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# taz.de -- Frau in afghanischer Männergesellschaft: Die Frau, die für ihr La…
> Eigentlich hat Lailuma Ebadi mehr als genug zu tun: Die Afghanin arbeitet
> als Ärztin und hat vier Kinder. Doch nun will sie in die Politik
> einsteigen.
Bild: Vier Kinder, drei Jobs, ein Ziel: Emanzipation. Lailume Ebadi bei der Arb…
Kabul taz | Jeden Morgen, wenn Lailuma Oryakhil Ebadi aufsteht, überkommt
sie dieses Gefühl. Sie beschreibt es wie einen kurzen Herzstillstand –
schmerzlos, aber gewaltig zugleich. Ihr Atem stockt, der Kopf stößt Alarm,
und die Gliedmaßen frieren ein. Diesen stillen Moment der Panik verspürt
sie immer an gleicher Stelle: auf dem Weg vom Bett ins Bad. „Es ist mein
Körper, der mir sagt, dass er nicht mehr will.“ Dabei ist Lailuma Ebadi
keine zimperliche Frau. Aber bei ihrem Lebensstil wäre jeder Mensch
erschöpft. Die Ärztin leitet zwei Krankenhäuser, hat vier Kinder und jetzt
noch eine steile politische Karriere. Dazu lebt sie in einer Stadt wie
Kabul, die einen immer wieder auf die Probe stellt – Bomben, Entführung,
Armut und Drogen.
Nach der Panikattacke legt Lailuma Ebadi den Gebetsteppich aus und findet
ihre fünf Minuten Stille bei Gott. Was für andere Leute der Kaffee ist, ist
für sie das Gebet. Um kurz nach fünf verlässt sie dann die
Drei-Zimmer-Wohnung im „Makroryan 2“. Ihr Zuhause ist eine
architektonische Besonderheit, Teil eines sowjetischen Wohnblocks aus den
1960ern, als die ehemalige UdSSR ihre Interessen am Hindukusch durch
riesige Investitionen zu vertreten begann. Es sind vierstöckige, einzelne
Wohnblocks aus vergilbtem Waschbeton, verbunden nur durch gespannte
Wäscheleinen aus Nylon. Hier leben Familien wie die Ebadis – gut gebildete,
finanziell stabile Menschen, und trotzdem meilenweit entfernt von der
regierenden Elite des Landes.
Während Lailuma ihren Weg durch die zerfallenden Hauseingänge des einstigen
sozialistischen Vorzeigeprojekts bahnt, ist von der morgendlichen Angst
keine Spur mehr geblieben. Im Gegenteil – stolz läuft die 40-Jährige mit
den haselnussbraunen Augen und dem wehenden Haar, welches unter dem
provokant sitzendem Kopftuch hervorschaut, ihrer Mission entgegen: die
allgegenwärtige Krise des Landes zu überwinden und damit auch die eigene
Hoffnungslosigkeit.
Als Erstes fährt Lailuma Ebadi in die Suchtklinik – sie selbst nennt es
Klinik Nummer eins. Dort leitet das einzige Krankenhaus Kabuls mit einem
Entzugsprogramm für weibliche Heroinsüchtige. Von denen gibt es viele, im
ganzen Land über eine Million. Die Zahl ist nur geschätzt, so genau weiß
das niemand. Danach muss sie zur Klinik Nummer zwei – die wiederum liegt in
Ostkabul, im überwiegend bitterarmen paschtunischen Stadtteil, an der
Peripherie. Diese Klinik, die den Armen medizinische Hilfe gewährt, hat sie
dort eröffnet, wo sich die Leute Medizin sonst nicht leisten können. In
Makroryan 2 gehen gerade in vereinzelten Wohnungen die Lichter an, als
Lailuma in ihr Auto steigt. Auch ihre Kinder hat sie schlafend
zurückgelassen, für die meisten Menschen ist es noch zu früh. Doch wer ein
so optimistisches Vorhaben in einem Land wie Afghanistan durchsetzen
möchte, muss die Zeit nutzen, die er hat.
