# taz.de -- Essay Brexit: All mouth, no trousers | |
> Die Brexit-Fanatiker ignorieren, dass Europa inzwischen zu Großbritannien | |
> gehört. Weil die Politik versagt, regt sich Widerstand gegen sie in der | |
> Gesellschaft. | |
Bild: EU oder GB? Ein Demonstrant vorm britischen Parlament | |
Leeds taz | Die Briten haben ein Sprichwort: All mouth, no trousers. Auf | |
Deutsch könnte man das übersetzen mit: Große Klappe, nichts dahinter. Das | |
beschreibt den Brexit genau. Hier wird nicht geschummelt. Sondern gelogen. | |
Die [1][neueste Brexit-Strategie der britischen Regierung] – wonach | |
Großbritannien mit der Europäischen Union eine Freihandelszone bilden soll, | |
mit gemeinsamen Regeln – wurde innerhalb weniger Stunden von Rechtsexperten | |
als Versuch enttarnt, in der Europäischen Union zu bleiben, indem man die | |
Mitgliedschaft einfach anders nennt. Unabhängig davon, dass dieses Kalkül | |
nach hinten losgegangen ist – es zeigt sich, worum es den Brexit-Fanatikern | |
eigentlich geht: Sie wollen das Land zurück zu einer Billiglohnwirtschaft | |
mit niedrigen Standards führen und außerdem den neuen EU-Regeln gegen | |
Steuerflucht entgehen, die im März 2019 in Kraft treten sollen. | |
Die letzten zwei Jahre seit der Volksabstimmung vom 23. Juni 2016 waren | |
vergeudete Zeit. Die Europäische Union hat transparent gehandelt, | |
Positionspapiere veröffentlicht und geplante Schritte benannt. Die | |
britische Regierung hat das Gegenteil getan, sie hat Fakten verschleiert | |
und ihre Verantwortung gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit | |
umgangen. Die meisten Abgeordneten haben nicht die geringste Ahnung von der | |
Europäischen Union und wie sie funktioniert, und leider trifft das auch auf | |
allzu viele Minister zu. | |
## Öffentlichkeit ist gegen den Brexit | |
Allerdings: Wenn [2][die Rücktritte prominenter Brexit-Verfechter] aus der | |
Regierung irgendetwas bewirkt haben, dann das Aufrütteln einer | |
normalerweise gleichgültigen Öffentlichkeit. Das und der Trump-Besuch an | |
diesem Wochenende haben Anti-Brexit-Gruppen mobilisiert. Es herrscht | |
Krisenstimmung: Die Premierministerin sucht jetzt die Unterstützung von | |
Labour-Abgeordneten, um im Parlament gegen ihre eigenen Brexit-Rebellen | |
bestehen zu können, aber schon ihre Tolerierung durch die nordirische | |
Democratic Unionist Party hat einen Beigeschmack von Intrigen und Skandal. | |
Das Eis wird dünn. | |
Großbritanniens Öffentlichkeit steht nicht hinter dem Brexit. Je mehr | |
darüber bekannt wird, desto mehr Menschen fordern eine neue Volksabstimmung | |
– ein „People’s Vote“. Die Petition dafür erhielt innerhalb weniger Ta… | |
210.000 Unterschriften. Fast 80 Prozent der Menschen, die jünger als 25 | |
sind, wollen in der Europäischen Union bleiben, außerdem viele ihrer Eltern | |
und Großeltern. Ihre Kampagnen und EU-Flaggen erregen Aufsehen – und ärgern | |
sowohl Minister als auch den Oppositionsführer Jeremy Corbyn, der sie von | |
seinem großen Labour-Festival Ende Juni verbannte. | |
Vertrauen in Medien oder Politiker haben sie nicht. Denn Abgeordnete | |
stellen allzu oft Fraktionstreue vor Vernunft. Und der neue Brexit-Minister | |
Dominic Raab gilt, milde gesagt, als autoritär und ist ein Gegner der | |
EU-Grundrechte. | |
Das neue Brexit-Gesetz, das alle nach Brüssel übertragenen Kompetenzen nach | |
London zurückholt, erlaubt der Regierung, all diese Kompetenzen ohne | |
weiteren Parlamentsbeschluss zu verändern. Deshalb fordern einige eine | |
Gesamtreform des britischen Systems: Es braucht eine repräsentativere | |
Volksvertretung und mehr Respekt für die verschiedenen Regionen des | |
Vereinigten Königreichs. | |
## Keine effektive Opposition | |
Der Mangel an Vertrauen erstreckt sich auch auf die Opposition. | |
Großbritannien hat derzeit keine effektive Oppositionskraft, weil ihr | |
Führer ebenfalls ein Befürworter des Brexits ist. Jeremy Corbyn gilt | |
