# taz.de -- Brasiliens Ex-Präsident: Der Mythos Lula | |
> Nach einer Justizfarce sitzt Brasiliens Expräsident Lula da Silva im | |
> Gefängnis. Seine Arbeiterpartei PT schwankt zwischen Trotz und | |
> Ratlosigkeit. | |
Bild: Selbst nach seiner Inhaftierung führt Brasiliens Expräsident Lula da Si… | |
Es ist Sonntagmittag in São Paulo, im Mittelschichtsbezirk Pinheiros hat | |
die Arbeiterpartei PT zur Bestandsaufnahme geladen, anschließend werden | |
Rindfleisch und Bier serviert, daneben Buttons und T-Shirts mit der | |
Aufschrift „Freiheit für Lula“. Vor einem Monat hatte sich Brasiliens | |
Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva nach einer Inszenierung inmitten | |
seiner treuesten Anhänger*innen aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen | |
der Bundespolizei gestellt, um seine Haftstrafe wegen Bestechlichkeit | |
anzutreten. Nun dreht sich alles um die Frage: Wie weiter? | |
Zunächst gelte es, ein breites Wahlbündnis für die Präsidentschafts- und | |
Parlamentswahlen im Oktober zu schmieden, meint der Politologe André | |
Singer, bis 2006 Lulas Pressesprecher und einer der klügsten Kenner seiner | |
Partei. Selbst nach Lulas Inhaftierung im südbrasilianischen Curitiba – | |
Besuche von Freunden blieben ihm lange verwehrt, ab und zu wird ein Brief | |
öffentlich – führt Lula in allen Umfragen deutlich. | |
Im Juli will die PT seine Kandidatur anmelden, obwohl dann eine | |
Annullierung durch das oberste Wahlgericht droht. Nach dem | |
parlamentarischen Putsch, der 2016 seine gewählte Nachfolgerin Dilma | |
Rousseff zu Fall gebracht hatte, stehen die Betreiber der beispiellosen | |
Hexenjagd auf den 72-jährigen Volkstribun in Medien und Justiz kurz vor | |
ihrem Ziel: einen möglichen fünften sozialdemokratischen Wahlsieg in Folge | |
zu verhindern. | |
## Dramatischer Rollback | |
„Gegen die Zerstörung wohlfahrtsstaatlicher Ansätze müssen wir uns | |
zusammentun“, sagt Singer und nennt einige Aspekte des dramatischen | |
Rollbacks, die der illegitime und ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen | |
konfrontierte Übergangspräsident Michel Temer durchgesetzt hat: eine | |
Deckelung der Gesundheits- und Bildungsausgaben über 20 Jahre, den Abbau | |
von Arbeiterrechten, die katastrophale Menschenrechtslage. | |
Kein Wunder, dass Temers Popularität im einstelligen Bereich verharrt, doch | |
Massenproteste bleiben bislang aus. In seiner Abschiedsrede als freier Mann | |
hatte Lula zwei junge Nachwuchspolitiker als mögliche Erben genannt: | |
Guilherme Boulos, 35, von der Partei für Sozialismus und Freiheit, und die | |
Kommunistin Manuela d’Ávila, 36. Beide waren in den letzten Monaten | |
demonstrativ zusammen mit ihm „für die Verteidigung der Demokratie“ | |
aufgetreten. Doch bei Wahlen ohne Lula wären sie wohl ebenso chancenlos wie | |
mögliche PT-Kandidaten. | |
Hingegen liegt seit Monaten der Rechtsextremist Jair Bolsonaro auf Platz | |
zwei der Umfragen. Auch wenn der Folterfreund und Waffenfetischist in einer | |
Stichwahl untergehen dürfte, zeugt seine Popularität von einer vor fünf | |
Jahren noch undenkbaren Verrohung der Umgangsformen. Brasilien ist nicht | |
nur sozial, sondern auch politisch gespalten – ähnlich wie zuletzt 1964, | |
als eine linksreformerische Regierung mit Rückendeckung Washingtons | |
gestürzt und eine zivil-militärische Diktatur installiert wurde, die 21 | |
Jahre dauern sollte. | |
Wie ist der tiefe Fall Lulas zu erklären, des charismatischen Politikers | |
aus einfachsten Verhältnissen, der das Kunststück fertig gebracht hatte, | |
über 30 Millionen Landsleute aus der Armut zu verhelfen und 2010 mit einer | |
86-prozentigen Zustimmungsrate aus dem Amt zu scheiden? | |
## Langer Marsch in die Mitte | |
1995, nach zwei verlorenen Präsidentschaftswahlen, begann Lulas langer | |
Marsch in die Mitte. Da die Arbeiterpartei PT selbst zu ihren besten Zeiten | |
nie über landesweit 20 Prozent der Stimmen hinauskam, sah er seine Chance | |
in einem Bündnis mit Teilen des Bürgertums: 2002 gelobte er | |
fiskalpolitische Orthodoxie und gewann die Wahl mit einem liberalen | |
Unternehmer als Vize. | |
Tatsächlich setzte sein Finanzminister den Sparkurs seiner Vorgänger fort. | |
Auch sonst blieb vieles beim Alten: Hatte Lula im Wahlkampf noch ein | |
„anständiges Brasilien“ und eine politische Reform versprochen, wäre er | |
schon 2005 beinahe über den Korruptionsskandal „Mensalão“ (Monatsbatzen) | |
gestolpert – durch ein ausgeklügeltes System wurden die Stimmen rechter | |
Kongressabgeordneter gekauft. | |
Lula selbst konnte nichts nachgewiesen werden, einiger seiner Vertrauten | |
