| # taz.de -- Insiderin über NRW-Flüchtlingszentrum: „Wie im Gefängnis“ | |
| > Keine Hilfe für Traumatisierte und Durchsuchungen in der Nacht. Eine | |
| > ehemalige Asylverfahrensberaterin spricht über die Zustände in einem | |
| > Flüchtlingszentrum. | |
| Bild: Die Unterkunft in Oerlinghausen | |
| Svenja Haberecht arbeitete gut zwei Jahre lang als Asylverfahrensberaterin | |
| für geflüchtete Menschen in der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) | |
| in Oerlinghausen, einem der fünf „Ausreisezentren“ in Nordrhein-Westfalen. | |
| Anfang März waren dort 348 Geflüchtete aus dem Westbalkan sowie aus | |
| Georgien, Somalia, Indien und Pakistan untergebracht, davon 200 mit | |
| „geringer Bleibeperspektive“ sowie 120 Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre. | |
| Haberecht war bei der „Flüchtlingshilfe Lippe e. V.“ im Rahmen einer | |
| landesgeförderten Stelle beschäftigt. Anfang Januar wurde der 35-Jährigen | |
| die weitere Mitarbeit untersagt, weil sie Missstände in der ZUE öffentlich | |
| kritisiert hatte. Einer weiteren Mitarbeiterin wurde ebenfalls die | |
| Fortführung der Arbeit untersagt. Der Verein entschied sich daraufhin, die | |
| Arbeit in der ZUE zu beenden. | |
| taz: Frau Haberecht, warum wurde Ihnen die Weiterarbeit untersagt? | |
| Svenja Haberecht: Ich durfte in der ZUE Oerlinghausen sowie in allen | |
| Landeseinrichtungen nicht weiterarbeiten aufgrund des Vorwurfs der | |
| „Illoyalität“ gegenüber der Landesregierung. Dabei bin ich nicht beim Land | |
| angestellt; vielmehr habe ich den Auftrag, meine KlientInnen zu beraten und | |
| ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Über Monate hatten meine KollegInnen und | |
| ich Beschwerden über Missstände weitergeleitet. Anstelle von Lösungen wurde | |
| die Unterbringungssituation jedoch immer restriktiver. Daher meine Kritik, | |
| die Einrichtung würde mehr und mehr einen Gefängnischarakter annehmen. | |
| Worüber haben sich die Geflüchteten beschwert? | |
| Über die medizinische Versorgung, die Versorgung mit Essen und Kleidung, | |
| die hygienischen Verhältnisse. Als die BewohnerInnen erfuhren, dass wir | |
| aufhören werden, dort zu arbeiten, stellten sie eine Petition an das Land, | |
| in der sie die vielen ungelösten Beschwerden in 11 Forderungen | |
| formulierten: Die Flüchtlingshilfe Lippe soll bleiben, die Ärzte sollen | |
| gehen, keine Abschiebungen aus der Einrichtung, keine ständige | |
| Polizeipräsenz, Zugang zu Schulen für Kinder, Arbeitserlaubnis nach drei | |
| Monaten, psychologische Versorgung, besseren Zugang zu Ärzten, Zuweisungen | |
| nach maximal sechs Monaten, gesundes Essen und saubere Räume, maximal vier | |
| Personen auf einem Zimmer. | |
| Besucher sind zum Beispiel in der ZUE nicht erlaubt. Die Bewohner können | |
| sie nur draußen, außerhalb der ZUE treffen. Sie fühlten sich „wie im | |
| Gefängnis“ sagten sie uns. Nachts leuchte Flutlicht auf dem Terrain und es | |
| gebe Videoüberwachung. Tagsüber patrouillierten Polizeiwagen über das | |
| Gelände. Dazu kämen Kontrollen. „Sicherheitskräfte“ und ZUE-Mitarbeiter | |
| untersuchten zwei Mal täglich die Zimmer. | |
| Wie sind die Asylbewerber untergebracht? | |
| Die ZUE war früher eine Suchtklinik für 120 PatientInnen, die Menschen | |
| leben zu bis zu zehn Personen in den ehemaligen Krankenzimmern. Viele | |
| sagten, es sei zu eng, sie hätten keinerlei Privatsphäre. Sie haben auch | |
| über „extrem dreckige“ Sanitärräume berichtet. Kranke und Eltern mit | |
| kleinen Kindern hätten Angst vor einer Infizierung, wenn sie die Räume | |
| benutzen. Einige haben mir Fotos von den Toiletten gezeigt: wirklich sehr | |
| schmutzig. | |
| Alle klagten, es gebe zu wenige Angebote für die langen „Freizeiten“. Die | |
| sind für sie ja eigentlich zermürbende Wartezeit. Viele haben sich darüber | |
| aufgeregt, dass es in der ganzen Einrichtung nur einen einzigen | |
| Fernsehapparat gebe. Mit dem immer selben Programm. Sie könnten kein | |
| Programm auswählen. Im Winter fehlten auch manchen warme Kleidung. Die muss | |