bestenfalls als Übergangspremier in Wartestellung, nicht als jemand mit | |
einer langfristigen Zukunft, mit internationalem Standing oder europäischer | |
Überzeugung. | |
Seine Reden gegen Kürzungen der Staatsausgaben mögen den Opfern der | |
wirtschaftlichen Austerität gefallen, aber in seiner eigenen Partei | |
verliert er an Rückhalt, insbesondere unter der überwiegenden Mehrheit der | |
Labour-Mitglieder, die ein „People’s Vote“ zum Brexit fordern, weil die | |
Labour-Abgeordneten im Parlament unter Fraktionszwang für den Brexit-Deal | |
stimmen müssen. Sie trauen Corbyn nicht zu, Großbritannien in der | |
Europäischen Union zu halten, sollte er denn die nächsten Wahlen gewinnen. | |
Boris Johnson, der zurückgetretene Außenminister, wird zwar weithin als | |
Clown dargestellt, aber dies ist eine sorgfältig gepflegte Karikatur. Seine | |
Ambition, Premierminister zu werden, ist ungebrochen. Zyniker glauben, dass | |
er den Brexit nur oberflächlich unterstützt und lautstark die Seiten | |
wechseln würde, wenn ihm das politisch nützte; manche denken sogar, dass | |
sein letzter Spielzug genau dies zum Zweck hat. | |
Spekulationen über die Spielchen von Politikern sind unvermeidbar, aber sie | |
sollten nicht verbergen, dass sich die öffentliche Meinung bewegt. Die | |
Brexit-Lügen werden zunehmend durchschaut: Sie sind ein auf Sand gebautes | |
Souveränitätsversprechen, das wenige wirklich verstehen, das aber viele | |
Menschen ärmer und Großbritannien zerbrechlicher machen würde. | |
Und dann gibt es die Brexit-Achillesferse Irland, wo eine Rückkehr zu einem | |
geteilten Irland – nach Jahren gesellschaftlicher Integration – auf Kosten | |
der Menschen vollzogen würde. | |
Außerdem gibt es das undurchsichtige Feld der Beeinflussung aus dem | |
Ausland, auch und gerade zugunsten des Brexits. Das Versprechen von Deals | |
mit Donald Trumps USA anstelle der EU-Mitgliedschaft stößt auf viel | |
Unbehagen. Auch Wladimir Putin traut niemand, der Nowitschok-Skandal empört | |
die Leute selbst während der Fußballweltmeisterschaft. | |
Fast jede Woche gibt es irgendwo im Land Straßenfeste, Demonstrationen und | |
Partys gegen den Brexit. Frauengruppen wie „Women4Europe“ sind dabei | |
besonders aktiv und finden zunehmend Unterstützung von Abgeordneten – eine | |
Leistung angesichts der Tatsache, dass Frauen in der Politik meist wenig | |
Gehör finden. Sie sehen, welchen Schaden der Brexit im Alltag anrichtet und | |
in den Familien – nicht nur, weil er oft Familien in ein Pro- und ein | |
Anti-EU-Lager spaltet, sondern auch, weil sogar dort, wo es keine großen | |
Meinungsverschiedenheiten gibt, Politik insgesamt diskreditiert worden ist. | |
Wo Politik ein Schimpfwort ist, wird dieses Gefühl alsbald auf Politiker | |
übertragen. | |
## Stärker als politische Eitelkeiten | |
Allmählich sehen die Menschen, was die Europäische Union bedeutet. Wie die | |
Väter der europäischen Integration es vorhersahen und wollten, schafft die | |
Integration zwischenmenschliche Verbindungen, die stärker sind als | |
politische Eitelkeiten und wirtschaftliche Spaltung. Gerade in Berlin weiß | |
man das. | |
Die Ironie dabei ist, dass sich kaum noch jemand an die Berliner Luftbrücke | |
und an den Marshallplan für Europa erinnert. Kaum noch jemand bedenkt, dass | |
nicht Handelsabkommen die Staaten jenseits vergänglicher politischer Launen | |
zusammenbinden, sondern geteilte Souveränität und ökonomische Integration. | |
Aber genau das ist die Grundlage von Solidarität. | |
Auch in Großbritannien sind die Menschen misstrauisch gegenüber neuen | |
Grenzen, neuen Spaltungen und Handelskriegen. Der Brexit ist nicht in | |
trockenen Tüchern. Er ist unmöglich. In all der Kritik und der | |
Verächtlichmachung von allem, wofür Europa steht, wird paradoxerweise immer | |
deutlicher, dass es ein Teil der britischen Identität geworden ist. | |
15 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Juliet Lodge | |
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