## Um sechs Uhr morgens trifft Lailuma Ebadi in der Klinik ein
In militärischer Manier, kurz nach sechs Uhr, kommt Lailuma Ebadi dann in
der Klinik Nummer eins an. Ihre rechte Hand, Doktor Farischa, hat die
Nachtschicht geleitet. Zur Übergabe kommt sie ins Büro, und die beiden
tauschen sich aus. „N. ist wieder da“, erzählt die 31-jährige Farischa,
deren Familie furchtbar enttäuscht darüber ist, dass sie eine Karriere mit
diesen „dreckigen Süchtigen“ gewählt hat, anstatt in einer feinen Klinik …
den Herzen der Reichen zu operieren. „N.“, von der sie erzählt, ist
Dauergast im Rehabilitationsprogramm. Sie hat keine Familie, keine Arbeit
und kein Zuhause, und somit wandert sie von der Klinik auf die Straße und
von dort wieder zurück. „Wie geht es ihr?“, möchte Lailuma wissen. Farisc…
blickt ihrer Vorgesetzten direkt in die Augen. Die junge Ärztin spricht
ohne das kleinste Zittern die bittere Wahrheit aus: „Schlecht. Sie wurde
gestern von einer Gruppe auf dem Friedhof vergewaltigt. Gestern Nacht ist
sie angekommen – vollgepumpt mit Heroin. Konnte kaum laufen. Körperlich
wird sie es aber überleben.“ Lailuma schweigt. Es ist mehr oder weniger
immer die gleiche Geschichte, leider. Sie notiert sich den Vorfall, ihre
Stirnfalten zeigen sich, als sie beginnt zu grübeln.
Lailuma Ebadi hat schon viel versucht, zum Beispiel die Durchsetzung eines
Hilfsprogramms für die Abgehängten und Süchtigen. Sie glaubt daran, dass es
wichtig ist, Hilfe direkt an die Frau zu bringen. Seit 2014 also fährt ein
Bus, beladen mit Sozialarbeitern, Ärzten und einer Zivilpolizistin, durch
die Stadt auf der Suche nach Süchtigen, denn Kabul ist voller geheimer
Heroinstädte, wie besagter Friedhof, in denen die Abhängigen ihre eigene
Parallelwelt errichtet haben. Wer einmal in die Tiefe einer solchen
Heroinstadt gerät, kommt selten wieder heraus. Besonders Frauen sind dort
ein gefundenes Opfer für ihr männliches Gegenüber. „In diesem Sinne
unterscheidet sich die Welt der Süchtigen nicht wirklich von der restlichen
Gesellschaft.“
Lailuma Ebadi sucht verzweifelt nach etwas, was man den Frauen nach dem
Entzug anbieten könnte, doch die Möglichkeiten sind begrenzt. „Für sie sind
alle staatlichen Lösungen wie ein zweiter Knast“, sagt Lailuma. Das größte
Problem sind nicht die Frauen selbst, sondern der Staatsapparat. Hier liefe
alles schief, was man sich vorstellen kann, sagt sie: „Vetternwirtschaft,
Korruption, Rassismus und die omnipräsente Fehde zwischen verschiedenen
Stämmen.“ Auch der Heroinhandel gehört zu großen Teilen dem Staat, und
niemand hat wirklich ein Interesse daran, dass sich das ändert.
Weil Lailuma Ebadi das Gefühl hat, dass sie mit ihrer Arbeit gegen einen
unbesiegbaren Gegner kämpft, möchte sie ihre Taktik ändern. Konkret heißt
das: in die Politik einsteigen und mitmischen. Dazu bricht sie heute um
kurz nach elf Uhr aus der Klinik Nummer eins auf. Der Vorsitzende ihrer
Partei, Hizb at-Tahawwul wa Rifah (Partei für Wandel und Frieden), hat zu
einer Krisensitzung gerufen. Es geht um die kommenden Wahlen, bei denen
Lailuma für das Parlament kandidieren wird. Etwas hektisch verlässt sie die
Klinik und ihre Patientinnen, deren Leid und Geschichten kein Ende nehmen,
und bricht auf, um ihrer Suche nach einer Lösung nachzugehen.
