# taz.de -- Aids in der Bundesrepublik: Wie in einer Kapsel | |
> Am Anfang von Aids war nur Angst: Junge Menschen, vor allem Schwule, | |
> mussten sterben – und bald wir alle? Doch dann siegten Empathie und | |
> Vernunft. | |
Bild: Welt-Aids-Tag in Hamburg, 2017 | |
Die Sonne scheint für alle. So steht es geschrieben auf einem der | |
Grabsteine des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs in der Berliner | |
Großgörschenstraße. Viele Prominente liegen hier begraben, die Brüder Grimm | |
zum Beispiel, der Mediziner Rudolf Virchow, auch Rio Reiser. Und zugleich | |
ist es ein Szenefriedhof, der vielen schwulen Männern, die an den Folgen | |
von Aids gestorben sind, eine letzte Ruhestätte bietet. | |
Der Polittunte Ovo Maltine, einem Berliner Stadtoriginal. Dem | |
Schriftsteller, Schwulen- und Aidsaktivisten Napoleon Seyfarth, dem | |
Filmschaffenden Manfred Salzgeber, der die „Edition Salzgeber“ begründete | |
und mit seinem Assistenten Wieland Speck den „Teddy Award“ auf der | |
Berlinale – die Liste ist grauenhaft lang. Der Friedhof liegt mitten in | |
Berlin-Schöneberg. Die S-Bahn zum Wannsee hält um die Ecke, im Fahrplantakt | |
beschleunigt sie wieder aus dem Bahnhof Yorckstraße hinaus, das Geräusch | |
der Stadt drängt sich angenehm in die Stille. | |
Am Eingang des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs gibt es ein Pförtnerhäuschen, | |
das eine Blumenhandlung und ein kleines Café beherbergt, das Café Finovo. | |
Es riecht nach Kuchen und frischem Kaffee, eine der Scheiben des | |
Doppelkastenfensters hat einen kleinen Riss, und draußen liegt ein | |
deutscher Erinnerungsort in der Sommersonne. Geistesgeschichte, | |
Märchensammler, Wissenschaftler, dafür stand dieser Ort, bis er auch zu | |
einem Gedenkort wurde, der viel erzählt über die Deutschen und Aids und wie | |
sich der Blick auf diese Erkrankung und den Umgang damit gewandelt hat. | |
Heute, im Jahr 2018, spricht die Deutsche AIDS-Hilfe von einem „Ende von | |
Aids“ schon im Jahr 2020. Bis dahin soll bei niemandem mehr das „Vollbild“ | |
Aids diagnostiziert werden können sein – und jungen schwulen Männern wird | |
angeraten, PrEP einzunehmen, Medikamente, die sie davor bewahren, sich | |
überhaupt erst mit Aids anzustecken. | |
Das Ende von Aids – wenn sich nur alle Menschen testen lassen und so | |
behandelbar würden, könnte die Krankheit wieder verschwinden und wäre nur | |
noch eine Erinnerung, ein melancholischer Spaziergang auf einem Friedhof | |
wie dem von St. Matthäus, der sich in Nachbarschaft zum „Regenbogenkiez“ | |
rund um den Schöneberger Nollendorfplatz befindet und auf dem so viele | |
junge Männer begraben liegen, die lange vor ihrer Zeit sterben mussten. | |
## Ein „Schreck von drüben“ | |
Am Anfang war Aids nichts als ein „Schreck von drüben“, wie der Spiegel im | |
Mai des Jahres 1982 schrieb: In New York, Los Angeles und San Francisco | |
litten plötzlich junge Männer zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren | |
unter sogenannten Kaposi-Sarkomen, einer seltenen Krebsart, die bislang nur | |
bei wesentlich älteren Patienten vorgekommen war und nun in einer besonders | |
aggressiven, auf die inneren Organe übergreifenden Variante grassierte. | |
