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# taz.de -- Autor über trinkende Politiker: „Politiker sind vorsichtiger gew…
> Früher wurde in Westminster gesoffen, heute bleiben viele Politiker
> lieber nüchtern. Ben Wright hat ein Buch über das politische Trinken
> geschrieben.
Bild: Steht zu seinem Genuss: Politiker Boris Johnson
taz: Herr Wright, ich erreiche Sie am Telefon und muss gleich mal fragen:
Trinken Sie gerade ein Pint?
Ben Wright: Das ist eine freche Frage!
Es ist der Moment der Wahrheit.
Okay, meine Entschuldigung ist: Ich habe gestern sehr lange gearbeitet, es
ist mein freier Tag, es ist 5 Uhr am Nachmittag, und – ich kann nicht
glauben, dass Sie mich erwischt haben – ich habe gerade eben eine Flasche
amerikanisches India Pale Ale geöffnet. Aber [1][es ist ein kleines]!
Für diese Gelegenheit habe ich mir auch eine Flasche Bier an den
Schreibtisch geholt, sonst mache ich das auch nicht. Herr Wright, für Ihr
Buch „Order, Order! The Rise and Fall of Political Drinking“ haben Sie
recherchiert, welche Rolle Alkohol in der Politik hat. Mit wem würden Sie
jetzt gerade gern einen Drink nehmen?
Boris Johnson ist im Moment die Person in der britischen Politik, mit der
jeder offen über seine Ambitionen sprechen möchte. Wann will er
Premierminister werden? Wie wird er das angehen, was denkt er wirklich über
den Brexit? Ich habe ihn für das Buch interviewt, und er ist einer der
seltenen offenen Anhänger des Alkohols. Er denkt, es ist im Großen und
Ganzen eine gute Sache, macht das Leben angenehmer, er denkt, Politik macht
damit mehr Spaß. Im Moment würde ich mich gern mit ihm bei einem Drink
hinsetzen und ihn ganz offen fragen, was er im Schilde führt.
Sie zitieren Johnson in Ihrem Buch, wie er sagt, er trinke manchmal eine
„gewaltige Menge“. Ist er damit eine Ausnahme?
Er ist ein ehemaliger Journalist, also hatte er sein Training. Es ist Teil
seiner Anziehungskraft auf Menschen – und auch sein Risiko. Johnson hat
keine Angst, recht offen über seinen Lebensgenuss zu sprechen. Aber als ich
ihn für das Buch interviewt habe, sagte er ebenso, dass Alkohol ein
trügerischer Freund für einen Politiker ist. Alkohol macht die Plackerei
der Politik erfreulicher, die endlosen Meetings und Empfänge erträglicher.
Aber: Wegen Betrunkenheit kannst du wirklich in Schwierigkeiten geraten. Es
ist eine Gratwanderung.
Ein Pressechef des ehemaligen Premiers Gordon Brown sagte mal, das
Regierungsviertel Westminster sei die „Komasauf-Hauptstadt
Großbritanniens“. Stimmt das noch?
Das war Damian McBride, Premierminister Gordon Browns Kampfhund. Er war ein
Westminster-Strippenzieher alter Schule, der Beziehungen mit Journalisten
bei sehr langen Mittagessen und heftigen Nächten in Pubs pflegte. Aber ich
denke, es ist keine faire Beschreibung mehr vom heutigen Westminster. Es
gibt bestimmte Abende, im Wesentlichen Donnerstage, wenn das Ende der Woche
in Sicht ist, da sind die Bürgersteige rund um die Pubs von Westminster
voll mit ReferentInnen, BeraterInnen und BeamtInnen. Es sind nicht immer
die PolitikerInnen. Die sind vorsichtiger, gesundheitsbewusster geworden,
sie arbeiten oft härter, es ist jetzt ein arbeitsamerer Menschenschlag.
Was hat sich geändert?
