# taz.de -- Romandebüt von Christian Y. Schmidt: Paranoia, Wahn und Weltverwir… | |
> Der Ex-„Titanic“-Redakteur Christian Y. Schmidt erzählt in „Der letzte | |
> Huelsenbeck“ von den Wahnvorstellungen eines Autors in der Psychiatrie. | |
Bild: Was ist Wahn, was ist wahr? | |
Die Psychiatrie ist eigentlich ein guter Platz zum Erzählen. Sie hat schon | |
Holden Caulfield zum Reden gebracht. Auch Christian Y. Schmidt, ehemaliger | |
Titanic-Redakteur, Biograf von Joschka Fischer und unermüdlicher | |
China-Versteher, weist den Erzähler seines Debütromans „Der letzte | |
Huelsenbeck“ in die Geschlossene ein. Hier findet er endlich die Ruhe, um | |
dieses wildwuchernde, vom schizoiden Wahn und von so ziemlich allen | |
gängigen Rauschdrogen gedünkte Rankenwerk der Imagination aufzuzeichnen. Am | |
Ende ist er „müde und ausgelaugt, entsetzlich erschöpft von dem dauernden | |
Auf und Ab“. Man kann den Mann verstehen, als Leser geht es einem ähnlich. | |
Daniel S., ein genau wie sein Autor nach China emigrierter Journalist, | |
kommt Hals über Kopf zurück nach Deutschland. Seine Frau hat sich von ihm | |
getrennt, so scheint es jedenfalls. Eine emotionale Ausnahmesituation, die | |
außer Kontrolle gerät, als er bei der Beerdigung seines Schulfreundes | |
Viktor, die in eine slapstickhafte Massenschlägerei mündet, einen Stein an | |
den Kopf abbekommt. Von nun an hat er Halluzinationen, sieht Kobolde, | |
entsetzlich entstellte Kinder, immer wieder das diabolische Grinsen seines | |
verstorbenen Freundes und ihm erscheint eine junge Frau aus der | |
Vergangenheit. | |
Er versucht nun mit Hilfe von Internet, eines Psychologen, einer | |
Hypnose-Therapeutin, vieler Drogen und alter Freunde herauszufinden, was es | |
auf sich hat mit dieser geheimnisvollen Fremden. Die Spur führt zurück in | |
die Siebziger, zu den „Huelsenbecks“, dessen Chefdenker Daniel einst war, | |
einem Post-Dadaisten-Zirkel, der in spektakulären Aktionen den Bürger – | |
„das Mastschwein der Geistigkeit“, wie es ihr Namenspatron Richard | |
Huelsenbeck einst formuliert hat – herauszufordern versucht. | |
Weil sie im Siebziger-Jahre-Deutschland mit ihrem „WIRRPLA“, dem | |
„Weltverwirrnisplan“, nicht so recht durchdringen, planen sie eine Reise in | |
die USA. Hier lernen sie Claire kennen, das Mädchen aus Daniels Visionen, | |
das durch ihre Schuld ums Leben gekommen sein muss. Erste reichlich | |
dopebefeuerte Recherchen machen Viktor zum Hauptverdächtigen. Oder ist | |
Daniel selbst der Schuldige? Hat die Amerikafahrt überhaupt stattgefunden? | |
Ist am Ende alles noch schlimmer? | |
## Pathologische Steigerung | |
Ähnlich wie in Thomas Pynchons Krimi-Dekonstruktionen „Die Versteigerung | |
von No. 49“ und „Natürliche Mängel“ führt die Spurensuche dieses schwe… | |
Erzählrad drehenden psychedelischen Detektivs zu immer weiteren Verirrungen | |
und auch zu immer neuen, nicht immer plausiblen Plotwendungen. Der | |
„Weltverwirrnisplan“ der Huelsenbecks ist in gewisser Weise auch in die | |
Romanstruktur eingegangen, man kann die abstruse Handlung nicht | |
nacherzählen. | |
Literatur und Paranoia haben mehr miteinander zu tun, als man glauben | |
möchte. Der Psychotiker ist die manische, pathologische Steigerung des | |
Literaten. Er leidet an „Beziehungswahn“, stellt also artifizielle | |
Verbindungen her, wo im echten Leben nur banale Kontingenz herrscht. Er | |
bringt das Chaos der Realität in Ordnung um den Preis, dass es sich dann | |
nicht mehr um die Realität, sondern um eine Illusion handelt. Indem Schmidt | |
einen solchen Irren zum Erzähler macht, lässt er das ästhetische Prinzip | |
des Erzählens gewissermaßen heißlaufen. Und das Ende muss offen bleiben. | |
Die wahnhafte Fantasie findet und erfindet immer neues Material, mit dem | |
sich immer neue Geschichten herstellen lassen, Lesarten einer verwirrenden | |
Wirklichkeit, der niemals zu trauen ist, weil sich jede scheinbare Wahrheit | |
unaufhörlich in eine neue transformiert. „An allem ist zu zweifeln“, das | |
Marx-Diktum, ist dem Roman als Motto vorangestellt. | |
Das Problem eines so entfesselten, sich vom Wahrscheinlichkeitspostulat | |
verabschiedenden Erzählens ist eine gewisse Willkür, die zwangsläufig | |
irgendwann zur Gleichgültigkeit führt. Wenn der Regelbruch zur Regel wird, | |
bringt er sich um seinen Effekt. Von einem Verrückten erwartet man nun mal | |
Verrücktes. Allerdings gelingt es Christian Y. Schmidt mit lebensechten, | |
komischen, aber eben nicht kabarettistischen Dialogen, einem Händchen fürs | |
Szenische und einer flexiblen, sachgemäßen, anspielungsreichen und mit | |
einigem Spielwitz amplifizierten Sprache diesen Roman im Fluss zu halten. | |
Die Erschöpfung kommt erst beim Zuklappen – gefolgt von einem leichten | |
Gefühl der Ernüchterung wie nach dem Besuch eines Blockbusters, der einen | |
durch ein Special-Effect-Spektakel gejagt hat. | |
30 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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