jedoch landeten Jahre später im Gefängnis. Die PT hatte ihre Unschuld | |
endgültig verloren. Das Geschacher um Posten und Geld ging weiter, ebenso | |
die teuren Wahlkämpfe, die nur durch Millionenspenden aufrechtzuerhalten | |
waren. Entsprechend sieht das Parlament aus: Reaktionäre Geschäftsleute aus | |
Agrobusiness, evangelikalen Pfingstkirchen und der Waffenlobby machen | |
Gesetze in eigener Sache. | |
## Volle Kassen, Mindestlohn und Sozialprogramme | |
Dank eines langen Rohstoffbooms mit enormer Nachfrage aus China profitierte | |
Lula von vollen Kassen, erhöhte den Mindestlohn und setzte umfangreiche | |
Sozialprogramme um. Strukturreformen, für die er sich mit den Reichen hätte | |
anlegen müssen, etwa eine Land- oder eine Steuerreform, versuchte er nicht | |
einmal. Statt auf Mobilisierung von unten setzte er auf einen trügerischen | |
Pakt mit den Mächtigen. Einmal brüstete er sich, noch nie hätten die Banken | |
so viel profitiert wie unter seiner Regierung, Arme hingegen seien sehr | |
pflegeleicht. | |
Wie alle anderen Parteien des Establishments füllte die PT ihre schwarzen | |
Wahlkampfkassen mit Millionenspenden von Bau- oder Agrarmultis; auch bei | |
Großprojekten wie der Fußball-WM 2014 und der Sommer-Olympiade 2016 gehörte | |
Bestechung zum System. Gleichzeitig mussten Zehntausende Einwohner | |
Staudämmen oder Fußballstadien weichen. Für den Economist und andere | |
Medien, die jetzt das Korruptionsnarrativ des Medien-Konzerns Globo | |
übernommen haben, war Lula damals Held eines sozialen Kapitalismus, der gar | |
eine neue Mittelschicht hervorgebracht habe. | |
Dass Lula oder auch Dilma Rousseff, die an einer Rezession und ihrem | |
politischen Ungeschick scheiterte, nichts von den Schmiergeldern des | |
Baumultis Odebrecht an Manager des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras | |
gewusst haben sollen, glaubt in Brasilien kein Mensch. Korruption ist seit | |
der Kolonialzeit in das politische System eingeschrieben, doch | |
offensichtlich messen viele Richter und Staatsanwälte mit zweierlei Maß. | |
## 12 Jahre Haft für Lula | |
So trägt Lulas Verurteilung zu zwölf Jahren Haft wegen der Renovierung | |
einer angeblich für ihn reservierten Hochhauswohnung mit Meeresblick Züge | |
einer Justizfarce, denn als „Beweise“ müssen Aussagen eines Kronzeugen | |
herhalten. | |
Nicht nur Exjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) teilt „die | |
Befürchtung, dass ein erheblicher Teil der brasilianischen Justiz sich als | |
langer Arm der herrschenden Geld- und Machtelite Brasiliens begreift und | |
unter missbräuchlicher Berufung auf richterliche Unabhängigkeit die in der | |
Verfassung Brasiliens verankerten Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit | |
opfert“. Warum beharrt Brasiliens Establishment auf seiner reaktionären | |
Rechtswende, die die bescheidenen Fortschritte der 14-jährigen PT-Ära | |
zunichtemacht? Wieso der Klassenhass auf Lula? | |
Teile der Mittelschicht hatten sich bereits nach dem Skandal 2005 von der | |
PT abgewendet, doch die Korruption wurde bis jetzt nicht aufgearbeitet. | |
Viele Angehörige einer „Elite“, in der die Sklavenhaltermentalität noch | |
lebendig ist und für die Lula immer der Emporkömmling ohne Uniabschluss | |
blieb, empfinden die Präsenz von Schwarzen an Hochschulen und in | |
Einkaufszentren als Zumutung. In der Wirtschaftskrise fürchteten sie um | |
ihre Privilegien. | |
Der lang gehegte Mythos der brasilianischen „Rassendemokratie“ ist | |
zerbrochen. Die Hinrichtung der schwarzen, linken und lesbischen Stadträtin | |
Marielle Franco in Rio de Janeiro im März, – bis jetzt nicht aufgeklärt –, | |
erscheint da wie ein Fanal. Wie auch die Morde an afrobrasilianischen | |
Jugendlichen in den Armenvierteln und an engagierten Aktivist*innen im | |
Hinterland, jene alltägliche „Barbarei“, an die ein Redner auf der | |
Versammlung in São Paulo erinnerte. | |
Auch wenn in Hinterzimmern schon an Alternativszenarien für ein | |
Mitte-links-Bündnis getüftelt wird – in Curitiba demonstrierte die | |
Arbeiterpartei am 1. Mai Einigkeit und hält an der Maxime fest: Nur Lula | |
kann es richten! Und auf einem Hearing der Linksfraktion im Europaparlament | |
trat sein früherer Chefdiplomat Celso Amorim auf, der im letzten Jahrzehnt | |
Brasiliens selbstbewusste Außenpolitik anführte. Nun wirbt der 75-Jährige | |
für internationale Solidarität: „Lula ist unschuldig, Lula muss | |
freikommen!“ | |
11 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
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