# taz.de -- Kulturelle Aneignung beim ESC: Einmal Exotik zum Anziehen, bitte | |
> Kulturelle Aneignung ist eine rassistische Praxis. Warum ist es dennoch | |
> so schwer, kritische Haltungen zum Thema zu entwickeln? | |
Bild: Mehr als Mode: Der Qipao ist Teil kultureller Identität – und die läs… | |
BERLIN taz | In meinem Kleiderschrank hängt ein seidener Qipao. Das | |
traditionelle chinesische Kleidungsstück mit Schlitzen an den Seiten, dem | |
schmalen Stehkragen und den runden Stoffknöpfen, die man mit etwas Geschick | |
durch die Schlaufen auf der gegenüberliegenden Seite drücken muss. Mein | |
Qipao ist schwer, er ist ein Erbstück. Eingenäht in der Nackenpartie | |
verblasst das Markenschildchen einer Seidenfabrik aus Schanghai. | |
[1][Netta Barzilai] trägt während ihres Auftritts beim diesjährigen | |
Eurovision Song Contest keinen Qipao, sondern ein Gewand, das einem | |
japanischen Kimono ähnelt. Nach der Show gerät sie [2][in die Kritik:] Sie | |
habe sich der kulturellen Aneignung schuldig gemacht, indem sie vor dem | |
Hintergrund goldener Winkekatzen, mit stigmatisierendem Make-Up und ihrer | |
exotisierenden Kleiderwahl performt habe. | |
Natürlich bleibt dieser Aufschrei nicht unwidersprochen. Netta ist die | |
ideale Sympathieträgerin unserer Zeit. Ihr Song „Toy“ und ihre unangepasste | |
Haltung haben eine feministische Botschaft. Vor dem ESC wurde die | |
israelische Sängerin zudem selbst Opfer einer homophoben und | |
antisemitischen [3][Boykottkampagne], was ihren Sieg politisch und | |
gesellschaftlich noch wichtiger macht. | |
Kritiker*innen von Barzilais Performance wird vorgeworfen, auf Biegen und | |
Brechen etwas Faules an der glänzenden Gewinnerin zu suchen. Aber | |
Showbusiness hin oder her, es ist berechtigt zu fragen: Warum musste | |
Barzilais Auftritt in die Asia-Klischeebox getunkt werden? Und warum löst | |
allein der Verweis auf kulturelle Aneignung solche Gegenwehr aus? | |
Eine Antwort auf die erste Frage lautet: Exotism sells. Im Falle der | |
„asiatischen Exotisierung“ läuft dieser Slogan im gleichen Programm wie | |
unser aller Faible für sexualisierende Inhalte. Das sexualisiernde Bild der | |
asiatischen Frau wurde im Westen über Jahrhunderte hinweg gehegt und | |
gepflegt. Giacomo Puccinis Oper Madame Butterfly ist ein prominentes | |
Beispiel für die gleichzeitige Faszination und Verzerrung von „der Asiatin“ | |
auf der Bühne. Auch asiatische Frauenfiguren in Hollywoodfilmen entsprechen | |
meist entweder dem Klischee der unterwürfigen Liebhaberin, der schüchternen | |
Streberin oder einer Tiger-Mom-Domina. Obwohl es im Fall von Barzilais | |
ESC-Auftritt vermutlich nicht um die Reproduktion dieser Bilder ging, so | |
taugte das Japan-Setting doch zumindest als andersartige Kulisse. | |
## Der Unterschied zwischen Austausch und Ausbeutung | |
Mit der Frage nach der Abwehrhaltung ist es komplizierter, wie so oft, wenn | |
der moralische Zeigefinger ins Spiel kommt. Gerade weil Menschen einordnen, | |
zuordnen und vorverurteilen, ist es schwer, eine Haltung zum Thema der | |
kulturellen Aneignung zu entwickeln. | |
Kulturellen Austausch und somit auch den Handel mit und die Weitergabe von | |
kulturraumtypischen Objekten hat es schon immer gegeben. Das ist jedoch nie | |