Blaurote Knoten, die sich auf der Haut abzeichneten, begleitet von schweren | |
Infektionskrankheiten, Lungenentzündungen, Pilzbefall. | |
Es war bereits das Jet-Zeitalter, nicht wenige schwule Männer aus der | |
westdeutschen Mittelschicht konnten es sich ab Mitte der 70er Jahre | |
leisten, in die Vereinigten Staaten zu fliegen, um sich in der New Yorker | |
Leder- und Fetischszene oder den Darkrooms von San Franciscos | |
Castro-Viertel zu verlieren. In den besser unterrichteten Kreisen der | |
deutschen Großstädte hatte man zum Zeitpunkt der Spiegel-Veröffentlichung | |
schon von den Problemen in den USA gehört. Wer hoffte, die Angelegenheit | |
werde insgesamt eine amerikanische bleiben, sah sich enttäuscht. Der | |
Spiegel berichtete bereits von Kaposi-Fällen in Barcelona und Kopenhagen. | |
„Die nächsten Erkrankungen“, so stand am 31. Mai 1982 in dem Magazin, | |
„erwarten Experten in den Ballungsräumen der Homosexualität: Athen, Rom, | |
London und Berlin.“ Wenig später traten in Deutschland tatsächlich die | |
ersten Fälle der Erkrankung auf, von der man noch gar nichts Genaues | |
wusste. Da ausschließlich Homosexuelle betroffen schienen, sprachen | |
amerikanische Wissenschaftler zunächst von einer „Gay-Related Immune | |
Deficiency“ (GRID). Erst später, im Juni 1982, setzte sich die Bezeichnung | |
„Acquired Immune Deficiency Syndrome“ – erworbenes Immunschwächesyndrom … | |
durch, abgekürzt: Aids. | |
Die Krankheit sei wie „ein Schuss ins stille Glück“ gefallen, schrieb der | |
Mediziner Stefan Hinz 1984 in dem von ihm herausgegebenen Band „AIDS. Die | |
Lust an der Seuche“. Damit meinte er auch die relative Freiheit, mit der | |
sich Homosexuelle in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt bewegen | |
konnten, insbesondere in Westberlin: Allein hier gab es für sie mehr als | |
fünfzig Kneipen, zwei schwule Verlage und mehrere Saunen. Durch die | |
Emanzipationsbewegungen nach der Nazizeit hatte sich Berlin – neben Köln, | |
Frankfurt am Main, Hamburg und München – wieder zu einer schwul-lesbischen | |
Metropole entwickelt, wenn auch nicht in solchem Ausmaß wie in der | |
Weimarer Zeit. Frank Ripplohs legendärer, auch international erfolgreicher | |
Film „Taxi zum Klo“ aus dem Jahr 1980 vermittelt etwas von der damaligen | |
Atmosphäre in der Mauerstadt: Im Zentrum stehen Frank und Bernd, ein | |
schwules Paar zwischen Verliebtheit und Verdruss – erstmals wurden hier | |
Homosexuelle nicht in einem Problemzusammenhang dargestellt, sondern in | |
ihrer alltäglichen, manchmal eben auch banal anmutenden Normalität zwischen | |
Beruf, Tuntenball und Abendbrot. | |
Der Titel des Films bezieht sich auf eine Szene, in der Frank mit Hepatitis | |
im Krankenhaus liegt und sich von dort aus ein Taxi nimmt, um Sex auf einer | |
öffentlichen Toilette zu haben. Später zu dieser Szene befragt, gab Ripploh | |
an, er habe damals geglaubt, dass Hepatitis nur ansteckend sei, „wenn einem | |
das Gelbe ins Gesicht schießt, also die ‚Gelbsucht‘ ausgebrochen ist“. V… | |
Infektionswegen hatte man in diesen Tagen wenig Ahnung. Und auch keine | |
Angst vor sexuell übertragbaren Erkrankungen wie Tripper oder Feigwarzen, | |
die seit den fröhlichen 70ern virulent geworden waren. Es war die Zeit nach | |
der nunmehr gut behandelbaren Syphilis – und vor Aids. | |
