| # taz.de -- Trends in der Tattoo-Szene: Die Irritation der ignoranten Gurke | |
| > Tattoos, die Alltagsobjekte zeigen, sind en vogue. Zugleich verabschieden | |
| > sich Tattoo-Artists von ihren künstlerischen Fertigkeiten. Was ist da | |
| > los? | |
| Bild: Kann man so machen – muss man aber nicht | |
| Sommer in Berlin. [1][Open-Air-Kino in einem Hinterhof.] Junge Menschen in | |
| Wonne. Gezeigt wird „Koyaanisqatsi“, ein Film von 1982: keine Worte, starke | |
| Bilder, starke Musik. Wer hier sitzt, freut sich über cineastische | |
| Avantgarde – sieht sich vielleicht selbst als Vorreiter in Sachen Kultur. | |
| Bio-Zisch und Bierchen fließen, das Leben ist süß. | |
| Da entdecke ich sie vor mir. Eine offene Schachtel Zigaretten, tätowiert | |
| auf den Arm eines attraktiven jungen Mannes; verewigt, was uns ohnehin | |
| alltäglich umgibt, profan und schmucklos, auf dem einzigen Körper, den | |
| dieser Mann hat. | |
| Die Tattoo-Welt hat die Trivialitäten des Alltags für sich entdeckt. Auf | |
| Instagram bestätigt sich: Teebeutel, Stühle, Kleiderbügel und Käsereiben, | |
| Glühbirnen und eben Zigaretten – sie alle wandern unter die Haut. Instagram | |
| zeigt auch: Betont krakelig darf es ebenfalls zugehen. Steckt mehr dahinter | |
| als hedonistische Verschwendung jugendlicher Haut? | |
| Wer Tattoos hat, weiß: Vor der Sinnfrage ist kein Entkommen. Und das sei | |
| auch legitim, wie der Essener Kommunikationswissenschaftler Oliver Bidlo | |
| skizziert, der die soziale Funktion von Tätowierungen erforscht. | |
| [2][Schließlich sprechen Tattoos mit uns.] Im Motiv und im Stil ihres | |
| Tattoos transportiert eine Person Informationen über sich – sei es Freude | |
| am Schönen, ein sozialer Code oder ein biografischer. | |
| ## Nackte Idee des Objekts | |
| Außerdem würden Tattoos zunehmend an sichtbare Stellen wandern, „um von | |
| anderen wahrgenommen zu werden“, sagt Bidlo. Sie haben Appellcharakter: | |
| „Wir sollen quasi nach ihrer Bedeutung fragen.“ Die Bedeutung des | |
| Teebeutel-Tattoos also: Was könnte das sein? | |
| Um das verstehen zu können, müsse laut Bidlo breiter auf das Phänomen | |
| Tattoo geschaut werden. Die Ewigkeit, für die sie bestimmt sind, der | |
| Schmerz, den es für sie zu ertragen gilt. Die Sinnlichkeit, mit der Tattoos | |
| mitunter spielen, und auch das Geld, das für sie fällig ist: „All das macht | |
| das Tattoo an und für sich zu etwas Besonderem, das von der Norm abweicht.“ | |
| Wie aber irritieren, wenn das Tattoo mehr und mehr im Mainstream ankommt? | |
| So werde die Trivialisierung zu einem der letzten Mittel, um mit der | |
| Besonderheit des Tattoos zu spielen, mutmaßt Bidlo. „Lasse ich mir also | |
| eine Gurke tätowieren, ist die Irritation viel größer.“ | |
| Eine Gurke ist eine Gurke ist eine Gurke? Auch die alltäglichsten Objekte | |
| können für mehr stehen, gar als feingeistige Referenz funktionieren – | |
| „Vincents Stuhl mit Pfeife“ sei nur ein Beispiel unter den | |
| kulturgeschichtlich geschätzten Sitzmöbeln. Die Zigaretten im Kino und die | |
| Kleiderbügel-Tattoos auf Instagram aber wollen keinen Kontext, auch keinen | |
| Schnickschnack. Es geht um die nackte Idee des Objekts. | |
| ## Wunsch nach Unbeschwertheit | |
| Alexander Stimpson erkennt darin jene Vorliebe für Minimalismus, die sich | |
| generell in der westlichen Welt ausbreite. Der australische Tattoo-Künstler | |
| sticht unter dem Namen „stick around tattoo“ stilisierte, fast sterile | |
| Tattoos. „Wir lieben Einfachheit. Wir wollen langsamer machen, mehr von der | |
| Welt wahrnehmen können, achtsamer sein“, sagt er. Diese Sehnsucht wiederum, | |
| so die Psychotherapeutin und Expertin für Identitätsprozesse und Tattoos, | |