Vor 40, 50 Jahren hatten die meisten Abgeordneten wirklich nichts zu tun,
und sie waren nicht viel Kontrolle ausgesetzt. Sie repräsentierten
Wahlkreise, die als sicher für die jeweilige Partei galten. Sie waren nicht
wirklich von Bedeutung, solange sie durch die Abstimmungsräume im Parlament
schwanken konnten, um zu tun, was ihnen gesagt wurde, und für ihre Partei
abzustimmen. Heute sind die ParlamentarierInnen außerordentlich beschäftigt
mit großen Mengen Wahlbezirksarbeit, sie sind den ganzen Tag auf Twitter,
sie betreiben alle 24-Stunden-Medienkampagnen – sie haben einfach keine
Zeit, den ganzen Tag trinkend in Pubs und Parlamentsbars zu sitzen.
Außerdem sind die Zeiten weniger männlich: Als ich Parlamentarier darüber
befragt habe, sagten viele, dass eine große kulturelle Veränderung im Jahr
1997 kam, als viele Frauen gewählt wurden und Tony Blair bei den Wahlen
seinen Erdrutschsieg hatte. Viele Frauen hatten junge Familien, sie kamen
nicht aus einer Trinkkultur, sie wollten so nicht ihre Zeit verbringen. Das
veränderte die Atmosphäre ziemlich.
Was war denn die goldene Zeit des politischen Trinkens?
Es kommt darauf an, ob Sie exzessives Trinken für eine gute [2][oder
schlechte Sache halten]. Das letzte Mal, als es wirklich wild war, waren
wahrscheinlich die 1970er Jahre. Die Menschen, mit denen ich gesprochen
habe, die mit gutem Gedächtnis und starken Lebern, erinnern sich an
nächtelange parlamentarische Sitzungen. Abgeordnete waren also im Unterhaus
bis 3 oder 4 Uhr nachts, die Bars hatten so lange geöffnet.
Labour-Politiker aus Working-Class-Bezirken mit Schwerindustrie, bei denen
die Trinkkultur einen Teil ihres Backgrounds ausmachte, brachten diese
Kultur mit nach Westminster. Die konservativen Bars konnte man voll mit
einer bestimmten Sorte Claret-Wein trinkenden, Whisky süffelnden Tories
finden. Wenn wir in diese Zeit zurückreisen könnten, wären wir wohl
ziemlich geschockt. So etwas flammt in Epochen der politischen Nervosität
auf.
Was heißt das?
Ich erinnere mich an einen Besuch im Unterhaus während der frühen 1990er,
als ich Teenager war. John Major war Premierminister, seine Regierung
klammerte sich an eine sehr kleine Mehrheit im Unterhaus. Ironischerweise
versuchte er, den Maastricht-Vertrag durchzubekommen. Es gab eine
Abstimmung spät in der Nacht, es war unglaublich angespannt, jeder
Abgeordnete musste ins Unterhaus kommen, sie wurden praktisch aus
Krankenhausbetten geholt und in das Parlament gerollt. Das sind so Tage und
Abende, wo die Trinkerei heftig ist, weil die politische Spannung hoch ist.
Wir werden mehr solche Abende haben, wenn der Herbst erst mal da ist.
Sie meinen, wenn es in die Endphase der Brexit-Vorbereitungen geht? Ein
Abkommen zwischen der EU und Großbritannien sollte bis zum EU-Gipfel Mitte
Oktober stehen – das wird immer unwahrscheinlicher. Theresa Mays Plan für
den Austritt ist in ihrer eigenen, konservativen Partei umstritten. Wurde
nicht letztens eine Abgeordnete für eine Brexit-Abstimmung krank ins
Parlament beordert?
Es war eine Labour-Abgeordnete, die unglaublich krank war, aus dem
Krankenhaus geholt und im Rollstuhl durchgeschoben wurde. Wir haben hier
ein Abstimmungssystem aus dem 19. Jahrhundert, wo Abgeordnete physisch
präsent sein müssen, in was für einem Zustand auch immer – in einem
Rollstuhl, betrunken –, sie müssen irgendwie durch die Abstimmungsräume
kommen und gezählt werden. Und nun haben wir Theresa May, die das Land ohne
Mehrheit regiert – jede Abstimmung ist ein möglicher Cliffhanger! Mit so
viel Brexit-Gesetzgebung, die durchgebracht werden muss, wird es
zurückgehen zu langen Sitzungen bis spät in die Nacht, angespannten
Abstimmungen. Ich denke, die Bars in Westminster werden im Herbst
faszinierende Orte sein: Man bekommt einen Sinn für die Aufregung, das
Drama, man wird Leute sehen, wie sie Komplotte schmieden, tratschen. Das
wird ein goldener Herbst des politischen Trinkens.