| der Träger der ZUE, das Deutsche Rote Kreuz, beschaffen. In den ZUEs gilt | |
| ja das „Sachleistungsprinzip“. | |
| Haben Sie die Beschwerden der BewohnerInnen überprüft? | |
| Nein, das konnte ich nicht. Ich durfte mich in der Einrichtung nicht frei | |
| bewegen, nicht herumlaufen. Das habe ich sogar schriftlich. Laut einer | |
| Anweisung der Bezirksregierung Arnsberg darf ich nicht „aufsuchend“ | |
| beraten. Arnsberg ist für die Aufsicht sämtlicher ZUE in NRW zuständig. | |
| Der Träger, das DRK, hat in vielen Fällen entweder verzögert oder gar nicht | |
| auf unsere Meldungen reagiert. Auch die ausführende Behörde, die | |
| Bezirksregierung Detmold, ließ viele Beschwerden über lange Zeit ungelöst. | |
| Viele Beschwerden zogen sich so lange hin, bis die Personen verlegt oder | |
| abgeschoben wurden. | |
| Wie ergeht es den Kindern in der ZUE Oerlinghausen? | |
| Sie leiden unter zu wenig Beschäftigung und unter der Grundstimmung im | |
| Lager. Die ist von Angst und Frustration geprägt. Besonders stressig sind | |
| für die Kinder, aber auch für psychisch labile Personen, die nächtlichen | |
| Abschiebungen. Dann suchen Polizisten die Zimmer nach verstecken Personen | |
| ab. Das beschreiben vor allem psychisch Kranke und Eltern kleiner Kinder | |
| als unerträglich. Davon waren sehr, sehr viele extrem belastet. | |
| Sie waren Verfahrensberaterin. Konnten Sie den Asylbewerbern helfen? | |
| Das war sehr unbefriedigend. Häufig waren die Menschen von der Bürokratie, | |
| vom Verfahren, von Mitteilungen, Terminen und den verschiedensten | |
| notwendigen Dokumenten überfordert. Die mangelnde Kommunikation und | |
| Transparenz gegenüber den BewohnerInnen, aber auch gegenüber meinem Team, | |
| hat die Arbeit sehr schwer gemacht. | |
| Wegen der vielen Missstände bei der medizinischen Versorgung wurden | |
| körperliche und psychische Leiden nicht ausreichend dokumentiert und | |
| behandelt. So konnten sie dann im Asylverfahren nicht berücksichtigt zu | |
| werden. Dies hat die Verfahrensberatung vor extreme Hürden gestellt. Wir | |
| waren nahezu arbeitsunfähig. Das Recht der Betroffenen auf „die | |
| Berücksichtigung des besonderen Schutzbedarfs vulnerabler Personen“ konnten | |
| wir unter diesen Umständen häufig nicht gewährleisten. | |
| Sie haben die medizinische Versorgung in der ZUE als „besonders | |
| katastrophal“ bezeichnet – warum? | |
| Die BewohnerInnen berichteten in unserer Beratung immer wieder über | |
| mangelnde Versorgung durch die Krankenstation. Vorgetragene Leiden würden | |
| nicht ernst genommen und es gebe große Probleme bei der Verständigung, da | |
| es grundsätzlich an DolmetscherInnen fehlte. Trotz vorliegender Atteste | |
| würden Patienten nicht an Fachärzte überwiesen. Auffällig war, dass sich | |
| viele BewohnerInnen mit teilweise schweren psychischen Leiden beschwerten, | |
| der Arzt würde keine psychologisch-psychiatrischer Behandlung in Betracht | |
| ziehen. Stattdessen habe er geraten, viel Wasser zu trinken und Sport zu | |
| treiben. | |
| Eine Klientin etwa legte ein psychologisches Attest vor, wonach sie wegen | |
| Suizidalität dringend eine psychiatrische Abklärung bedürfe. Als | |
| Rückmeldung fand sie einen Aufkleber auf dem Attest: „Abwarten bis | |
| Asylgenehmigung“. Ein anderer, schwer traumatisierter Bewohner wurde drei | |
| Mal innerhalb weniger Monate wegen Selbstgefährdung notfallmäßig in die | |
| Psychiatrie gebracht. Die verordnete psychologische Anschlussbehandlung | |
| bekam er nicht. Unfassbar. Auch hat die zuständige Bezirksregierung | |
| Arnsberg auf unsere Anträge auf „Sonderzuweisungen aus gesundheitlichen | |
| Gründen“, zum Beispiel in eine Kommune, monatelang nicht reagiert – obwohl | |
| externe FachärztInnen die Unterbringung im Lager als „genesungsbehindernd“ | |
| attestiert hatten. | |
| Was schließen sie aus dieser Art menschenunwürdigen Umgangs mit | |
| Asylbewerbern? | |
| Ich hatte zunehmend den Eindruck, dass der Stand des Asylverfahrens bei den | |
| verantwortlichen Stellen eine größere Rolle spielt als eine mögliche | |
| Gesundheitsgefährdung. Das waren ja keine Einzelfälle. Bei der | |
