| # taz.de -- Ludovico Carraccis „Zwei Schachspieler“: Ein Hund, der in die Z… | |
| > Ludovico Carraccis Gemälde „Zwei Schachspieler“ in der Berliner | |
| > Gemäldegalerie zeigt drei Figuren. Die dritte ist das Bindeglied zur | |
| > Moderne: ein Hund. | |
| Bild: Sie sollten so lebendig und menschlich wirken wie möglich: die „Zwei S… | |
| Wahrscheinlich kannten schon die antiken Ägypter und die Römer des ersten | |
| Jahrhunderts unserer Zeitrechnung das bewegliche Staffeleibild, dessen | |
| Rahmen und Begrenzungen die moderne Kunst konfrontieren und überwinden und | |
| dessen Materialität sie auf verschiedene Weise sichtbar machen wollten. | |
| Dennoch wurde das Staffeleibild erst in den 1580er Jahren zu einem | |
| prominenten Medium in der westlichen Kunst, als die Carraccis in Bologna | |
| und Rom ihre frühen Werke schufen. | |
| Die Staffeleibilder entstanden im Studio des Malers, um autonom als | |
| Tafelbild aufgehängt zu werden. Schritt für Schritt ersetzten sie die bis | |
| dahin dominierenden Fresken, Wand- und Deckengemälde. Seine Hochzeit | |
| erlebte das Tafelbild in den 1860er und 1870er Jahren in Paris mit den | |
| Werken von Eduard Manet, dem die Impressionisten folgten. | |
| Seit dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert ging es den Malern darum, | |
| den Betrachter vergessen zu lassen, dass das Gemälde auf einer | |
| rechteckigen, zweidimensionalen Oberfläche ruht, indem das Bild einen | |
| dreidimensionalen Raum repräsentierte. Die Bilder zwangen den Betrachter in | |
| eine bestimmte Perspektive, an einen bestimmten Standpunkt, von dem aus er | |
| das Spektakel betrachten sollte. | |
| Diese Art des Tafelbilds wollte den Betrachter auf Distanz halten. Die | |
| Bilder, die in den 1590er Jahren in Rom und Bologna gemalt wurden, gingen | |
| jedoch in eine etwas andere Richtung. Von heute aus gesehen, scheinen sie | |
| die Antriebe zu ergänzen, die womöglich zur Ausformung der Moderne in der | |
| Kunst beitrugen. | |
| ## Das Spiel wird bald zu Ende sein | |
| Ludovico Carraccis Gemälde „Zwei Schachspieler“, das er vermutlich im Jahr | |
| 1590 schuf, hängt derzeit in der Ausstellung „Im neuen Licht“ in der | |
| Berliner Gemäldegalerie. Das Spiel der beiden wird demnächst zu Ende sein. | |
| Nur noch wenige Schachfiguren stehen auf dem Brett. | |
| Der bärtige Spieler zur Linken, der von hinten zu sehen ist, bewegt gerade | |
| seinen Läufer. Seine Bewegung ist so gut eingefangen, dass man beinahe zu | |
| fühlen scheint, wie seine Hand mit dem Läufer langsam auf dem Holzbrett in | |
| Richtung auf den König seines Gegners zugleitet. | |
| ## Zeitvertreib der Oberklasse | |
| Beide Männer tragen schwarze Anzüge und Hüte. Ihre weißen Kragen dienen als | |
| helle Flecken in dem ansonsten fast vollständig dunklen Bild. Sie sind in | |
| sich und ihr Spiel versunken, ohne sich des Betrachters bewusst zu sein. | |
| Zwei Münzen liegen auf dem orientalischen Teppich, der den Tisch bedeckt, | |
| auf dem sie sich abstützen, was vermuten lässt, dass die beiden um Geld | |
| spielen. | |
| Obwohl das Schachspiel, das aus der arabischen Kultur nach Europa gekommen | |
| war, ein Zeitvertreib der Oberklasse, eine Simulation von Kriegstaktiken | |
| und ein intellektuelles Spiel war, um den Verstand zu schärfen, wurde es | |
| oft von der Kirche als Spiel verdammt, das der Frömmigkeit entgegenstehe | |
| und eine niedere Moral repräsentiere. | |
| ## Schwindende Macht der Kirche | |
| Ein Sonnenstrahl scheint den Nacken des linken und das Gesicht des rechten | |
| Spielers zu beleuchten. Der rechte Spieler blickt nach unten, vollkommen | |
| versunken wohl in den Gedanken an das bevorstehende Schachmatt. Er presst | |
| seine Hand auf den Tisch, den Oberkörper nach vorne gelehnt, als er | |
| versteht, dass das Spiel verloren ist. Meisterhaft gemalt, ist die Spannung | |
| in seinem Oberkörper beinahe zu spüren. | |
| Das Genrebild als Porträt des Alltagslebens entstand in Nordeuropa im | |
| frühen sechzehnten Jahrhundert, in Italien eine Generation früher. Die | |
| Abwendung der Malerei von der Sphäre des Religiösen fand vor dem | |
| Hintergrund der schwindenden Macht der Kirche statt. | |
| Es war die Zeit der Reformation und der katholischen Gegenreformation, als | |
| sich neue Bedingungen für das Betrachten von Kunst herausbildeten. Die | |
| private Galerie stieg zum neuen Ort der Kunstbetrachtung auf. Eine neue | |
| Klasse von Kunstbesitzern entstand, und mit ihr eine neue Klasse von | |
| Kunstbetrachtern. | |
| ## Die Präsenz des Betrachters | |