In Berlin hoffen die schwulen Männer 1983 zunächst noch darauf, dass der | |
Atlantik breit genug ist. Doch bereits im Frühjahr des Jahres gibt der | |
Verein „Schwule Ärzte und Therapeuten“ ein Flugblatt heraus, das darüber | |
aufklärt, dass man sich nicht mit einem Händedruck infizieren kann. Die | |
Berliner Schwulenberatung veranstaltet Anfang Mai einen Informationsabend, | |
zu dem mehr als fünfhundert Männer kommen. Erste Schritte der Selbsthilfe, | |
denn groß ist das Misstrauen gegen die Ratschläge und Anordnungen der | |
mehrheitlich heterosexuellen Mediziner und Beamten, die zwar offenkundig | |
keine Ahnung haben, wie man des Problems Herr werden könnte, aber glauben, | |
sie könnten weiter über die Belange der Homosexuellen richten. Die | |
Promiskuität sollte schuld sein, Keuschheit und Treue sollten wieder Einzug | |
halten. So forderten es von Beginn an staatliche Seuchenmediziner, auch | |
Politiker und Gottesmänner. Der Paragraf 175 bestand zu diesem Zeitpunkt | |
noch immer, er war lediglich „entschärft“ worden. Die erste Phase der | |
modernen Schwulenbewegung der 70er Jahre war gerade abgeklungen, viele | |
schwule Männer hatten begonnen, die neuen Freiheiten zu genießen. | |
Wer nun aber tatsächlich krank wird und eines jener verdächtigen Symptome | |
zeigt, lässt sich in der Landesimpfanstalt mit tropenmedizinischer | |
Beratungsstelle registrieren. Anonym, mit einer Nummer – und es werden | |
immer mehr Nummern. | |
In der Landesimpfanstalt arbeitet damals Sabine Lange als | |
Krankenschwester. Zu ihren Klienten gehören viele schwule Männer, die von | |
Fernreisen mit zum Teil sexuell übertragbaren Krankheiten nach Berlin | |
zurückkommen. Langes Vorgesetzter, Professor Dr. Ulrich Bienzle, hat daher | |
1982 mit Untersuchungen schwuler Männer auf Darmparasiten begonnen, das | |
Institut bietet auch Impfungen gegen Hepatitis B an. Sabine Lange ist in | |
diese Vorgänge involviert, und als immer mehr Patienten – insbesondere | |
„Ledermänner“, die in die USA gereist sind – von einer „Schwulenpest“ | |
berichten, geht sie als Ansprechpartnerin mit in die Schwulenkneipen von | |
Berlin-Schöneberg. | |
## Treffen in der der „Knolle“ | |
Im Sommer 1983 versammelt sich eine Gruppe schwuler Männer um sie. Sie sind | |
sich einig, dass etwas geschehen muss – auch wenn sie noch nicht wissen, | |
was genau. Offensichtlich ist nur, dass eine Bedrohung im Anmarsch ist, der | |
bislang niemand etwas entgegenzusetzen hat. Im September des Jahres wird | |
schließlich die Deutsche AIDS-Hilfe gegründet, als eingetragener Verein mit | |
dem Ziel der „Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und des | |
Wohlfahrtwesens“. Der Verleger Bruno Gmünder, Mitbegründer der AIDS-Hilfe, | |
erinnert sich an die ersten Treffen mit anderen Aktivisten in der „Knolle“, | |
damals eine Westberliner Institution und die erste Berliner Lederkneipe mit | |
Darkroom. Konkrete Fragen waren zu klären: Wie kann man herausfinden, wer | |
betroffen ist, und wie genau entsteht die Krankheit? „1982 hatte es einen | |
Durchbruch in Bezug auf die Impfung gegen Hepatitis A und B gegeben. Wir | |
wussten, dass es in diesem Zusammenhang jede Menge Blutproben von Schwulen | |
