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# taz.de -- Agnés Varda mit neuem Dokumentarfilm: Menschen treffen
> Seit 63 Jahren ist Agnès Varda Regisseurin. Mit einem Streetart-Künstler
> reiste sie für „Augenblicke“ durch kleine vergessene Dörfer in
> Frankreich.
Bild: Agnés Varda und JR unterwegs, eine schöne Mauer findet sich überall
Sie hat sie alle überlebt: Agnès Varda, die Grande Dame des französischen
Kinos. Sie machte schon Filmkunst, als François Truffaut, Jean-Luc Godard
und Jacques Rivette noch in Pariser Zirkeln über ihre Filmkritiken
debattierten. Ihr Film „La Pointe courte“, eine kluge Reflexion über die
amourösen Befindlichkeiten von zwei Verlobten auf Reisen, nahm schon 1953
viele Elemente der Nouvelle Vague vorweg und zeigte Vardas bis heute
wiedererkennbares Markenzeichen: die unperfekte, weil menschliche
Herangehensweise an das Medium Film.
Auch „Augenblicke – Gesichter einer Reise“ stellt 63 Jahre nach ihrem Deb…
als Regisseurin zufällig ausgewählte Menschen und ihre Gedanken in den
Mittelpunkt. Trotzdem ist es auch ein Neuanfang für Varda, denn zum ersten
Mal in ihrer Karriere teilt sie den Regiestuhl mit einem anderen Künstler.
Ihr Kompagnon ist der französische Street-Artist JR. Dieser wurde dadurch
bekannt, dass er in Paris überlebensgroße Fotoporträts von Bewohnern der
Banlieue anfertigte und an Häuserfassaden anbrachte. Seine Kunst wurde über
Nacht zum Gegengift gesellschaftlicher Vernachlässigung stilisiert und
machte ihn zu so etwas wie dem französischen Banksy mit Sonnenbrille.
In „Augenblicke“ gehen Varda und JR in einem zum Fotoautomat umgebauten
Lieferwagen auf die Reise quer durch Frankreich. Sie sind ein perfekt
ungleiches Paar: die liebevolle, fast 90-jährige Dame und der
charmant-hippe Jungspund JR. Ihr Prinzip scheint: Was sich liebt, das neckt
sich. Wie kommen nun Vardas eigenwillige Kinokunst und JRs
Instagram-taugliche Street-Art zusammen?
## Verlassene Siedlung
Die beiden machen Halt in kleinen Dörfern, an denen die Entwicklung des
Landes etwas vorbeigezogen zu sein scheint. Sie schießen Porträts der
Menschen an diesen Orten, hängen sie im überlebensgroßen Format in der
Nachbarschaft auf und fahren weiter. Etwa in einer kleinen Siedlung in
Nordfrankreich, die nach dem Ende des Kohlebergbaus fast vollständig
verlassen ist. Nur eine einzige alte Frau wohnt noch immer dort, plötzlich
prangt ihr Porträt an ihrer Hausfassade, und die Frau ist zu Tränen
gerührt.
JR und Agnès Varda suchen die echte Menschlichkeit im Alltäglichen,
Unhinterfragten und versuchen der gelebten Realität und Würde einfacher
Leute ein künstlerisches Gepräge zu geben. Diese Idee ist so simpel wie
einleuchtend, doch auf 90 Minuten geht sie leider nicht auf: Denn JRs und
Vardas Selbstinszenierung als sich neckendes, ungleiches Paar ist mit der
Zeit genau so plakativ wie ein Fotodruck an der Hauswand.
So fühlt sich „Augenblicke“ wie eine Aneinanderreihung einzelner Episoden
an, die nur selten die elliptische Größe von Vardas früheren Filmen
erreichen. Liegt es womöglich an der Zielgruppe? Denn so gegenwärtig der
Film sein möchte, so wenig hat er mit der französischen Gegenwart zu tun.
JR und Varda besuchen Hafenarbeiter, Landwirte, Kohlekumpel und beschwören
einen nostalgischen, ja verklärend sozialdemokratischen Blick.
Ihr Frankreich besteht aus vornehmlich weißen, traditionsbewussten
Menschen, die zumindest einen festen Platz in der Gesellschaft hatten oder
haben. Alle anderen bleiben unsichtbar, obwohl die partizipative Idee von
„Augenblicke“ sicher auch an jenen Orten funktioniert hätte, wo das
gesellschaftliche Mosaik Frankreichs wirklich in Frage steht. Ob aus
Eskapismus oder Altersmilde, dadurch kommt dem Film einiges an
Authentizität abhanden.
Wer sich an Vardas Dokumentarfilme wie „Der Sammler und die Sammlerin“
(2001) erinnert, weiß, dass sie auch anders kann. Darin traf sie Menschen,
die vom dem leben, was andere wegschmeißen – ohne Geld und mit viel
Idealismus. An diese ungefilterte Realität reicht „Augenblicke“ durch
seinen zu offensichtlichen Wohlfühlfaktor nicht heran.
## Godard öffnet nicht
Unter die mal rührende, mal rührige Sentimentalität von „Augenblicke“ se…
dafür Jean-Luc Godard einen illustren Schlussstrich. Die beiden besuchen
ihn am Ende ihrer Reise in seiner kleinen Heimatstadt am Genfer See,
blitzen allerdings schon an der Haustür ab.
Godard öffnet trotz Verabredung nicht die Tür, er hat sie scheinbar
absichtlich versetzt. Nur eine als Notiz getarnte Anspielung auf Vardas
früh verstorbenen Ehemann und Regisseurkollegen Jacques Demy klebt an der
Tür, die Varda prompt zum Weinen bringt. Und auf einmal ist JR da: Trösten
steht ihm offenkundig viel besser als Sticheln und am Ende nimmt er für
seine Freundin Agnès sogar einmal kurz die Sonnenbrille ab.
Hat am Ende Godard mit seiner notorischen Verweigerungshaltung den allzu
bequemen Film gerettet? In jedem Fall fühlt sich diese denkwürdige Eloge
auf die zwei dienstältesten Köpfe des französischen Kinos an wie ein
Nachruf avant la lettre. Ob es wohl Vardas letzter Film sein wird? Seit
gestern ist sie 90 Jahre alt.
31 May 2018
## AUTOREN
Johannes Bluth
## TAGS
Streetart
Nouvelle Vague
Dokumentarfilm
Porträtfilm
Dokumentarfilm
Agnès Varda
Spielfilm
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Cannes
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