## Eine Männer-Versammlung
Der Parteivorsitzende Mohammad Ashraf Ahmadzay empfängt Lailuma herzlich an
der Tür und führt sie hoch in den Versammlungsraum. Die Partei für Wandel
und Frieden hat ihr Hauptquartier in einem unscheinbaren Familienhaus im
Westen der Stadt, und obwohl die cremefarbenen Mauern und der kleine Garten
mit grünem Rasen und gepflegtem Blumenbeet perfekt zu dem wohlbekömmlichen
Namen der Partei passen, ist das inhaltliche Programm bestimmt durch eine
große Gruppe sehr unzufriedener Bürger wie Lailuma. Getragen wird sie unter
anderem durch unzufriedene Generäle im Ruhestand, die in dem Land nichts
davon erkennen, wofür sie einst gekämpft haben. Mit gepflegten Sakkos und
noch gepflegteren Bärten sitzen sie kerzengerade auf ihren Stühlen auf der
heutigen Versammlung. Neben ihnen alte, bärtige Männer im landestypischen
Schneidersitz. Sie sind paschtunische Stammesälteste und ehemalige Taliban,
denen es genauso geht wie den Generälen, nur dass sie von der anderen Seite
kommen. Darauf ist man hier besonders stolz. „Ich glaube daran, dass diese
Partei den Weg zum wahren Frieden kennt, weil wir es schaffen, alte Feinde
unter ein Banner zu bringen“, sagt Lailuma Ebadi.
Sie ist und bleibt die einzige Frau. Nicht nur das: Sie ist auch die
einzige Person mit einem Alter unter 50 Jahren. Der Pluralismus der
Parteiführung beschränkt sich auf den politischen Lebenslauf. Die Realität
ist die gleiche wie fast überall, es handelt sich um untersetzte alte
Männer. Das Thema der heutigen Sitzung: Sicherheit. Gerade findet die
Wählerregistrierung statt. In Afghanistan gibt es faktisch keine
überregionale Verwaltung. Etwa 40 Prozent des Landes gehören den Taliban,
andere Teile dem „Islamischen Staat“. Bevor gewählt werden kann, müssen
sich alle Wahlberechtigte registrieren, also aus ihren Gebieten dorthin
reisen, wo man dieser Verwaltungsakt auch möglich ist. Die Taliban haben
eine äußerst blutige Kampagne gestartet, um genau dies zu verhindern.
Hunderte starben schon in der Warteschlange zur Demokratie. „Und wenn wir
ganz ehrlich sind“, sagt Lailuma Ebadi, „werden es noch Hunderte mehr.“
Denn die Taliban tötet die Menschen auch, nachdem sie sich registriert
haben. In Afghanistan bekommt man nämlich einen Aufkleber auf seinen
Ausweis, wenn man wahlberechtigt ist. Damit haben die radikalen Islamisten
leichtes Spiel. Wer in ihr Gebiet kommt, muss sich ausweisen, und wer sich
hat registrieren lassen, ist sofort zu erkennen.
Nun hat der amtierende Präsident Aschraf Ghani vorgeschlagen, den
Registrierungsprozess nur mit einer Ausweiskopie zu gewähren. „Sein
Lösungsansatz stinkt zum Himmel“, sagt Lailuma Ebadi laut in die Runde.
„Was er vorschlägt, ist ein Freifahrtschein zum Wahlbetrug.“ Sie ist
wütend, spricht aber gefasst. Ebadi weiß, wie man sich als Frau in solchen
Kreisen Respekt verschafft. Jegliche Emotionalität wird als Hysterie
gewertet. Mit solch einem Stigma ist man schon unten durch.
Also bringt sie in ihre Lautstärke einen Hauch von Sanftmut ein: „Liebe
Freunde, wir müssen dazu Stellung nehmen. Es ist Aufgabe des Präsidenten
dafür zu sorgen, dass die Menschen keine Angst davor haben müssen, wählen
zu gehen. Seine Lösung ist feige und korrupt.“ Zustimmung aus der Runde.
Ebadi selbst hat keine Angst vor der Wahl. In ihren Augen gibt es keine
Alternative – weder politisch noch für sie persönlich. Sie hat viel mehr
Angst davor, alt zu werden und das Gefühl zu haben, dass nach ihr alles so
grausam bleibt wie jetzt. „Das Böse lauert hier überall. Die Taliban
besitzen quasi schon ganze Viertel der Hauptstadt. Fast jeden Tag fliegt
irgend etwas in die Luft. Schon der Gang zum Supermarkt kann tödlich sein.
