# taz.de -- Debatte Kulturelle Grundwerte: Die Scheinfreiheit der Bibel | |
> Konservative betonen gern die christlichen Wurzeln. Dabei hat sich unsere | |
> Gesellschaft stark in Abgrenzung zum Christentum definiert. | |
Bild: Einer, der sich nur allzu gerne auf christliche Werte beruft: Ministerpr�… | |
Wissen Sie, was christliche Werte sind? Können Sie welche aufzählen? Mit | |
solchen Fragen kann man Politiker, die sich gerne in Sonntagsreden plakativ | |
auf selbige berufen, leicht ins Schleudern bringen. Meistens hört man dann | |
von Toleranz, von Menschenrechten, Demokratie und der Freiheit des | |
Einzelnen. | |
In der Tat sind dies wichtige Werte unserer Gesellschaft. Aber sind sie | |
wirklich christlichen Ursprungs? Oder sind es nicht vielmehr Werte der | |
Aufklärung, die, in Gegnerschaft zum Christentum, erst erstritten werden | |
mussten? Beruhen die Grundwerte unserer Gesellschaft tatsächlich irgendwie | |
auf religiösen Fundamenten, wie so oft behauptet wird, gerade wenn | |
beabsichtigt wird, sich gegen den Islam abzugrenzen? | |
Nehmen wir zum Beispiel die „Toleranz“, die man vielleicht als | |
grundlegenden Wert bezeichnen kann, weil ohne sie eigentlich keine | |
freiheitliche Gesellschaft denkbar ist. Jeder und jede ist anders und darf | |
dies auch sein. Aber ist „Toleranz“ ein christlicher Wert? Sicher nicht, | |
denn das Christentum ist fast über die gesamte Zeit seines Bestehens mit | |
dem Gegenteil, nämlich der Intoleranz eines absoluten Wahrheitsanspruchs, | |
aufgetreten. | |
Es gab nur die eine christliche Wahrheit, und diese galt es anzuerkennen. | |
Der Weg zum „Heil“ war klar vorgegeben, und nur die Gläubigen konnten der | |
Hölle entgehen. Das Nichtchristliche war ein Vergehen, gegen das Staat und | |
Kirche gemeinsam vorgingen. | |
Aufruf zur Verfolgung | |
Besonders die Juden haben unter der Intoleranz eines rechthaberischen | |
Christentums immer übel leiden müssen. Noch im 20. Jahrhundert galt | |
Toleranz in kirchlichen Kreisen als höchst anrüchige Haltung, und besonders | |
die katholische Kirche sah in ihr noch bis zum zweiten Vatikanischen Konzil | |
in den 1960er Jahren eine Anfechtung des Teufels. | |
Ohne den Grundwert der Toleranz können jedoch auch die Menschenrechte | |
insgesamt keine sichere Grundlage haben. „Die Würde des Menschen ist | |
unantastbar“, formuliert unser Grundgesetz an prominenter Stelle. Dem | |
stimmen moderne Christen zwar gerne zu und meinen ähnliche Sätze bereits in | |
der Bibel zu finden. Doch wo andere Menschen schon allein wegen ihres | |
Glaubens verfolgt werden sollen, wozu nicht nur der Koran, sondern leider | |
auch die Bibel an viel zu vielen Stellen aufruft, ist das Wort | |
„Menschenwürde“ noch nicht einmal als theoretischer Anspruch, geschweige | |
denn als Wirklichkeit wahrnehmbar. | |
Ein wirklicher Freiheitsbegriff konnte so lange nicht aufkommen, wie die | |
(christliche) Religion das gesellschaftliche Leben bestimmte. Denn zur | |
Freiheit, also auch zur Meinungsfreiheit, gehört auch immer dazu, seine | |
Meinung frei sagen zu können, also ohne negative Konsequenzen fürchten zu | |
müssen. Die christliche Dogmatik aber kennt zwar die Möglichkeit einer | |
Entscheidung gegen Gott, doch wer diese wirklich ergreift, fällt dem | |
göttlichen Gericht anheim. | |
Die römisch-katholische Dogmatik sieht sogar heute noch für all diejenigen, | |
die den Katholizismus kennen gelernt haben, aber sich dennoch nicht zu ihm | |
bekennen – was unter anderem auf alle Protestanten zutrifft –, nicht | |
weniger als die ewige Folter in der Hölle vor. „Christliche Freiheit“ | |
reicht eben nur so weit, bis man sich „falsch“ entschieden hat. | |
Toleranz und Freiheit mussten erkämpft werden | |
Christliche Freiheit ist nur eine kastrierte, eine Scheinfreiheit und damit | |
letztlich nur ein anderer Begriff für Unfreiheit. Der Freiheitsbegriff | |
einer modernen Gesellschaft, nämlich bürgerliche Freiheit, ist dagegen viel | |
höher anzusetzen. Bürgerliche Freiheit beinhaltet nicht zuletzt auch | |
Religionsfreiheit und auch die Freiheit des Einzelnen, ganz ohne Religion | |
zu leben. | |
Sich modern verstehende Christen verwechseln gerne bürgerliche und | |
christliche Freiheit. Und sie versuchen ebenso gerne, [1][so wie es der | |
bayerische Ministerpräsident Markus Söder gerade vorexerziert], moderne | |
säkulare Werte quasi „christlich zu taufen“. | |
Doch Toleranz und Freiheit sind eben nicht organisch aus dem Christentum | |
erwachsen, sondern mussten geradezu in Gegnerschaft zum Christentum | |
verwirklicht werden. Religiöse Rechthaberei und Bevormundung mussten erst | |
aus Staat und Rechtsprechung verschwinden, damit Raum für wirkliche | |
Gewissensfreiheit und einen Begriff von Menschenwürde geschaffen wurde, der | |
diesen Namen wirklich verdient. | |
Aus den Köpfen der Menschen musste erst das religiös-hierarchische Denken | |
in den Kategorien „Obrigkeit und Untertanen“ verschwinden, damit die | |
Pflanze der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit gedeihen konnte. | |
Obrigkeit und Untertanen | |
Für das Christentum war es über Jahrhunderte eine ausgemachte Sache, dass | |
Gott „Obrigkeiten und Untertanen“, Herren und Sklaven selbst gewollt und | |
geschaffen hat, und es mithin eine Sünde sei, sich gegen die Obrigkeit | |
aufzulehnen. Hatte nicht schon der Apostel Paulus den Gläubigen im | |
Römerbrief eingeschärft: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit … Denn es | |
ist keine Obrigkeit ohne von Gott.“ Es waren solche fatale religiösen | |
„Wahrheiten“, die die Entwicklung einer modernen Demokratie schwer | |
behindert haben. | |
Ähnlich verhält es sich mit der Gleichberechtigung der Frau, der sexuellen | |
Selbstbestimmung, sowie der Forderung nach einem weltanschaulich neutralen | |
Staat. Auch hier waren Kirchen, Bibel und Christentum alles andere als die | |
gesellschaftlichen Speerspitzen einer Befreiung. Befreiung findet und fand | |
nicht mit, sondern meist gegen die Religionen statt. Moderne Werte nimmt | |
man nicht aus alten Schriften. | |
Und wenn Markus Söder nun medienwirksam meint, ausgerechnet das Kreuz | |
gehöre „zu den Grundfesten des Staates“, also zu unserer demokratischen | |
Republik, dann ist dies entweder reiner Populismus oder eine für einen | |
Ministerpräsidenten bemerkenswerte kulturelle Unbedarftheit. | |
6 May 2018 | |
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## AUTOREN | |
Heinz-Werner Kubitza | |
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