In Ihrem Buch schreiben Sie ja auch über die Gefahren des Alkohols. 2015,
als Sie bereits in den Recherchen für Ihr Buch steckten, starb der frühere
Parteichef der Liberal Democrats, Charles Kennedy, an Blutungen, die mit
seinem Alkoholismus in Verbindung standen. Hat diese Nachricht die
Trinkkultur in Westminster geändert?
Ich glaube nicht, dass es die Kultur in Westminster sehr geändert hat – sie
hatte sich ja bereits geändert. Charles Kennedy war auf eine Weise eine
sehr traurige Ausnahme davon. Er war kein öffentlicher Trinker, man hätte
ihn nicht in den Bars gesehen. Er war von der Sorte geheimer, privater
Alkoholiker, die es in den alten Zeiten im Parlament sicher noch häufiger
gab.
Und Ihre eigene Sicht?
Ich glaube nicht. Die Versuchung mit einem solchen Buch ist es, loszugehen
und alle Anekdoten von bekannten Politikern zu finden, die wirklich
lustige, dumme Dinge machen. Es gibt Leute wie Churchill, ein
bemerkenswerter, gefeierter Trinker, der bekanntlich gesagt hat, dass er
mehr vom Alkohol bekommen habe, als der Alkohol von ihm – Leute, die über
die Flasche triumphiert haben. Aber von Beginn an habe ich gedacht: Warte
mal, das ist kein ehrliches Bild von Alkohol. Du musst aufrichtig sein
darüber, dass er das Leben von Menschen ruiniert hat. Es hätte das Buch
sonst zur Zielscheibe von Spott gemacht.
In Deutschland scheinen PolitikerInnen im Wahlkampf eine unglaubliche Menge
Bratwürste zu verdrücken, um bürgernah zu erscheinen. Diese Rolle kann ja
auch Bier übernehmen.
Ja, es ist wahrscheinlich die einfachste und offensichtlichste Art und
Weise, mit einer einzigen Handlung zu demonstrieren, dass du etwas mit den
Leuten gemein hast, die du vertrittst: Du trinkst gern mal einen.
Wenn Politik nüchterner geworden ist, was könnte das ersetzen?
Ich glaube, wir werden weiterhin Fotos sehen von Parlamentariern und
Politikern, die Pints hochhalten. Aber es muss plausibel sein: Sie machen
sich zum Gespött, wenn es nicht glaubhaft ist. Eine Politikerin wie Theresa
May, von der wir wissen, dass sie keine Trinkerin ist, dass sie sehr
nüchtern ist – wenn sie ein Pint hochhält, um WählerInnen näherzukommen,
die nicht glücklich darüber sind, wie sie den Brexit voranbringt? Sie
werden nicht mit mehr Wärme auf sie blicken als ohne Bier. Es muss
authentisch sein.
Wir werden sehen, was der Herbst bringt.
Ich glaube, Alkohol in der Politik ist ein so attraktives Thema, weil die
Leute nostalgische Gefühle über die Zeit haben, als PolitikerInnen noch
zusammen tranken. Politik war nie so gespalten wie jetzt und nie so
gewissermaßen hässlich und erbittert. Es macht mich recht wehmütig nach
einer Zeit, in der Leute aus verschiedenen Parteien mit unterschiedlichen
Ansichten zusammensaßen und bei Drinks diskutieren konnten. Vielleicht
werden wir mehr davon sehen.
2 Sep 2018
## LINKS
[1] /Kampf-gegen-Alkoholsucht/!5459194
[2] /Konsum-von-Bier-und-Schnaps/!5501033
## AUTOREN
Eva Oer
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