# taz.de -- Leichtathletik-EM in Berlin: Neuköllnerin am Start | |
> Die 100-Meter-Sprinterin Lisa Kwayie tritt für die Neuköllner | |
> Sportfreunde an. Sie war lange verletzt – und will die Gelegenheit jetzt | |
> nutzen. | |
Bild: Sport ist nicht alles: Lisa Kwayie studiert soziale Arbeit | |
Wenn Lisa Kwayie das Gefühl hat, dass ihre Aufregung vor dem Wettkampf zu | |
groß wird, zieht sie sich in die Stille zurück. Die Stille ist zum Beispiel | |
das Klo. Sie checkt dann ihren Körper – wie sie steht, wie sie den Kopf | |
hält, ob die Hände zittern. Ihr Trainer sagt, vor dem 100-Meter-Lauf kann | |
man sehen, welche Athletin gewinne. Man könne das fühlen. Sie findet das | |
richtig. „Wegen der Ausstrahlung“, sagt Lisa Kwayie. „Umso sicherer du dir | |
bist: Die Gegnerinnen spüren das. Die spüren, dass du das heute unbedingt | |
willst.“ Früher sei sie zu zurückhaltend gewesen, so zumindest sieht sie es | |
selbst. Hat sich von den Gegnerinnen ein bisschen einschüchtern lassen. In | |
Nürnberg? „Ich hatte keine Angst“, sagt Lisa Kwayie. | |
Bei den Deutschen Meisterschaften in Nürnberg am 21. und 22. Juli holte die | |
Berlinerin nach beeindruckendem Sprint die Silbermedaille, schneller war | |
nur Superstar Gina Lückenkemper. Erst im Ziel kapierte Kwayie, wie schnell | |
sie war. Nun wird sie bei der EM dabei sein, und wenig daran ist | |
selbstverständlich. Die Geschichte der Neuköllnerin, als Dreijährige mit | |
ihrem Vater aus Ghana nach Berlin gekommen, hat eine sanfte Underdogaura, | |
sie sprintet für keinen der ganz großen Namen in Berlin, SCC oder LG Nord, | |
sondern für die Neuköllner Sportfreunde. Ein Verein, der nicht gar so | |
provinziell ist, wie er klingt, zwischenzeitlich immer mal wieder | |
erfolgreiche Leichtathleten hatte, aber eher im Boxen Meriten sammelte. | |
„Die Neuköllner Sportfreunde sind beim Leichtathletik-Höhepunkt des Jahres | |
mit einer Athletin vertreten! Wahnsinn, oder?“, schreibt ihr Trainer Frank | |
Paul beherzt auf der Vereinswebsite. Er widmet seinem Schützling einen | |
seitenlangen Bericht, jeder zweite Satz endet mit Ausrufezeichen, jedes | |
Ausrufezeichen ist Stolz. | |
Denn erstens ist das hier auch für Paul ein Lebensereignis; der | |
hauptberufliche Lehrer hat noch nie jemanden zu einer EM gecoacht. Dann, | |
zweitens, war Lisa Kwayie die letzten drei Jahre ziemlich viel verletzt. | |
Und drittens ist sie Teil einer Generation deutscher Sprinterinnen, die man | |
gern eine neue Goldene nennt; was durchaus Vorteile hat, aber eben den | |
Nachteil harter Konkurrenz. Zuletzt war sie trotzdem schneller als fast | |
alle. | |
Kurz vor der EM steht Lisa Kwayie in einer stickigen heißen Halle im | |
Sportforum Hohenschönhausen beim Kraft- und Athletiktraining. Wer Argumente | |
gegen eine Leichtathleten-Karriere sucht, hier sind sie. In erdrückender | |
Hitze stemmt die Sprinterin Gewichte, übt Sprünge, wirft Bälle. Lisa Kwayie | |
verhandelt mit ihrem Trainer: „Noch einmal, okay?“ Kwayie ist eine, die | |
beim Training viel lacht, viel quatscht, eine gewisse lockere Verspieltheit | |
mitbringt. Selbst vor anwesender Presse versucht sie, ihr Krafttraining | |
runterzuhandeln. „Mindestens zweimal“, sagt Frank Paul dann, liebevoll | |
mahnend. Sie akzeptiert das, als habe sie nur mal die Grenzen testen | |
wollen. | |
„Ich habe mir die Disziplin antrainiert“, erzählt Kwayie später, auf einer | |
Hantelbank sitzend. Das mit der Disziplin und ihr ist nicht von Anfang an | |