| Krankenstation scheint der Asylstatus beziehungsweise die Herkunft aus | |
| einem „sicheren“ Land für eine Überweisung zu Fachärzten entscheidend zu | |
| sein. Die Bezirksregierung Arnsberg unternimmt auch bei attestierter | |
| Gesundheitsgefährdung in Sammelunterkünften bei Menschen aus sicheren | |
| Herkunftsländern meist keine Zuweisung. | |
| Bereits Mitte 2017 habe ich der Bezirksregierung eine Liste von 40 | |
| „besonders vulnerablen“ Personen vorgelegt, etwa Traumatisierte, die Folter | |
| und schwere Misshandlungen erlebt haben, die seit Jahren auf der Flucht | |
| waren, schwer psychisch Beeinträchtige, Schwerkranke, Dialysepatienten, | |
| Krebskranke, Menschen mit Behinderungen und Alleinerziehende mit | |
| minderjährigen „auffälligen Kindern“. Ohne jede Reaktion. Meiner Meinung | |
| nach ist das unterlassene Hilfeleistung. | |
| Laut Gesetz hat aber jeder Flüchtling das Recht auf eine faire | |
| Einzelfallprüfung? | |
| Dieses Recht wird durch die neuen Schnellverfahren unterhöhlt. Zum Beispiel | |
| kamen viele Geflüchtete bereits mit einem negativen Asylbescheid in meine | |
| Beratung. Viele hatten ihre Asylgründe in der Anhörung im Schnellverfahren | |
| nicht ausreichend darlegen können. Weil sie traumatisiert waren oder | |
| Dokumente fehlten. Jetzt wollten sie eine gerichtliche Prüfung der | |
| Entscheidung. Sie baten um einen Anwalt. Und dann beginnt ein Hürdenlauf. | |
| Ich glaube nicht, dass sich daran in der Zwischenzeit etwas geändert hat. | |
| Die meisten AnwältInnen nehmen eine Anzahlung von 200 Euro und mehr. Das | |
| bedeutet, dass die Betroffenen bei einem wöchentlichen Taschengeld von rund | |
| 30 Euro acht Wochen lang sparen müssen. Danach warten sie oft mehrere | |
| Monate auf einen Anwaltstermin. Dabei läuft die Klagefrist gegen ihren | |
| Asylentscheid schon in ein beziehungsweise zwei Wochen ab. Und selbst wenn | |
| das Kunststück gelingt, rechtzeitig einen Termin zu ergattern, müssen sie | |
| einen Dolmetscher und das Geld für die Fahrt zum Anwalt organisieren. Im | |
| Ergebnis beschneidet so ein Schnellverfahren die Rechte der Geflüchteten | |
| quasi systematisch. | |
| Theoretisch müsste bereits bei der Ankunft in Deutschland ein | |
| provisorischer Termin in einer Kanzlei gemacht werden. Individuelle | |
| „asylrelevante“ Gründe für eine Flucht, gerade auch für Menschen mit | |
| „geringer Bleibeperspektive“, wie zum Beispiel eine Bedrohung durch | |
| Blutrache, kriminelle Banden oder häusliche Gewalt, werden einfach | |
| ausgeblendet, wenn sie aus einem als „sicher“ eingestuften Herkunftsland | |
| kommen. | |
| Wie reagierte denn die einheimische Bevölkerung auf diese Zustände in der | |
| ZUE? | |
| Meiner Ansicht nach hat die fehlende Kommunikation zwischen der | |
| Betreiberorganisation und der Bevölkerung dazu geführt, dass die Menschen, | |
| die in der Umgebung der ZUE wohnen, praktisch nichts über die Situation der | |
| Geflüchteten in der ZUE wissen. Viel zu wenig von dem Leben der Menschen | |
| hinter dem Zaun dringt an die Öffentlichkeit. In den letzten Wochen hat | |
| sich eine ehrenamtliche Gruppe aus Detmold engagiert dafür eingesetzt, | |
| Zugang zu den BewohnerInnen zu bekommen. Dies wurde von den Geflüchteten | |
| sehr positiv aufgenommen. Es wäre wünschenswert, wenn sich zukünftig mehr | |
| Menschen zusammenfinden würden, die in Austausch mit den BewohnerInnen | |
| kommen und sie somit aus der Isolation holen. | |
| Ich wollte meinen Job verantwortungsvoll erfüllen. Der wird als „von | |
| staatlichen Instanzen unabhängiges, spezialisiertes Arbeitsgebiet der | |
| Flüchtlingsarbeit“ definiert. „Öffentlichkeitsarbeit“ gehört ausdrück… | |
| dazu. Aber ich hatte am Ende das Gefühl, bloß eine Fassade | |
| aufrechtzuerhalten. Ich sehe es als moralische Verantwortung, Missstände | |
| nach außen dringen zu lassen, weil ich nicht möchte, dass mal jemand sagt: | |
| „Wir haben nicht gewusst, was hinter diesen Zäunen geschieht.“ | |
| 7 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Birgit Morgenrath | |
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