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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Zum Leben nicht genug
> Krankenhausmitarbeiter bringen sich um, doch Macron will den öffentlichen
> Dienst weiter reformieren. Es geht um das Recht auf Daseinsfürsorge.
Bild: Auch die Eisenbahner streiken gegen die Reformen Macrons
Es ist ein ritualisierter Kampf zwischen zwei ungleichen Gegnern: Stets
beginnt er damit, dass die Regierung im Namen der Modernisierung die
Daseinsvorsorge beschneiden will. Als dieses System nach dem Krieg
aufgebaut wurde, dachte man noch, es sei erst der Beginn künftiger
Errungenschaften: Sozial- und Rentenversicherung, Beamtenstatus,
Staatsbetriebe, in denen die Angestellten nicht länger der Willkür des
Arbeitsmarkts ausgeliefert sind.
Als Nächstes üben sich die Kommentatoren darin, die Reform pädagogisch zu
vermitteln. Die Liberalisierung sei notwendig und daher unvermeidlich (oder
umgekehrt); sie zeuge vom „politischen Mut“ der Exekutive, die das
Parlament umgehen will, und sei obendrein „gerecht“, weil sie die
„Privilegien“ derer beseitige, die unter weniger prekären Bedingungen
arbeiten als die anderen.
Für die Gegner ist ebenfalls eine rituelle Rolle vorgesehen. Sie müssen
beweisen, dass die Privilegien in Wahrheit andere sind als von der
Regierung behauptet, dem medialen Druck widerstehen und die öffentlichen
Dienstleistungen verteidigen. Doch was gilt es überhaupt zu verteidigen? Am
12. Dezember 1995 erklärte der Soziologe Pierre Bourdieu bei einer
Solidaritätskundgebung für streikende Eisenbahner, man müsse „die
Zerstörung einer Zivilisation verhindern, die mit der Existenz öffentlicher
Dienstleistungen verbunden ist“.
Ein Vierteljahrhundert später sind die Institutionen der Daseinsvorsorge
heruntergewirtschaftet und teils völlig ruiniert. Das Ministerium für
Wirtschaft und Finanzen und die paternalistischen Technokraten haben ihre
Mission erfüllt. Von Reform zu Reform, von Privatisierung zu Privatisierung
ist der Anteil des öffentlichen Dienstes1 an der Gesamtbeschäftigung von 19
Prozent (1985) auf 5,5 Prozent (2015) gesunken.
Inzwischen sind nur noch 791.000 Beschäftigte übrig. Mitte der 1980er Jahre
produzierte der Staatssektor noch ein Viertel des Nationaleinkommens, 30
Jahre später waren es weniger als 6 Prozent.2 In den öffentlichen Betrieben
hatte der gleiche Kostendruck und die gleiche Managermentalität Einzug
gehalten wie in Privatunternehmen.
## Verteidigung des Status quo
Bei der Reform der französischen Eisenbahn (SNCF) stimmt Präsident Emmanuel
Macron die Bevölkerung gegen die Verteidigung des Bestehenden ein, weil er
weiß, dass dieses sich eigentlich nicht verteidigen lässt: Wie soll man
einen Staatsbetrieb in Schutz nehmen, wenn sich im Alltag alle darüber
beklagen, dass dort nichts funktioniert? Die öffentlichen Dienstleistungen
sind schließlich nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Die öffentlichen Krankenhäuser müssen gleichzeitig sparen und sich gegen
die private Konkurrenz zur Wehr setzen. Weil sie ihr Geld je nach
Kassenlage der Sozialversicherung erhalten, müssen sie manchmal Patienten
nach Hause schicken, die eigentlich nicht allein zurechtkommen – statt eine
bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung anzubieten.
Die Universitäten, die kritische Geister ausbilden sollen, sorgen sich nur
noch um ausgeglichene Bilanzen und richten sich am Arbeitsmarkt aus. Die
Post, die einmal umfassende Kommunikationsmöglichkeiten anbieten sollte,
ist zum Dienstleister für Amazon verkommen. France Télécom wurde
abgespalten und privatisiert und kümmert sich seitdem nicht mehr um den
Ausbau der Infrastruktur. Das Unternehmen soll nur noch Produkte verkaufen,
Teilmärkte erobern und Aktionäre zufriedenstellen.
Die längst börsennotierte Électricité de France (EDF) hat sich auf dem
internationalen Energiemarkt etabliert und kauft privatisierte
Staatsbetriebe in Großbritannien auf. Die französische Bahn konzentriert
sich ganz auf die rentablen Hochgeschwindigkeitsstrecken, vernachlässigt
die Nebenstrecken und überlässt den Gütertransport den Lkw-Spediteuren.
