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# taz.de -- Die Wahrheit: Luftiges Land in Richtung Braun
> Deutschland vom Weltraum aus betrachtet, ist mit geradezu außerirdisch
> klarer Deutlichkeit ein wahnhaftes Konstrukt.
So schön kann Deutschland sein – wenn man es aus dem richtigen Blickwinkel
betrachtet! Genauer gesagt aus der Beobachtungskapsel der ISS, der 420
Kilometer über der Erdoberfläche hinweggondelnden internationalen
Raumstation. Dort hält sich derzeit die deutsche Astronautin Raïssa
Zirngiebel auf, die zwischen Experimenten, Training und Phasen tödlicher
Langeweile immer wieder auch das unter ihr hinwegflutschende Deutschland
fotografiert.
Es sind Aufnahmen, die staunen machen. Von hier oben betrachtet sieht
Deutschland gar nicht mehr aus wie ein zwischen Post- und Neofaschismus
hin- und hergerissenes hochgejazztes Billiglohnland mit zu hohem
Glyphosatanteil. Stattdessen sehen wir ein pizzaartiges Einerlei mit
krampfaderhaften Flusslinien. „Unsere Ängste, unsere Sorgen werden
plötzlich nichtig und klein – wenn wir uns vor Augen halten, dass jederzeit
ein Asteroid durch die superdünne Atmosphäre fetzen und alles Leben
auslöschen könnte“, schwärmt Zirngiebel, die neben einem Studium der
Quantenphysik und der Molekularbiologie auch sehr erfolgreich auf Instagram
ist.
Wie sieht es nun aus, unser schönes Astro-Deutschland? Leicht zu
identifizieren ist Koblenz, wo sich die Mosel, wie viele ihrer Besucher, in
den Rhein übergibt. Die rege Binnenschifffahrt bleibt zwar verborgen, doch
auch aus dieser Entfernung ist gut sichtbar, dass es sich bei Koblenz um
ein komplett nichtswürdiges Drecksnest handelt.
Da sind aber auch Bilder, die Mut machen, etwa die von Hannover: „Wir
sehen, dass es selbst in dieser lebensfeindlichen Ödnis Menschen gibt.
Beziehungsweise, dass Menschen diese Ödnis jeden Tag neu herstellen“,
philosophiert Zirngiebel. Da ist der rheinische Mega-Slum Köln-Düsseldorf –
besonders apart stellt sich hier die ehemalige Hauptstadt Bonn da, die wie
ein Krebsgeschwulst um den Dünndarm des Rheins gewuchert ist. Hingegen
wirkt das sonst belächelte Saarland durch einen perspektivischen Effekt
direkt gewaltig, vergleicht man es etwa mit dem winzigen München oder
einhundert Fußballfeldern.
## Ein großer dunkler Fleck
Alles ist eine Frage der Perspektive! Bewegt sich die Sonne auf ihrer
endlosen Kreiselbahn hinter die Erde, werden in der Dunkelheit neue,
menschengemachte Linien sichtbar. Da sind Autobahnen, Wendehämmer,
Hurtigruten, aber auch die hunderte Kilometer weiten Projektionen auf
Sachsen und Bayern, die täglich aus anderen Bundesländern eintreffen und
diesen das Gefühl geben, sie seien das irgendwie bessere Deutschland. Aus
dem All gut zu erkennen ist auch Horst Seehofers Ego, das wie ein rosa
Lichtpunkt zwischen Berlin und München hin- und herpendelt. Im flirrenden
Gelichter der Hauptstadt hingegen ist ein großer dunkler Fleck zu sehen –
die Finsternis in Jens Spahns Hirnkastl ist mit konventioneller Beleuchtung
kaum zu durchdringen.
Klar wird: Dieser Planet ist zart, verletzlich, könnte jederzeit wieder von
Deutschland heimgesucht werden. Klar wird aber auch: Das All selbst ist –
deutsch! Im Gegensatz zum amerikanischen „Space“, einem Wischiwaschibegriff
ohne juristische Schlagkraft, sieht das deutsche Liegenschaftsrecht keine
Begrenzung nach oben vor. Während andere Staaten schon ab 110 Kilometern
ihre Lufthoheit regelmäßig aufgeben und vom „staatsfreien Weltraum“
schwadronieren, sind im deutschen Luftraum Mieterhöhungen noch auf einer
Höhe von 250 Kilometern nachgewiesen. Und über Deutschland hinwegfliegende
Satelliten sind selbstverständlich rundfunkgebührenpflichtig und haben
einen eigenen Schufa-Eintrag. Satellitenordnung muss sein!
