was sie meinen ist: In welcher Stadt | |
oder in welchem Zug steckst du heute? Ich weiß das manchmal selber nicht. | |
Der RE ist Zwischenraum, hier flackert das Raumzeitkontinuum. Stabil ist | |
nur eins: kein Netz, nirgends. Ob ich nach Norden oder Süden fahre, fällt | |
mir oft erst ein, wenn ich mein Handyticket studiere. Felder, Wälder und | |
Wiesen – die sehen so herum wie so herum genauso aus. | |
Ich wache auf. Aber in welchem Bett? Manchmal fehlt zu dem Bett auch noch | |
die Stadt. Dabei ist es doch ganz einfach. Vor dem einen Fenster: | |
Totenstille bis auf Vogelgezwitscher. Vor dem anderen: Kakophones | |
Partygetöse bis der Berufsverkehr beginnt. | |
## Der RE als Wurmloch | |
Irgendwann liegt dann mal ein anderer in meinem Bett. Ist das gar nicht | |
mein Wochenende in der einen, sondern der anderen Stadt? – Verwirrend. Man | |
beginnt an seiner Organisationsfähigkeit zu zweifeln, einerseits. | |
Andererseits: Nimmt man's auch nicht mehr so schwer. | |
Dann kaufe ich eben am einen Ort noch ein Ladegerät, obwohl ich am anderen | |
schon vier habe (während es sich mit den Zahnbürsten genau andersherum | |
verhält)! So ähnlich verhält es mit dem ganzen anderen Kram: Die einen | |
Freunde da, die anderen dort. Den gelben Sack hier holen, den Reisepass | |
dort. Steuerunterlagen hier, Verträge dort. Die einen Bücher hier, die die | |
ich brauche – immer! – dort. | |
Digital Detox ist Trend. Schlimm. Dieser schlimme Euphemismus der | |
Großstadtverwöhnten! Aber im eigenen Leben ist kein Netz – nicht cool. | |
Genauso wenig wie: keine Fachärzte, keine Bank, kein Späti, Geschäfte und | |
Behörden mit Öffnungszeiten wie einem Witz. Ich nutze meinen Urlaub, um in | |
einer Stadt zum Arzt zu gehen und Dinge zu kaufen, die ich dann mit in die | |
andere Stadt nehme. | |
Was ich nicht im Kopf habe, habe ich im Smartphone. Hoffentlich zumindest. | |
Ein undurchdringliches Datenlabyrinth. Super chaotisch, doch super | |
organisiert. Für jede Kleinigkeit poppt eine Erinnerung auf. Weil sie sonst | |
auf der Fahrt im RE vergesse, wie in einem Wurmloch. Das Zugfahren | |
jedenfalls war lange meine produktivste Zeit. Wie viele Kolumnen habe ich | |
im ICE und sei es auf dem Gang hockend geschrieben? Aber auch das hat jetzt | |
ein Ende. Denn mal ehrlich: ohne Netz keine Kolumne. | |
17 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
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