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# taz.de -- Neue Regelung zum Familiennachzug: Warten auf den positiven Bescheid
> Geflüchtete dürfen wieder hoffen, ihre Familien nach Deutschland holen zu
> dürfen. Der 31-jährige Iraker Rami Hussein ist einer von ihnen.
Bild: Endlich ankommen und zusammensein. Diesen Wunsch haben viele Geflüchtete
Berlin taz | Jede Nacht schreit Rami Hussein im Schlaf. So erzählen es die
beiden Männer, die mit ihm in einem Zimmer in einer Berliner
Flüchtlingsunterkunft wohnen. Hussein und seine Mitbewohner kommen aus dem
Irak, Hussein ist seit 2015 hier. Damals floh er vor der Terrororganisation
„Islamischer Staat“ und den Bomben, die sein Heimatdorf zerstörten.
Seine Frau war damals krank und konnte nicht reisen, das jüngste der vier
Kinder war gerade geboren. Das Paar beschloss, dass die Mutter und die
Kinder im Irak bleiben und Hussein allein nach Europa fliehen sollte. Und
sie schworen sich: Sobald der Mann in Sicherheit ist, holt er die Familie
nach.
Doch Hussein ist allein in Berlin, Frau und Kinder leben noch immer im
Irak. Seit 2016 können Geflüchtete mit eingeschränktem, subsidiärem
Schutzstatus, wie er, ihre Familie nicht mehr nach Deutschland holen. Das
beschloss die Regierung damals im Zuge der Verschärfung des Asylrechts. Ab
Mittwoch ist es wieder möglich.
„Ohne meine Frau und die Kinder geht es mir schlecht“, sagt Hussein. Die
Sehnsucht zerreiße ihn, jede Nacht plagten ihn Albträume. „Ich hoffe sehr,
meine Familie bald wieder bei mir zu haben“, sagt der Mann, dessen
richtiger Name nicht in der Zeitung stehen soll. Er fürchtet, Ärger mit den
Behörden zu bekommen und seine Familie niemals herholen zu können.
## Anträge werden chronologisch abgearbeitet
Wie stehen Husseins Chancen auf Familienzusammenführung? Bisher liegen nach
Angaben des Auswärtigen Amtes (AA) 31.340 sogenannte Terminanfragen vor,
insbesondere von Syrer*innen und Iraker*innen. Daraus werden jetzt Anträge,
die nun chronologisch abgearbeitet werden. Darunter ist auch Husseins
Antrag.
Fortan können monatlich 1.000 Familienangehörige nach Deutschland kommen.
So hat es die Koalition beschlossen. Der 1001. Antrag wird zurückgewiesen,
ein „Übertragen“ auf den nächsten Monat ist nicht möglich.
Schlechte Aussichten für Hussein. Er weiß nicht, welche Nummer sein Antrag
hat, Wartelisten gibt es nicht, möglicherweise muss er einen neuen Antrag
stellen.
Jeden Tag schreiben seine Frau und er sich Nachrichten über Whatsapp,
manchmal, wenn er genug Geld hat, telefonieren sie miteinander oder skypen.
Deshalb weiß Hussein, dass sich das Hüftleiden seiner Frau verschlimmert
hat, einen Arzt kann sie nicht bezahlen. Um den vier Kindern etwas zu essen
zu geben, putzt sie im Haus einer reichen irakischen Familie. Sie werde
dort geschlagen, sagt Hussein. Einmal hat seine Frau ihm ein Foto von
blauen Flecken auf ihrem rechten Oberarm geschickt. Danach ist Hussein
zusammengebrochen, sagen seine beiden Mitbewohner in der Unterkunft.
Statt zur Schule zu gehen, müssen die beiden größeren Kinder im Haus dieser
Familie helfen. „Ich sehe, wie schlecht es ihnen geht“, sagt Hussein: „Ab…
ich kann ihnen nicht helfen.“ Immer wieder ist Hussein in psychologischer
Behandlung. „Manchmal habe ich einen schwarzen Hund im Kopf“ sagt er. Dann
kann er nicht aufstehen, nicht rausgehen, nicht sprechen. Dann zieht er
sich die Bettdecke über den Kopf und will einfach nicht mehr da sein.