eine innige Beziehung gewesen; Samstagabend zum Feiern Nein sagen, das war | |
ein innerer Kampf, erzählt sie. Der Sport kam wie von selbst zu ihr: Als | |
Kind rannte sie viel, konnte kaum stillsitzen. Die Mutter schickte sie erst | |
auf eine Sportgrundschule, dann in den Verein. Die waren von dem Talent | |
verblüfft. Als 12-Jährige lief Lisa Kwayie Berliner Rekord über 75 Meter. | |
„In den ersten Jahren hat sie sich nicht mal ihre Bestzeiten gemerkt“, sagt | |
Frank Paul. Bei der U20-WM in den USA holte sie mit der Staffel Bronze. Zu | |
dem Turnier schenkte ihre Mutter ihr die kleine silberne Kette, „Gottes | |
Segen auf all deinen Wegen“, die sie seither zum Laufen trägt. | |
„Es lief alles, ich habe nie nachgedacht, immer einfach gemacht“, so | |
beschreibt die heute 21-Jährige die lange leichte Zeit. Dann, von 18 bis | |
21, fiel sie zwischenzeitlich zurück. Drei Verletzungen in drei Jahren. | |
„Für mich war es enorm schwer, mit den Verletzungen klarzukommen“, sagt | |
Lisa Kwayie. Sie und ihr Trainer engagierten eine Sportpsychologin. Sie | |
rangen gegen die Zweifel, ob sich all das überhaupt noch lohnt. Kwayie, bis | |
dahin vom Glück gesegnet, von allzu großer Mühe verschont, erlebte die | |
Härte des Sports. Und liebte ihn trotzdem, vielleicht mehr als vorher. „Es | |
ist hart, aber auch sehr schön“, sagt sie. „Man muss das vom Herzen her | |
wollen.“ Sie will. | |
Möglicherweise hat sie in der schwierigen Zeit ein Stück Unbekümmertheit | |
verloren, aber auch die Sorge. „Ich habe weniger Angst vor dem Kampf“, sagt | |
sie heute. Comebacks erscheinen ihr jetzt machbar, verlorene Jahre | |
aufholbar. | |
Und ausgerechnet im Jahr der Heim-EM ist Lisa Kwayie zurück. Plötzlich | |
wollen alle Medien etwas von ihr, diese Überraschungsgeschichte, die | |
eigentlich gar keine ist, weil sie lange oben mit dabei war, und lange | |
schon talentiert. Lisa Kwayie spricht vor Journalisten intuitiv, als habe | |
sie nie etwas anderes gemacht, aber sie fühlt sich auch ein bisschen | |
überfallen von dem Rummel. „Es geht mir zu schnell. Von null auf hundert.“ | |
Es gebe Momente, da wünsche sie sich, alles ein bisschen mehr genießen zu | |
können. Und Momente, wo sie genau das tut. | |
Lisa Kwayie spricht offen, sie kann flink von Humor zu reflektiertem Ernst | |
wechseln. Sie hat große Pläne, auch außerhalb des Sports: Neben der | |
Leichtathletik studiert sie soziale Arbeit. Sie ist sich bewusst, dass das | |
eine ungewöhnliche Wahl für eine Athletin ist. „Es ist für mich ein | |
Ausgleich zum Leistungssport, zum Druck. Ich bin sehr sozial, ich möchte | |
Menschen helfen. Das sind zwei Seiten von mir.“ Parallel zum Sport zu | |
studieren ist dann doch nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hat, | |
aber Lisa Kwayie tut, was sie auch in der Leichtathletik tut: Erst mal | |
machen. „Man fuchst sich da so durch.“ | |
Und jetzt ist sowieso erst mal EM. Kwayie, die bis vor Kurzem noch Helferin | |
beim Internationalen Stadionfest Istaf war, wird selbst im Olympiastadion | |
stehen, ein persönlicher Traum. Freunde, Familie, VereinskameradInnen | |
kommen, und beim Vorlauf soll es nicht enden. „Ich denke mir: Wenn ich | |
schon so eine Gelegenheit habe, will ich im Einzel auch ins Halbfinale.“ | |
Und die starke deutsche Konkurrenz ist einmal ein Vorteil: Mit der Staffel | |
hat Lisa Kwayie berechtigte Hoffnungen auf eine Medaille. | |
6 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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