gab. Die wollten wir ins Tropeninstitut nach Erlangen schaffen, damit dort | |
genauere Forschungen angestellt werden konnten; dafür brauchten wir Geld. | |
Und wir brauchten angesichts der reißerischen Spiegel-Berichterstattung | |
eine mediale Gegenstrategie.“ Aus diesen Initiativen heraus entstand die | |
AIDS-Hilfe. Gmünder erinnert sich: „Am Anfang ging es einerseits um die | |
gesundheitliche Aufklärung, und andererseits musste verhindert werden, dass | |
es zu einer zusätzlichen Repression schwuler Lebensweisen kommt. Bizarr war | |
allerdings, dass wir zu diesem Zeitpunkt persönlich keinen einzigen | |
Betroffenen kannten.“ | |
Das sollte sich bald ändern, die Gründung der AIDS-Hilfe erfolgte gerade | |
noch rechtzeitig. „Es war auch richtig, dass wir dann relativ schnell mit | |
dem Staat kooperiert haben. Wir brauchten diese Unterstützung, weil wir | |
sonst womöglich alle in Lager gesteckt worden wären“, erinnert sich Gmünder | |
mit Unbehagen an die mitunter repressive Stimmung. Manche Politiker | |
forderten eine „Absonderung“ der Betroffenen nach dem Bundesseuchengesetz. | |
Die AIDS-Hilfe als zentraler Ansprechpartner kooperierte schließlich mit | |
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Es ging darum, die | |
homosexuellen Menschen in der Szene, in den Clubs und Saunen, aber auch die | |
Drogenabhängigen und Prostituierten zu erreichen. Während die entsprechende | |
Infrastruktur anderswo durch Schließungen beeinträchtigt oder gar zerstört | |
wurde – etwa in den USA, in Schweden, aber auch in Bayern –, blieben die | |
schwulen Institutionen in Berlin intakt. | |
Bereits 1984 war ein erster HIV-Antikörpertest entwickelt worden, der im | |
Jahr 1985 von der US-Gesundheitsbehörde zugelassen wurde. Ein potenziell | |
wichtiges Instrument im Kampf gegen die Ausbreitung der Erkrankung – | |
zumindest aus Sicht der Behörden. Viele schwule Männer verweigerten sich | |
jedoch dem Test. Aus Angst, nach einem positiven Ergebnis mit Restriktionen | |
rechnen zu müssen, oder weil eine Heilung zu diesem Zeitpunkt sowieso nicht | |
möglich war. Warum also mit einem Todesurteil herumlaufen? | |
Im Jahr 1985 schließlich kam die Angst vor Aids richtig im Bewusstsein der | |
Deutschen an, zumindest bei den Schwulen. Auch in der Motzstraße in | |
Berlin-Schöneberg konnte man die Angst nicht mehr verdrängen. Nicht wenige | |
schwule Männer trauten sich vorerst überhaupt nicht mehr in die Szene. 1985 | |
rät die Deutsche AIDS-Hilfe: „Kondome schützen!“ In ihrer | |
Informationsbroschüre aus dem Juli des Jahres heißt es, dass sich das | |
Infektionsrisiko durch „Safer Sex“ reduzieren lasse; also Sexualpraktiken, | |
bei denen Körperflüssigkeiten des Partners nicht auf Schleimhäute von Mund, | |
Augen, After und Vagina sowie in kleine Wunden gelangen. Ausgerechnet | |
Kondome, die ungeliebten Hygieneartikel aus Großvaters Zeiten, mit denen | |
spätestens seit Einführung der Pille kaum noch jemand etwas zu tun haben | |
wollte, wurden nun zum Lebensretter. Und zum Retter (schwuler) Lust. Im | |
Einklang mit den deutschen Sexualwissenschaftlern Martin Dannecker und | |
Volkmar Sigusch hatte sich die AIDS-Hilfe dazu entschlossen, so viel Lust | |
wie möglich zu retten – und anders als etwa in den Niederlanden und | |