im luftleeren Raum geschehen, sondern im Kontext von Kolonialherrschaft, | |
(Kultur-)Imperialismus und den impliziten ungleichen Machtverhältnissen – | |
der „Austausch“ ist daher im Kern kein Austausch, sondern oft gewaltsame | |
Ausbeutung. Die Mächtigen nehmen und entscheiden in der Regel einseitig | |
darüber ob sie im Gegenzug etwas dafür geben wollen, und falls ja, was. | |
Kulturelle Aneignung bedeutet daher nicht, auf gleichberechtiger Ebene ein | |
spezifisches Gut auszutauschen und gleichermaßen dessen Wert und Herkunft | |
zu schätzen. Sie bedeutet: Wir nehmen etwas, das uns nicht gehört, | |
verarbeiten es weiter, deuten es um. Dieses Privileg ist nicht allen | |
vorbehalten. | |
Materielles und geistiges Eigentum darf entweder gar nicht oder nur unter | |
gewissen Bedingungen vervielfältigt, verändert oder zu kommerziellen | |
Zwecken genutzt werden. Auf Identitäten lässt sich diese Logik nicht | |
übertragen, weil sie – glücklicherweise – immer [4][fluider und | |
vielfältiger] werden. Meinen Qipao trage ich selten, was weniger der | |
Tatsache geschuldet ist, dass er kaum alltagspraktikabel ist. Vielmehr | |
widerstrebt es mir, mich in ein Stück Stoff zu kleiden, das mich als | |
„irgendwie asiatisch“ markiert und damit einen Teil von mir extrem verzerrt | |
und vereinfacht. | |
## Kein bloßes Rede- und Verhaltensverbot | |
Im konkreten Fall von Netta Barzilai geht es indes nicht darum, dass sie | |
als Weiße keinen Kimono tragen darf. Diese zu kurz gedachte Deutung hält | |
sich in Antirassismusdebatten hartnäckig. In den USA wurden unter anderem | |
Beyoncé, Rihanna und Selena Gomez dafür kritisiert, sich mit Auftritten in | |
traditionellen Kleidungsstücken fremde Kulturgüter angeeignet und | |
Stereotype reproduziert zu haben. | |
Natürlich tragen Asiat*innen auch Jeans und auch nicht-weiße Menschen | |
können rassistisch handeln. Dennoch ist das nicht das gleiche, wie aus | |
einer herrschenden Position heraus Minderheiten zu karikieren und sich über | |
Objekte und Kleidung ungefragt Bestandteile ihrer kulturellen Identität | |
anzueignen. Dieser Kontext ist entscheidend: Marginalisierte können sich in | |
der Regel nicht aussuchen, welchen Teil ihrer Identität sie tragen wollen. | |
Ein angeblich an der Hautfarbe erkennbarer Migrationshintergrund lässt sich | |
nicht ablegen wie ein Kostüm. | |
Bezeichnend am Auftritt der ESC-Gewinnerin war letztlich nicht die Show an | |
sich, sondern der Umgang mit den kritischen Reaktionen darauf. Warum | |
erkennen wir es nicht an, wenn eingedampfte Asienreferenzen Betroffene | |
wütend machen und verletzen? Wie enttarnen wir rassistische Strategien, die | |
kritischen Stimmen unterstellen, sie würden persönliche Freiheiten durch | |
Rede- und Verhaltensverbote beschneiden wollen? Die Frage lautet nicht, ob | |
die Debatte über kulturelle Aneignung Sinn macht, sondern wie. | |
16 May 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Eurovision-Song-Contest-in-Lissabon/!5505063 | |
[2] /Rassismusvorwurf-gegen-ESC-Gewinnerin/!5505179 | |
[3] https://www.zeit.de/kultur/musik/2018-05/eurovision-song-contest-gewinner-n… | |
[4] /Debatte-Rachel-Dolezal/!5204631 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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