Die Staatsbetriebe sollen heute nicht der Gesellschaft dienen, sondern
rentable Unternehmen sein. Diese neue Zielsetzung wurde gegen den Willen
der Nutzer und gegen den Widerstand vieler Beamter und Angestellter
durchgesetzt. In den Postämtern, Schulen, Krankenhäusern und Seniorenheimen
blieben die verheerenden Folgen der Reformen lange unsichtbar, weil die –
meist weiblichen – Beschäftigten bereit waren, sich völlig zu verausgaben.
Aber wie kann man öffentliche Dienstleistungen verteidigen, wenn die
betroffenen Unternehmen ihre Mitarbeiter dazu zwingen, ihr Berufsethos zu
verraten?
Die Angestellten im öffentlichen Dienst sind überzeugt, dass sie eine
wichtige Aufgabe erfüllen, die ihnen ein großes Engagement abverlangt. Und
sie wollen ihre Arbeit auch unter allen Umständen gut machen. Sie stehen
dahinter, dass sie der Öffentlichkeit einen Dienst erweisen, und sind sich
„bewusst, dass sie Frankreichs republikanischen Geist verkörpern“.3
Diesem Idealismus wollte das moderne Management ein Ende setzen. Doch der
Preis dafür ist hoch: Bei France Télécom nahmen sich in den Jahren 2008 und
2009 [1][Dutzende Angestellte das Leben]; heute sind es Mitarbeiter der
Pariser Krankenhäuser, die Selbstmord begehen.
## In die Offensive gehen
Die öffentlichen Dienstleistungen verteidigen – dieses Motto bekommt eine
bedrohliche Doppeldeutigkeit, wenn das zuständige Ministerium alles tut, um
genau diese Dienste sowohl den Nutzern als auch denen, die sie
bereitstellen, zu verleiden. Wenn man mit Aussicht auf Erfolg für den
öffentlichen Dienst und die Daseinsvorsorge kämpfen will, dann muss man aus
dem Drehbuch des ritualisierten Kampfes aussteigen, das jede französische
Regierung seit 30 Jahren immer wieder in Szene setzt. Man muss den
Schutzraum des passiven Widerstands verlassen und in die Offensive gehen.
Arbeit, soziale Sicherheit, Bildung, Rente, Gesundheit, Freizeitgestaltung,
Transport und Verkehr, Zugang zur Energieversorgung, Infrastruktur – all
dies sind nicht nur Dienstleistungen, es sind Rechte. Von der Verfassung
oder per Gesetz geschützt, wurden sie den Bürgern von Staat und
Arbeitgebern weder aufgezwungen noch als Kirsche auf der demokratischen
Torte offeriert. Sie stehen den Menschen zu. Mit anderen Worten: Die
Gesellschaft ist verpflichtet, öffentliche Dienstleistungen
bereitzustellen, ihr Funktionieren zu sichern und sie nicht zu beschädigen.
Die bis heute gültige Präambel der französischen Verfassung von 1946 weist
den Weg: „Jedes Vermögen und jedes Unternehmen, dessen Betrieb den
Charakter eines nationalen öffentlichen Dienstes oder eines faktischen
Monopols trägt oder erhält, muss in das Eigentum der Gemeinschaft überführt
werden.“ (Artikel 9)
Zu fordern ist also die Neugründung einer hochwertigen öffentlichen
Daseinsvorsorge, die sich auf das unveräußerliche Recht der Bürger beruft,
statt die zu Tode reformierten Staatsbetriebe zu verteidigen. Damit könnte
man die Franzosen mobilisieren, darauf könnten sie sich bestimmt einigen.
Denn eine solche Forderung stützt sich auf die gemeinsamen Interessen von
Nutzern und Beschäftigten, Einwohnern großer wie kleiner Städte, Vorstädte
und Dörfer einschließlich der Überseegebiete.
## Neugründung der öffentlichen Fürsorge
Die Widerstandsbewegung hätte damit eine positive Vision, die die Menschen
mitzureißen vermag, was viele nach jahrzehntelangen Abwehrkämpfen
schmerzlich vermissen: Es geht um die Neugründung einer allgemeinen,
öffentlichen Daseinsvorsorge, die zukunftsweisend ist. Es wäre naiv, dabei
schnelle Erfolge zu erwarten, doch man kann die aktuellen Proteste gegen
Macrons Reformpläne zum Anlass nehmen, die drei grundlegenden Prinzipien
dieses Projekts hervorzuheben.