Schweden nicht generell von Analverkehr abzuraten. | |
Im Herbst desselben Jahres sorgte ein Plakat der Deutschen AIDS-Hilfe nicht | |
nur für Aufsehen, sondern wurde europaweit als vorbildlich eingestuft: Es | |
zeigt zwei junge Männer, die sich zärtlich berühren. Mit der Aufschrift | |
„sicher besser – Safer Sex“ hing es nun sogar in öffentlichen | |
Verkehrsmitteln: Durch die mit Aids einhergehende Notwendigkeit, über | |
Sexualität zu sprechen, entstand auch eine größere Sichtbarkeit der | |
Homosexuellen. Ermöglicht worden war diese erste Plakataktion der | |
AIDS-Hilfe durch eine Benefizveranstaltung im Berliner Veranstaltungszelt | |
Tempodrom, das Rosa von Praunheim, das Treffen der Berliner Schwulengruppen | |
und die Deutsche AIDS-Hilfe organisiert hatten. Zu Gast waren unter anderem | |
Inge Meysel, Brigitte Mira, Alfred Biolek und André Heller. | |
Es war ein Auftakt zum zivilgesellschaftlichen Engagement: Auch Teile des | |
linksliberalen Bürgertums in Deutschland begannen, sich mit den Opfern der | |
Epidemie zu solidarisieren – lange vor den offziellen Aids-Galas, die zu | |
Beginn der Neunziger aufkamen. Alfred Biolek zum Beispiel war zu diesem | |
Zeitpunkt noch gar nicht offiziell geoutet, aber einer der bekanntesten | |
Moderatoren im deutschen Fernsehen. | |
Zwei Jahre später, 1987, wurde „Kondom“ zum Wort des Jahres. Unter Führung | |
der seinerzeitigen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth entwickelte die | |
Regierung ein Sofortprogramm, das in drei Richtungen zielte: Schutz der | |
Bevölkerung vor HIV-Infektion, Beratung und Versorgung der Infizierten | |
sowie Verhinderung von Diskriminierung. Mit ihrem klugen Anliegen, die | |
Betroffenen nicht auszugrenzen, und der Propagierung des Slogans „Aids geht | |
alle an“, konnte sich die CDU-Ministerin Süssmuth gegen ihren konservativen | |
bayerischen Gegenspieler Peter Gauweiler von der CSU durchsetzen, der sich | |
für eine strenge Anwendung des Bundesseuchengesetzes starkmachte. Von nun | |
an flossen bis zu 29 Millionen Euro jährlich in Plakate und Broschüren, in | |
Fernsehspots und Kinoreklame. Beratungsdienste wurden finanziert, jedes | |
Gesundheitsamt erhielt eine eigene Aidsfachkraft. Eine Politik, die Erfolg | |
hatte: Die Befürchtung, dass es zu einer Epidemie apokalyptischen Ausmaßes | |
kommen würde, erwies sich als unbegründet, homosexuelle Männer änderten ihr | |
Sexualverhalten – und die anfangs erschreckend hohe Zahl der Neuinfektionen | |
begann zu sinken. | |
Den bereits mit dem lebensbedrohlichen Virus Infizierten war damit jedoch | |
nicht geholfen, denn die Medizin hatte Aids außer dem bis 1994 als | |
Monotherapie verabreichten AZT nicht viel entgegenzusetzen – einem | |
Wirkstoff, der infolge von Überdosierung vielen Patienten schwer zu | |
schaffen machte. Erst fünfzehn Jahre nach der Entdeckung von Aids – vier | |
Millionen waren an der Krankheit gestorben und weltweit zwanzig bis dreißig | |
Millionen infiziert – kam zum ersten Mal ein echter Wendepunkt in Sicht. | |
1996 wurde im Rahmen der Konferenz von Vancouver HAART vorgestellt, eine | |
„hochaktive antiretrovirale Therapie“, bei der mindestens drei verschiedene | |
antiretrovirale Medikamente eingesetzt werden; in Deutschland wird die | |
