Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Bei den sieben Hitlerzwergen
> Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (5). Heute: In einer
> Tropfsteinhöhle von Zimmer am Fuße des Qingcheng in der chinesischen
> Provinz Sichuan.
Bild: Unterhalb des Bergs Qingchen kann man schon mal auf einen Hitleristen tre…
Das Völkchen der Journalisten und Schriftsteller gilt als Weltmeister im
Reisen. Dauernd sind Autoren zu Lesungen und Buchmessen unterwegs oder
müssen sich auf ihren Expeditionen durch aller Damen und Herren Länder eine
Unterkunft suchen. Dabei haben sie einige der abseitigsten Absteigen der
Welt gesehen und sind dort untergekommen, wo andere keinen Fuß hineinsetzen
würden. In unserer Wahrheit-Sommerserie dokumentieren wir das ganze Ausmaß
des unbehausten Schreckens.
Es war im Sommer des Jahres 2007, auf einer dreimonatigen Reise, die ich
quer durch China von Schanghai nach Kathmandu unternahm, um darüber ein
Buch zu schreiben. Am Abend war ich am Fuß des Qingcheng Shan in der
Provinz Sichuan angelangt, des heiligen „grünen“ Bergs der Daoisten, doch
der war fein säuberlich mit eine Mauer umgeben und das Tor darin war
bereits geschlossen. Weil es sich bei dem Berg um ein veritables
Weltkulturerbe handelt, waren die Hotels vor seinen Toren entsprechend
teuer, und da mein Reisebudget begrenzt war, ließ ich mich in eine
Privatunterkunft abschleppen. Eventuell lag es auch daran, dass die
Schlepperin ein hübsches Mädchen war, das ein blaues T-Shirt trug, auf dem
stand: „This movie is presented by Walt Disney Productions“.
Ich bereute meinen Entschluss sofort, als ich das Zimmer zu Gesicht bekam.
Es lag in einem zweistöckigen Haus abseits der Straße, das eigentlich recht
malerisch inmitten eines Haines dicker Bambus- und Bananenstauden an einem
Abhang stand. Doch das Eternitdach war vom vielen Regen schon ganz schwarz
geworden, und da das Zimmer direkt an der Bergwand lehnte, war es so feucht
wie eine Tropfsteinhöhle. Eine Klimaanlage gab es nicht, noch nicht einmal
einen Ventilator; die Bettwäsche fühlte sich ganz klamm an.
An Schlichtheit wurde die Unterkunft nur vom „Bad“ übertroffen: Eine Zelle
ohne Licht mit einem Loch im Boden, über dem ein verkalkter Duschkopf hing,
ohne Spiegel zum Rasieren. Das Verließ wirkte, als würde man hier
gelegentlich abtrünnige Daoisten waterboarden. „Ich mag das Zimmer nicht“,
sagte ich dem Mädchen, und wollte auf dem Absatz kehrtmachen. Da sah es
mich mit großen Schneewittchenaugen an und erwiderte: „Was willst du? China
ist schließlich ein Entwicklungsland.“ Mir fiel ein, dass ich Ähnliches
auch immer vortrug, wenn jemand Kritik an den chinesischen Zuständen übte.
Also gab ich mich geschlagen.
## Schneewittchen und ihr Vater
Ich blieb auch, weil mir Prinzessin Baixue Gongzhu (Schneewittchen auf
Chinesisch) „Leben in einer chinesischen Familie“ versprach. Mir fehlten
noch Familienszenen für das Buch, und ich dachte, hier günstig an
bukolische Familienbilder zu kommen. Tatsächlich gab es dann Familienszenen
satt.
Kaum hatte ich den Rucksack in meiner Nasszelle abgestellt, wurde ich schon
wieder herausgerufen. Dort hatten sich das Mädchen, ihr Freund – ich
verabscheute ihn sofort –, die Mutter, der Großvater und zwei Tanten
versammelt und warteten Mahjongg spielend auf das Essen. Das kochte der
schnurrbärtige Vater, der auf seinem Oberkörper nichts anderes trug als
Hunderte von Mückenstichen. Das Essen war gar nicht mal schlecht: Es gab
Tofu, Bohnen, Zwiebeln, Wintermelonensuppe und Reis aus einer großen
Schüssel. Unangenehmer war schon das Verhör durch den halbnackten Vater.