Diejenigen, die Hussein und seine Geschichte kennen, finden, der Iraker sei
ein „Härtefall“. In solchen Fällen greift der Passus der „humanitären
Notlage“ im Aufenthaltsrecht, unabhängig vom bislang ausgesetzten
Familiennachzug. „Was ein Härtefall ist, sehen Menschen allerdings
unterschiedlich“, sagt Klaus-Jürgen Dahler. Der Psychologe, Ökonom und
Jurist arbeitet seit 2010 für den Migrationssozialdienst im Berliner Bezirk
Marzahn-Hellersdorf.
Als Flüchtlingsberater vertritt er Geflüchtete vor Gericht. Er hat schon
alles erlebt: Frauen und Männer mit posttraumatischen Belastungsstörungen,
Suizidversuche, Abschiebungen. „Die Behörden definieren einen Härtefall
anders als Menschen mit einem Gewissen“, sagt er: Behörden entscheiden
formal und häufig inhuman. Der jetzt wieder mögliche Familiennachzug reiche
nicht aus und stelle eher ein „Hemmnis“ dar: „Wie sollen Geflüchtete zur
Ruhe kommen und sich integrieren, wenn sie nur mit der Frage beschäftigt
sind, wann sie endlich ihre Familie wiedersehen“, sagt Dahler, der Mitglied
der Linkspartei ist.
Die Hürden des Familiennachzugs sind hoch, das Prozedere für Geflüchtete
ist kaum zu verstehen. Dabei geht es um Fragen wie: Wie gut sind die
Geflüchteten hierzulande integriert? Wie gut ihre Deutschkenntnisse?
Verdienen sie ihren Lebensunterhalt selbst? Haben sie eine eigene Wohnung?
Je mehr Punkte davon erfüllt sind, umso größer die Chance, dass Angehörige
herkommen können.
Vorrangig behandelt werden sollen Fälle, bei denen minderjährige Kinder und
Pflegefälle involviert sind. Laut AA seien „Kindeswohl“ und „schwere
Krankheiten“ für eine Entscheidung wichtiger als „Integrationsaspekte“: …
jung sind die Kinder? Wie lange ist eine Familie schon getrennt? Ist jemand
aus der Familie schwer krank? Muss jemand gepflegt werden?
In Husseins Fall gibt es so manchen „Pluspunkt“ für einen positiven
Bescheid: vier minderjährige Kinder, die lange Trennung, die kaputte Hüfte
seiner Frau.
## Die Anträge müssen vollständig sein
Aber da ist noch ein anderes Problem: Die Behörden nehmen nur vollständige
Anträge an: Pässe, Eheurkunde, Dokumente der Kinder, Aufenthaltstitel der
Geflüchteten in Deutschland. Das ist für viele Antragsteller*innen
schwierig. Manche haben ihre Unterlagen auf der Flucht verloren, anderen
wurden die Pässe abgenommen, manche haben nie einen Ausweis besessen.
Insbesondere für viele Menschen aus afrikanischen Ländern ist das
kompliziert, sie verfügen häufig nicht einmal über eine eigene
Geburtsurkunde, weil es in ihren Heimatländern an Behörden mangelt, die
Geburten registrieren und entsprechende Dokumente ausstellen.
Der Familiennachzug, so wie er jetzt geregelt ist, sei „inhuman“,
kritisiert Luise Amtsberg, flüchtlingspolitische Sprecherin der
Grünen-Bundestagsfraktion. Für die Linkspartei-Abgeordnete Sevim Dağdelen
gleicht die Regelung einer „Lotterie zulasten Tausender Kinder und Frauen“.
Auch Sozialverbände wie Caritas und Diakonie empfinden den Familiennachzug
als unvereinbar mit humanitären Werten.
Gerade geht es Hussein gut. Er hofft, dass die Behörden „menschlich und für
mich und meine Familie entscheiden“. Aber was, wenn sein Antrag keiner von
jenen 5.000 ist, die in diesem Jahr bearbeitet werden? Wenn er bald einen
neuen Antrag stellen muss? Solche Fragen stellt man dem Mann jetzt besser
nicht.
31 Jul 2018
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Familienzusammenführungen
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