Egal wo man hier hingeht, man ist überall in der Höhle des Löwen!“
## Und weiter gehts zur nächsten Klinik
Es ist jetzt schon 15 Uhr. Die Sitzung hat lange gedauert. Es wurde eine
Stellungnahme verfasst, die schon am Abend veröffentlicht werden soll.
Lailuma Ebadi verabschiedet sich von der Männerrunde. Diese lässt sich nun
Essen bringen, doch dafür hat sie keine Zeit. Ebadi muss noch zu ihrem
zweiten Job – die Klinik am Rande der Stadt. Hier hat man schon oft
versucht ihr Auto zu klauen, sie zu überfallen, aber sie geht trotzdem
weiter hin. „Es sind die armen Leute, die aus Not handeln – die brauchen
meine Hilfe am meisten.“ Geld verdient sie damit nicht. Aber Respekt.
Es ist kurz nach neun, als sie erschöpft die Wohnungstür öffnet. Empfangen
wird sie von ihren Kindern. Das zaubert selbst der überarbeiteten Lailuma
Ebadi ein Lächeln ins Gesicht. Man merkt, dass sie ihr ganzer Stolz sind.
Der jüngste Sohn ist 15 und wurde gerade als Nachwuchsspieler für die
Cricket-Nationalmannschaft nominiert. Ihre beiden Töchter Orzala und Uranus
sind Ärztinnen, wie Mama. Beide wollen jedoch das Land verlassen und warten
auf ein Visum für die USA. „Wo ist Nazir?“, fragt Lailuma, nachdem sie sich
durch die Reihen geküsst hat. Schüchtern fallen die Blicke ihrer Kinder auf
den Boden – auch eine Antwort.
## Der Stress endet nicht zu Hause
Schnell ist ihr Lächeln wieder weg und die Sorgen zurückgekehrt. Schweren
Herzens schleppt sie sich ins Wohnzimmer und lässt sich auf die Kissen
sinken. Ihr Blick wandert aus dem Fenster. „Wenn ich nicht so müde wäre,
würde ich weinen“, flüstert sie trocken, mehr zu sich selbst als ihren
Kindern, die sie still durch die Tür hindurch beobachten.
Nazir Ahmad Ebadi ist ihr ältester Sohn. Er hat eine Nachhilfeschule, wo er
Jugendliche auf das afghanische Abitur, „Concours“ genannt, vorbereitet.
Das Nachhilfebusiness ist hart, die Konkurrenz groß. Ein geschwächtes
öffentliches Bildungssystem hat ein lukratives Geschäft kreiert, und die
Schule ihres Sohns ist wahnsinnig erfolgreich. Vor ein paar Monaten wurde
der Sohn von Konkurrenten überfallen. Sie haben ihm beide Arme gebrochen
und auf seinen Kopf eingeschlagen. Er hat gerade so überlebt. Seinen linken
Arm wird er nie wieder richtig hochheben können – trotz familieninterner
Behandlung eines quasi kompletten Ärztestabs. Seitdem hat er sich
zurückgezogen. Er spricht kaum noch, schon gar nicht über den Vorfall.
Lailuma wird ganz schwarz vor Augen. „Warum müssen wir hier alles mit
Gewalt lösen?“, fragt sie den Nachthimmel, „Warum?“ Ihre Stimme hat nich…
mehr von der gefassten Politikerin, die in einem Raum mit alten Männern
Vorschläge macht. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch machen kann“, i…
ihr letzter Satz, bevor sie aufsteht und ins Bett geht. Leise schließt sie
hinter sich die Tür.
Im Oktober sind Parlamentswahlen – und vielleicht bekommt Lailuma Ebadi
eine neue Chance auf etwas Gutes. Vielleicht schafft sie es, nur ein paar
der Probleme zu lösen, die durch das ganze Land bis zu ihr ins
geschmackvoll eingerichtete Schlafzimmer dringen und ihr den Schlaf rauben.
17 Jun 2018
## AUTOREN
Philip Malzahn
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