Als er mich auf vierzig schätzte und mir partout mein wahres Alter nicht
glauben wollte – ich war Anfang fünfzig –, warf ich meinen chinesischen
Führerschein auf den Tisch. So erfuhr der Mann auch, dass er einen
Deutschen vor sich hatte. „Xitele“, schrie er sofort, was so viel wie
„Hitler“ heißt, und der Daumen seiner rechten Hand schnellte nach oben.
Jetzt war ich es, der sich wie Schneewittchen fühlte – Schneewittchen unter
den sieben Hitlerzwergen. Erschöpft vom langen Reisetag, schaffte ich es
gerade noch, abzuwinken und wie immer in einem solchen Fall zu erklären:
„Xitele bu hao“ – „Hitler nicht gut.“ Für differenziertere Ausführu…
reichte mein Chinesisch leider nicht. Wahrscheinlich hätte es auch gar
nichts genützt, dem Schnurrbärtigen zu erklären, dass der von ihm
bewunderte Herr Hitler auch ihn jederzeit über die Klinge hätte springen
lassen, hätte er nur die Gelegenheit dazu gehabt. Nach diesem
deutsch-chinesischen Dialog zog ich mich recht bald in meine
Tropfsteinhöhle zurück.
Ich hätte jetzt gern meine Umgebung einfach weggeschlafen, aber daran war
nicht zu denken. Während ich auf der feuchten Bettwäsche vor mich
hinschwitzte, drang durch die morsche, nicht abschließbare Sperrholztür das
Gekreisch von Milliarden Zikaden, nur ab und zu durchbrochen von der
meckernden Quäkstimme des Hitlervaters, der in den Fernseher Führerbefehle
brüllte. Vielleicht lief eine Doku über den Russlandfeldzug oder den Fall
von Berlin. Ein Ende hatte der Terror erst, als ein tropischer Starkregen
einsetzte, der offenbar die Stromversorgung killte. In der tintenschwarzen
Nacht träumte ich von einer großen Flut, in der ich mitsamt der
Disney-Hitlerfamilie ertrank, was mir angenehme Gefühle bereitete. Am
nächsten Morgen packte ich dann schnell meine Sachen und stahl mich
heimlich fort.
Ein halbes Jahr später formte ich aus dieser Übernachtung am Qingcheng
Schan eine amüsante Szene für das Buch. Doch wenn ich ehrlich bin, muss ich
zugeben: Richtig lustig ist so etwas eigentlich immer erst später.
25 Jul 2018
## AUTOREN
Christian Y. Schmidt
## TAGS
Hitler
Verbraucherschutz
Depression
Unterkunft
Unterkunft
Vögel
Niederlande
Nachruf
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Endlich Eskalationskunde
Verbraucherschutz: Wie ich einmal den Überwachungsstaat austrickste und den
Media Markt fast in den Wahnsinn trieb.
Die Wahrheit: „Je mehr, desto besser!“
Das Wahrheit-Interview: Die Berliner Psychotherapeutin Eluada Gulistan über
ihre neue Pecunia-Therapie gegen Depressionen.
Die Wahrheit: Steaks mit Carl und seinem Bärentöter
Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (8). Heute: Unterwegs in den weiten
Wäldern längs des kanadischen Alaska Highway.
Die Wahrheit: Unter der Science-Fiction-Dusche
Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (7): In einer miefigen
Schmuddelwohnung in Las Palmas de Gran Canaria.
Die Wahrheit: In den Würgekrallen der Macht
Die aktuellste Verschwörungstheorie kommt hier, frisch aus der Hauptstadt
der Vögel – dem heimlich unterjochten Berlin.
Die Wahrheit: Allemaal koppen dicht
Buchmessengast 2016. Ganz frisch aus dem Gewächshaus des Rechts kommt die
neueste niederländische Verfassung.
Die Wahrheit: Wenn Harry Rowohlt einmal freihat
Statt eines Nachrufs ein exklusiver Einblick in die unerwartete
Feierabendgestaltung des bärtigen Teufelskerls. So war er wirklich.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.