Fast außerirdisch muten die Ausmaße deutscher Infrastruktur an, wenn man
sie durchs Teleskop einer Astronautin betrachtet. Riesig die
maulwurfshügelartigen Konstruktionen für den Breitbandausbau, riesig die
weitläufigen Wasserparks von Sanifair, die ein menschenwürdiges Spülen
auch auf Schnellstraßen ermöglichen. Fein zirkelt sich das Schlösschen bei
Hamburg ab, wo Jakob Augstein Tag und Nacht Wache hält, auf dass nicht
wieder die Juden die Macht im Lande übernehmen. Hell leuchtet ein
Schriftzug auf dem Dach der Uni Bielefeld, „#free sara und cigi“ steht dort
seit Anfang des Monats. Eine unbekannte Botschaft, gesprochen ins Nichts
der Ewigkeit.
## Die Fieberträume korrupter Politiker
Mit einem beliebten Vorurteil muss Raïssa Zirngiebel aber auch aufräumen:
Grenzen lassen sich aus dem All sehr wohl erkennen! So werden die Grenzen
Deutschlands beispielsweise durch das rotglühende Lichtermeer riesiger
Zeltstädte definiert; hier lagern die Ausländerheere, die keineswegs nur in
den Fieberträumen korrupter Politiker existieren, sondern tatsächlich
bereit sind, jederzeit über unser Land herzufallen. Sie existieren durch
die Fiktion der Nichtexistenz; hörte man auf, über sie zu reden,
verschwänden sie sofort – nur um durch neue Wahnvorstellungen ersetzt zu
werden. So ätherisch, so luftig haben wir uns unser Deutschland gar nicht
vorgestellt!
Die erdnahe Umlaufbahn der ISS verbirgt denn leider auch, dass Deutschland
aus größerer Entfernung ebenfalls eine ganz adrette Figur abgibt. Vom
Saturn aus betrachtet, ist die Erde zwar nur mehr ein Stecknadelkopf im
großen Nadelkissen des Universums, dennoch ist der deutsche Anteil an
dieser Stecknadel immer noch leicht auszumachen: Er sitzt leicht rechts
oben und taucht die sonst blaue Chromatik des Planetoiden ein winziges
Milli-Lumen in Richtung Braun. Deutschland gibt also der Erde ihre
Erdigkeit – und das bei nur gut 0,24 Prozent Anteil an der gesamten
Landoberfläche!
Geht man noch weiter zurück, an die Grenzen unseres Sonnensystems, geht die
Erde leider irgendwann optisch unter, ist im Hintergrundgeflimmer der
Galaxis nicht mehr zu sehen. In dieser Entfernung sind nur mehr Radiowellen
messbar, etwa die exquisiten Nachmittagstalks der Deutschen Welle, auch
können einzelne Sendungen von Hitradio FFH in der Mediathek abgerufen
werden.
Seltsam: Inmitten von Kälte und Dunkelheit wird deutsch gesprochen,
gedacht, gesungen; auch hier hinaus strahlt das gute Gewissen der Menschen
in Karlsruhe, Tübingen und Sigmaringen, während sie weiter
superrassistische Regierungen am Leben halten. Messbar ist hier auch die
deutsche Großzügigkeit: Im Jahr 2015 sammelte die Raumsonde „New Horizons“
Hinweise darauf, dass es auf dem Zwergplaneten Pluto schon eine Filiale der
„Tafeln“ gibt; womöglich leben also hier bereits überhebliche Senioren mit
Profilneurose, die streng drauf achten, dass sich auch keiner zu viel Müll
mitnimmt.
Raïssa Zirngiebel wird der Vogelperspektive bald den Rücken kehren – und
Deutschland wieder da fotografieren, wo es am schönsten ist: am Boden.
Vielleicht sehen wir uns dort ja bald wieder!
7 Jul 2018
## AUTOREN
Leo Fischer
## TAGS
Deutschland
ISS
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