Therapie meist „Kombinationstherapie“ genannt. Die Errichtung eines | |
„chemischen Regimes“ hindert das Virus an seiner Vermehrung, was | |
allerdings nur funktioniert, wenn die Medikamente regelmäßig eingenommen | |
werden. | |
## Ein Wendepunkt | |
Wahrhaftig ein Wendepunkt: Die Lebenserwartung der Patienten unter HAART | |
ist seit 1996 kontinuierlich gestiegen und entspricht inzwischen nahezu | |
derjenigen von HIV-Negativen. Das große Sterben hatte von nun an ein Ende – | |
doch eine ganze Generation schwuler Männer war traumatisiert. | |
Und auch für die Überlebenden war nicht alles eitel Sonnenschein: Eben noch | |
dem Tod geweiht, sahen sich nun einige, die bereits mit den Banalitäten des | |
Irdischen abgeschlossen hatten, dem Zwang ausgesetzt, sich um ihre Rente zu | |
kümmern. Zudem bedeutete HAART keineswegs das Ende des Stigmas – und die | |
Nebenwirkungen der Medikamente waren anfangs beträchtlich; besonders unter | |
den sogenannten Fettverteilungsstörungen hatten viele Betroffene zu leiden. | |
Heute ist die Menschheit noch immer weit davon entfernt, Aids auf die | |
leichte Schulter nehmen zu können. Anfang 2015 veröffentlichte UNAids, die | |
Fachorganisation der Vereinten Nationen, ihren Bericht zur weltweiten HIV- | |
und Aids-Epidemie. Laut ihm lebten Ende 2014 schätzungsweise 36,9 Millionen | |
Menschen mit dem Virus. Auch in Deutschland ist HIV/Aids weiterhin präsent. | |
Die Zahl der Neuinfektionen hat sich bis Ende der neunziger Jahre deutlich | |
reduziert. Nach 2000 erfolgte ein merklicher Anstieg, ab 2006 flachte die | |
Kurve wieder ab. | |
Laut der Epidemiologischen Kurzinformation des Robert-Koch-Instituts, | |
Stand Ende 2015, leben in Deutschland etwa 84.700 Menschen mit HIV/Aids, | |
72.000 davon mit Diagnose, 12.700 ohne. Die Infektion erfolgte in 54.100 | |
Fällen durch Sex zwischen Männern, in 10.700 durch heterosexuelle Kontakte, | |
in 7.700 durch Drogengebrauch und in 440 durch Blutprodukte. Die Gesamtzahl | |
der Neuinfektionen in Deutschland wurde auf 3.900 geschätzt. Im Jahr 2015 | |
starben in Deutschland 460 Menschen an den Folgen von Aids; seit Beginn der | |
Epidemie waren es insgesamt 28.100. | |
Wie begraben sind viele Erinnerungen an Aids. Viele schwule Männer hatten | |
ihre Partner verloren, ganze Freundeskreise wurden zerstört. Viele der | |
Hinterbliebenen waren danach schlicht zu erschöpft, um über das Erlebte | |
reden zu können. Andere haben diese Zeit nie verarbeiten können. Die | |
Erinnerungen haben sich in ihrer Seele, in ihren Herzen verschlossen wie in | |
einer Kapsel. | |
Der „Schwulenfriedhof“, so wird der Alte St.-Matthäus-Kirchhof von | |
Berlinern genannt – und es ist gar nicht abschätzig gemeint. Vielmehr | |
bringt es zum Ausdruck, dass Schwule und Lesben, queere Menschen, in Berlin | |
dazugehören. Der Friedhof liegt genau zwischen den Hochburgen der queeren | |
Szenen, dort, wo Schöneberg an Kreuzberg grenzt. Lebensorte von Menschen, | |
die häufig aus Kleinstädten und Dörfern in die Metropole gekommen waren, um | |
sie selbst sein zu können. Ihre zum Teil hart erkämpfte Individualität | |
reißt nun auch im Tod nicht ab: Überall auf den Gräbern sieht man kleine | |
Regenbogenfahnen, sogar ein nackter Ken, das männliche Pendant zu Barbie, | |