| Gunhild Häusle-Paulmichl, wurzele in dem Wunsch nach Unbeschwertheit. | |
| Eine These, die Jule aus Berlin widerzuspiegeln scheint: Die 29-Jährige hat | |
| sich eine Portion Pommes auf ihren Arm stechen lassen, weil Pommes sie | |
| „einfach an Kindheit und Schwimmbad und frei sein“ erinnern. „Die | |
| neoliberale Gesellschaft fordert ständig unsere Anstrengung“, sagt | |
| Häusle-Paulmichl. Im Umkehrschluss wird die Leistungsverweigerung zum Tabu | |
| – auch jene, ein intellektuell aufgeladenes Tattoo zu tragen. Damit wären | |
| wir wieder beim Potenzial zur Irritation. | |
| Der Mann an der Nadel, aus der Jules Pommes flossen, ist der in Berlin | |
| lebende Tobi Bueller, und er kann nicht malen. Das sagt „Tobi der Dude“ | |
| zumindest selbst. Vor fünf Jahren habe er sich schon mal als Tätowierer | |
| versucht, „damals aber hat mein Stil keinen Anklang gefunden“. Dieser lässt | |
| an Kita-Gemäldegalerien denken: mit „viel Liebe“ gemacht, was ihm wichtig | |
| sei, grob und simpel. | |
| [3][Wenn Bueller seine „Dude-Tatoos“ bei Instagram präsentiert], taucht | |
| auch der Hashtag #IgnorantStyleTattoos in seinen Beiträgen auf. Mehr als | |
| 130.000 Bilder zeigt Instagram aktuell unter diesem Stichwort – von | |
| Tattoos, die naiv gehalten sind, und von Tattoo-Artists, die Fertigkeiten | |
| nicht nötig haben oder über Bord werfen. | |
| ## Konservative Tattoo-Szene | |
| Was der Ignorant Style ignoriere, seien Traditionen, sagt woozymachine. | |
| Auch [4][der Tattoo-Artist aus Großbritannien] hat sich dem Ignorant Style | |
| verschrieben, entwirft comicartige Szenen, macht Computer oder Kakteen zu | |
| Tattoos. Im Juni gastierte er im Unikat, einem Tattoo-Studio in | |
| Berlin-Neukölln. Sein eigenes hat er in London, getauft ist es auf den | |
| Namen „Palace of Imperfection“: Gerät eine seiner massiven Linien | |
| ausgebeult, bleibt sie ausgebeult. | |
| Dass sich derartige Trends entwickeln können, ist nicht selbstverständlich. | |
| „Die alte Tattoo-Szene ist teilweise extrem konservativ und hat bestimmte | |
| Vorstellungen, was als Tattoo durchgeht und was nicht“, sagt Laura Lesser, | |
| die dauerhaft im Unikat in der Karl-Marx-Straße sticht. Seit etwa zehn | |
| Jahren aber öffne sich der Markt. Ein Wandel, den die Szene den sozialen | |
| Medien zu verdanken hat? Instagram sei heute jedenfalls die erste Adresse, | |
| um sich seine Tattoo-Artists auszusuchen, sagt Lesser. | |
| Ob durch die Wahl des Motivs oder die Wahl des Stils: „Mit der Abwendung | |
| von der hohen Kunst, zu der Tattoo-Artists heute technisch fähig sind, | |
| grenzen sich jene innerhalb der Szene ab, die mit dem Mainstream nichts zu | |
| tun haben wollen“, sagt Kommunikationswissenschaftler Bidlo. Das mache den | |
| Ignorant Style zu einer Gegenbewegung, zu einem „Trend im Trend“. | |
| Oder zu einem „Fuck you“, wie woozymachine es nennt. Eine Mission zu haben, | |
| verneint er vehement. Für künstlerische Emanzipation stehen seine Arbeiten, | |
| für die er immer wieder Hasskommentare erntet, trotzdem. „Der Ignorant | |
| Style ist für die Tattoo-Szene, was der Punk für die Musik war“, sagt | |
| woozymachine. Einen unglaublich guten Song kriege man schließlich auch mit | |
| drei oder gar zwei Akkorden hin. „Es ging damals nicht um dein Talent am | |
| Instrument und es geht heute nicht darum, technisch korrekt zu tätowieren. | |
| Es geht um die Message.“ | |
| 23 Jul 2018 | |
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| [3] https://www.instagram.com/tobiderdude1985/?hl=de | |
| [4] https://www.instagram.com/woozymachinetattoos/?hl=de | |
| ## AUTOREN | |
| Natalia Bronny | |
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