Das erste Prinzip: Die Beschäftigten müssen die nötigen Mittel bekommen, um
gute Arbeit leisten zu können. Diese Grundvoraussetzung für ihre
persönliche Entfaltung wie auch für die Qualität der von ihnen erbrachten
Dienstleistungen hat das neoliberale Management den Angestellten in
Privatunternehmen schon in den 1990er Jahren genommen.
Seit Mitte der 2000er Jahre ging es den Krankenschwestern, Lehrern,
Postlern und Eisenbahnern an den Kragen. Absurde Zielvorgaben, verkleinerte
Teams, unmögliche Anordnungen eines Managements, das keine Ahnung von den
realen Arbeitsabläufen hatte, gibt es seitdem bei Lidl ebenso wie in
Seniorenheimen.
Diese schauerliche Gemeinsamkeit zwischen öffentlichen und privaten
Arbeitgebern kann aber auch Widerstand provozieren: Wenn der Lagerarbeiter
weiß, was die Pflegekraft andernorts erlebt und mit welchen Konsequenzen
sie zu rechnen hat, wird er sich eher dafür engagieren, dass die
Gesellschaft es ihr ermöglicht, Menschen in Würde zu pflegen.
Das zweite Prinzip betrifft die einheitliche Grundversorgung des gesamten
Landes. Bei einer Neugründung des öffentlichen Diensts muss im Vordergrund
stehen, dass auch Bürger, die nicht in den Großstädten leben, eine gute
Infrastruktur und qualifizierte Beschäftigte vorfinden.
Nicht im 11. Bezirk von Paris, sondern in kleinen Städten wie Vierzon und
Saint-Étienne steht auf dem Prüfstein, ob die Daseinsvorsorge in
Gesundheit, Bildung, Verkehr, Kommunikation und Internetzugang gut und
zuverlässig funktioniert. Die unteren Gesellschaftsschichten, die meist
außerhalb der Großstädte wohnen, werden sich sowohl als Mitarbeiter wie
auch als Nutzer für solche wirklich allgemein verfügbaren Dienstleistungen
engagieren. So war es übrigens auch schon nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, als die französische Sozialversicherung gegründet wurde.
## Vorbild Krankenversicherung
Das dritte Prinzip betrifft den Status der Beschäftigten und die
Finanzierung dieser Gemeinwohlinstitutionen. Hier kommt eine andere
rituelle Gleichung ins Spiel: Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, ist
Beamter oder beim Staat angestellt. 1946 kämpften die Kommunisten, die
damals in der Regierung saßen, für den Status der Strom- und Gasarbeiter,
Bergarbeiter und Beamten.
Inzwischen ist das Band zwischen Staat und Gemeinwohl jedoch zerfasert oder
gar gerissen. Der öffentliche Dienst ist dem Wirtschafts- und
Finanzministerium unterstellt und damit in der Hand der
Marktfundamentalisten. Statt auf den großen Crash zu warten, sollte die
Opposition die Gründung von Institutionen fordern, die zwar staatlich
finanziert, aber unabhängig von diesem Ministerium sind und von Nutzern und
Beschäftigten gemeinsam verwaltet würden.
Das ist bei der allgemeinen Krankenversicherung „Sécu“ der Fall, die ihre
Mittel nicht aus Steuern erhält, sondern hauptsächlich aus
Beitragszahlungen. Die Beiträge werden nicht vom Finanzministerium
eingetrieben, sondern von Sozialkassen, die von 1946 bis 1967 von den
Beschäftigten selbst verwaltet wurden. Öffentliche Dienstleistungen, die
durch Beiträge und nicht durch Steuern finanziert werden; ein
vergesellschaftetes Vermögen, das von den Dienstleistenden selbst und nicht
von Technokraten verwaltet wird, in dem die Nutzer mitbestimmen können –
das ist eine zukunftsträchtige Idee.
Das mag utopisch klingen. Aber in der jetzigen Situation ist das Bestreben,
die Institutionen der Daseinsvorsorge neu zu gründen, nicht
unrealistischer als der Versuch, den dienstlichen Status der Eisenbahner
zu verteidigen. Das heißt nicht, dass man diesen Status aufgeben sollte.
Aber das beste Mittel zu seiner Rettung wäre seine Ausdehnung auf die
Allgemeinheit – um damit dem öffentlichen Dienst seine ursprüngliche
Bestimmung zurückzugeben, Vorreiter des Allgemeinwohls zu sein.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
20 Apr 2018
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## AUTOREN
Pierre Rimbert
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