sitzt lachend und mit weit geöffneten Armen auf rankendem Gestrüpp. | |
So selbstverständlich war die Präsenz solch eher exzentrischen Grabschmucks | |
nicht immer. Aids bedeutete auch, dass sich noch junge Menschen plötzlich | |
mit ihrem eigenen Tod auseinandersetzen mussten. Nicht wenige von ihnen | |
verloren die Kontrolle über ihre letzten Tage und auch über ihren Abschied. | |
Sie wurden aus Berlin in jene Dörfer und Kleinstädte, aus denen sie | |
gekommen waren, „heimgeholt“ und von den Herkunftsfamilien gepflegt – oft | |
mussten sie sich selbst verleugnen oder wurden von den Angehörigen | |
verleugnet. | |
Andere machten ihr Sterben öffentlich, inszenierten ihr Begräbnis als | |
großes Finale, so wie der Berliner Schriftsteller und Künstler Napoleon | |
Seyfarth. „Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod“ heißt sein | |
bekanntestes Werk aus dem Jahr 1991, ein autobiografischer Roman, der | |
bundesweit Aufsehen erregte. Seyfarth propagierte einen offenen Umgang mit | |
der Krankheit und – zwei Seiten einer Medaille – mit Sexualität. Mehr als | |
zehn Jahre lebte er mit dem Virus, das er seit 1988 in sich trug. HIV | |
wurde, wie der Tod, ein aktiver Teil seines Lebens. Mitten in seinem | |
Wohnzimmer stand sein Sarg, den ihm eine befreundete | |
Bestattungsunternehmerin geschenkt hatte. Er hatte ihn bunt lackieren | |
lassen und mit Engels- und Schweinegesichtern dekoriert. 1995 inszenierte | |
er schon mal seine Beisetzung fürs Fernsehen – in der Kapelle des Alten | |
St.-Matthäus-Kirchhofs. Heute liegt er tatsächlich dort. Auf seinem | |
Grabstein, den ein doppeltes Marssymbol ziert, ein Symbol für | |
Homosexualität, steht: „Lust will Ewigkeit – Tod hat sie“. | |
Ovo Maltine, eine prominente Polit- und Kabaretttunte, die sich auch bei | |
den „Schwestern der Perpetuellen Indulgenz“ engagierte, einer LGBTI-Gruppe, | |
die sich, in Nonnentrachten gewandet, für queere Rechte einsetzt, war | |
damals bei Seyfarths Proben in der Kapelle dabei, zehn Jahre später, am 8. | |
Februar 2005, starb sie im Alter von gerade mal 38 Jahren, an einer bei | |
HIV-Patienten häufigeren Form von Lymphdrüsenkrebs. Die Beisetzung erfolgte | |
in einem historischen Grab, das Ovo sich zwei Jahre zuvor reserviert und | |
zur Pflege übernommen hatte. Darauf ist ein kleiner roter Kiesweg in der | |
Form einer Aids-Schleife angelegt. | |
## Viele Grabpatenschaften | |
Auf dem Kirchhof existieren mittlerweile viele solcher Grabpatenschaften: | |
Man übernimmt zu Lebzeiten die Verantwortung für ein historisch bedeutsames | |
Grab und erwirbt so das Recht, dort selbst beigesetzt zu werden, in einer | |
Urne und mit Gedenkstein oder -platte, die sich in das Gesamtensemble | |
einfügen. Auf dem „Schwulenfriedhof“ geht das so weit, dass der Club | |
„Connection“ seine eigene Grabstätte hat, ein großes Familiengrab mit | |
schwarzem Marmorstein. Christian Mutschmann liegt schon dort, der einst im | |
Café Connection gearbeitet und später einen eigenen Club eröffnet hat, das | |
Mutschmann’s, bekannt für seine Fetischpartys. | |
Manche Details auf diesem Friedhof werden erst auf den zweiten Blick | |
ersichtlich. „Gunter Trube. Geb. Puttrich-Reignard“, gestorben 2008 – | |
undenkbar wäre eine solche Grabplatte vor Einführung der eingetragenen | |