| Ludovico Carraccis Bild, das dem Genreformat zugehört, gesteht den Figuren | |
| im Bild psychologische Ernsthaftigkeit zu. Sie besitzen ganz offensichtlich | |
| ein Innenleben, eine innere Sphäre der Gedanken und Gefühle, die der | |
| Betrachter lesen kann. Was dieses Gemälde aber paradigmatisch sein und als | |
| Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen erscheinen lässt, die mit Ludovicos | |
| jüngerem Kollegen Caravaggio beginnt, ist ein kleiner Hund auf der linken | |
| Seite des Bildes. Der Hund blickt auf das Außen des Bildes, er schaut dem | |
| Betrachter direkt in die Augen. | |
| Der Hund, die dritte und am großzügigsten beleuchtete Stelle im Bild, ist | |
| von der menschlich-intellektuellen Aktivität der beiden Schachspieler, | |
| ihrer Selbstversunkenheit ausgeschlossen, die er bewacht. Seine Präsenz | |
| bekräftigt die Präsenz des Betrachters, die er mit seinem zugewandten Blick | |
| anerkennt. Der kleine Hund mit dem weichen, weißen und braunen Fell, das | |
| fast zu strahlen scheint, bestätigt die Position des Betrachters vor dem | |
| Bild, aus der er die Bildszene aus der Ferne beobachtet. | |
| ## Man wird es barocke Malerei nennen | |
| Ludovico Carracci wurde im Jahr 1555 als Sohn eines Metzgers geboren. Im | |
| Jahr 1582 gründete er mit seinen Cousins, den Brüdern Annibale und Agostino | |
| Carracci, eine Kunstakademie in Bologna. Sie diente als Kunstschule und als | |
| Arbeitsraum für angehende Künstler. Über eine Dekade lang arbeiteten die | |
| drei Carraccis bei vielen Auftragsarbeiten zusammen. Sie wurden bald zu | |
| einflussreichen Lehrern und den wichtigsten Malern in Bologna. | |
| Ludovico starb 1619. Die Ideen, die er, seine Cousins und Caravaggio | |
| formulierten, bilden die Grundlage für eine neue Konstruktion der | |
| Sichtbarkeit, die man viel später barocke Malerei nennen würde. | |
| ## Körper voller Lebendigkeit | |
| Ihre Malerei gründete auf der Darstellung der sichtbaren Realität, wobei | |
| sie psychologische Facetten der Figuren übermittelten. Diese zeigten Drang, | |
| Gefühl und Spiritualität und erweckten die Illusion, es mit Körpern voller | |
| Lebendigkeit zu tun zu haben, die sich in greifbaren Räumen bewegten. | |
| Ludovicos Einsatz von Licht und Dunkelheit als dramatischen Mitteln war | |
| eine Pioniertat auf dem Weg zu einer Malerei, die den dramatischen | |
| Höhepunkt einer Szene nicht nur darstellt, sondern zu einem Wesenszug ihrer | |
| selbst macht. | |
| Der Grund, von dem sich die drei Figuren der „Zwei Schachspieler“ abheben, | |
| ist aus Mustern gemacht. Der Orientteppich auf dem Tisch, das | |
| Schachbrettkaro und die Wand sind von ornamentalen Mustern bedeckt. Sie | |
| sind wie die Augen des Hunds ein Teil des Mechanismus des Rahmens und | |
| Adressierens. Sie unterstreichen die Versunkenheit der Spieler und machen | |
| den Anspruch des Tafelbilds geltend, betrachtet zu werden. | |
| ## Repräsentation und Macht | |
| Die Präsenz des Betrachters definiert die moderne Malerei. In einem Vortrag | |
| über Manet und das Objekt der Malerei zog Michel Foucault eine Verbindung | |
| zwischen den Formen bildlicher Repräsentation und der Macht. | |
| Foucault zeigte, wie Manet durch seine Bilder die Entwicklung der modernen | |
| Malerei in eine neue Richtung lenkte, indem er das sichtbar machte, was die | |
| Maler seit dem Quattrocento zum Verschwinden bringen wollten: die | |
| Materialität der Leinwand, das Rechteck der Oberfläche, das reale Licht, | |
| das auf das Gemälde fällt, und die Möglichkeit des Betrachters, auf | |
| verschiedene Weisen das Bild anzusehen. | |
| ## Manet erfand das Bild-Objekt | |
| Manet erfand das Bild als Materialität, als etwas Farbiges, welches das | |
| äußere Licht deutlicher hervortreten lässt, und als ein Objekt, um das sich | |
| der Betrachter herumbewegen kann. „Er erfand das Bild-Objekt, sodass wir | |
| uns eines Tages von der Repräsentation als solcher befreien und dem Raum | |
| erlauben können, mit seinen materiellen Eigenschaften zu spielen“, meinte | |
| Foucault. | |
| Egal ob die „Zwei Schachspieler“ die Bedingungen der bildlichen | |
| Repräsentation herausfordern oder nicht: Sie zeigen sie uns eine Form der | |
| Partizipation des Betrachters an dem, was im Bild zu sehen ist. Diese | |
| Teilnahme kam in der modernen Malerei wieder zum Vorschein und wurde zu | |
| einer ihrer wichtigsten Belange. | |
| 24 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Tal Sterngast | |
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