Lebenspartnerschaft gewesen, die auch das Recht einschließt, den Nachnamen | |
des Partners anzunehmen. Gunter Puttrich-Reignard war ein gehörloser | |
Künstler, der als Barkeeper der legendären Bar Kumpelnest 3000 einige | |
Bekanntheit erlangt hatte; als er mit Tom Trube eine eingetragene | |
Lebenspartnerschaft einging, nahm er dessen Nachnamen an. Weitere | |
Szeneprominenz liegt hier, Hans Scherer etwa, FAZ-Journalist und Autor des | |
Romans „Remeurs Sünden“. Andreas Meyer-Hanno, Opernregisseur und | |
Schwulenaktivist, Begründer der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung, die sich für | |
die Emanzipation von LGBTI* einsetzt, und Reinhard von der Marwitz, | |
Mitbegründer des Albino-Verlags und Mitbetreiber des Cafés Anderes Ufer. | |
Der Alte St.-Matthäus-Kirchhof ist zum Gedenkort der Szene geworden, er ist | |
so etwas wie der Schlussstein in diesem fast dörflichen Ensemble in | |
Berlin-Schöneberg, aber man kann dort auch sehen, wie eine | |
Emanzipationsbewegung nicht nur den Blick auf ihr Leben verändert, sondern | |
weit in die Gesellschaft hineingewirkt hat. Das deutsche Friedhofsrecht war | |
lange Zeit kein Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit, Form und Fassung | |
von Grabsteinen waren fest gefügt, Individualismus war kaum möglich oder | |
gar nicht erst erwünscht. Die Homosexuellen hatten in der Aidskrise | |
begonnen, dieses alte Friedhofsrecht zu dehnen –in Schöneberg kann man es | |
betrachten –, dann zu überdehnen und schließlich zu sprengen. Heute sind | |
alternative Bestattungsformen – Friedwälder zum Beispiel – vielerorts zur | |
Selbstverständlichkeit geworden. | |
An der Mauer, die den Friedhof zur S-Bahn hin abgrenzt, liegt die | |
Grabstelle des Denk mal PositHIV e. V. Auf der linken Seite sind die Namen | |
derer aufgelistet, die hier mit Urne begraben liegen, auf der rechten Seite | |
wird Jesus zitiert: „Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel | |
aufgeschrieben sind.“ | |
Dieser Ort – entstanden im Kontext der ökumenischen Aids-Initiative KIRCHE | |
positHIV und ausdrücklich offen für Menschen unterschiedlicher Religiosität | |
und Weltanschauungen – ist all denen gewidmet, „die mit HIV gelebt haben | |
und an den Folgen von Aids gestorben sind. […] Im Gedenken an diese | |
einzelnen Menschen erinnern wir uns der vielen Männer und Frauen, die […] | |
auch noch über den Tod hinaus von der Tabuisierung der Krankheit betroffen | |
sind“, so beschreibt Denk mal PositHIV sein Anliegen. | |
Die Idee, eine gemeinschaftliche Grabstätte für an den Folgen von Aids | |
verstorbene Menschen zu schaffen, kommt ursprünglich aus Hamburg. Der | |
dortige Verein Memento hatte bereits 1995 eine Grabstelle auf dem Friedhof | |
Ohlsdorf erworben. In Berlin fand die erste Beerdigung dieser Art erst im | |
Jahr 2003 statt. Das Projekt, der gute christliche, ökumenische Wille – | |
das alles hat etwas Versöhnliches. Und der St.-Matthäus-Kirchhof, ein Ort | |
irgendwo zwischen Leben und Tod, wurde längst zu einer informellen | |
Touristenattraktion. Ein Friedhof, zu dem man gerne geht – das ist in | |
bestem Sinne schwul. | |
8 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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