# taz.de -- Autorin über Antisemitismus in Litauen: „Ich habe ihre Lebenslü… | |
> Rūta Vanagaitė dokumentiert in „Die Unsrigen“ das Mitwirken der Litauer | |
> an der Schoah. Der Verlag rief ihr Buch zurück, sie gilt als Verräterin. | |
Bild: 1941 waren Juden in Litauen auf der Flucht vor ihren Peinigern | |
taz: Frau Vanagaitė, Ihr jüngstes Buch „Mūsiškiai“, auf Deutsch „Die | |
Unsrigen“, berichtet über die Beteiligung der litauischen Bevölkerung am | |
Holocaust. Es ist weder auf Deutsch noch auf Englisch erschienen. Können | |
Sie den Inhalt zusammenfassen? | |
Rūta Vanagaitė: In Litauen will man gerne glauben, dass es ein paar | |
degenerierte Extremisten gab, die sich am Holocaust beteiligten. In | |
Wahrheit gab es eine Pyramide des Todes, an deren Spitze nur eine kleine | |
Gruppe von Deutschen stand. Darunter gab es die litauische Zivilregierung | |
und Bataillone von Soldaten und Freiwilligen. Das Buch stützt sich auf | |
Zehntausende Verhörprotokolle. Gemeinsam mit dem bekannten Nazijäger Efraim | |
Zuroff habe ich rund vierzig Massengräber in Litauen und weitere sieben in | |
Weißrussland besucht und dort Augenzeugen interviewt, die als Kinder sahen, | |
was passierte. | |
In Litauen gab es ja weder Konzentrationslager noch Gaskammern … | |
Nein, die etwa 200.000 Juden – fast die gesamte jüdische Bevölkerung – | |
wurden einzeln erschossen, die meisten von litauischen Freiwilligen. | |
Als die Nazis 1941 kamen, wurden sie wie Befreier begrüßt. | |
Das liegt daran, dass die Sowjets kurz davor Litauer in Massen deportiert | |
hatten. Die Sowjets wurden daher als viel größeres Übel betrachtet als die | |
Hitler-Truppen. Deswegen wurde die Wehrmacht zunächst als Befreierin | |
begrüßt. Die Litauer dachten, wenn sie kooperieren, würden sie früher oder | |
später die Unabhängigkeit bekommen. | |
Hatten die Nazis vor dem Einmarsch bereits illegale Strukturen in Litauen? | |
Unser erster Premierminister lebte in Berlin und hatte enge Beziehungen zum | |
„Dritten Reich“. Aber die Nazis stellten ihn unter Hausarrest. Er durfte | |
nach dem Einmarsch nicht nach Litauen zurück. Aber die Propaganda kam aus | |
Berlin, sie wurde dort ins Litauische übersetzt. Es war die erste Regierung | |
unter der Besatzung, die mit den Freiwilligenbataillonen die | |
Nazi-Strukturen schuf. Die Nazis bedienten sich ihrer schnell. Der erste | |
Massenmord in Europa war ein Massaker im litauischen Kaunas. Am 7. Juli, | |
nur zwei Wochen nach der Besetzung, wurden dort 5.000 Juden ermordet. | |
Lebten die Juden in Gettos? | |
Nein, in den Kleinstädten. Die Litauer waren in erster Linie Bauern, | |
während die städtische Bevölkerung bis zu 90 Prozent jüdisch war. Die | |
Zivilregierung schuf dann Gettos und siedelte die Juden dorthin um. Die | |
Initiative dafür kam natürlich von den Deutschen, aber die Ausführenden | |
waren Litauer. Als die Deutschen kamen, planten sie den Blitzkrieg gegen | |
Russland. Die Rote Armee zog sich aber gleich Richtung Osten aus Litauen | |
zurück und die Wehrmacht folgte ihr. Es verblieben also nur zwischen 600 | |
und 900 Deutsche im Land. Ganz wenige von ihnen beteiligten sich am | |
litauischen Holocaust. In der Zivilregierung arbeiteten um die 30.000 | |
Litauer und weitere 25.000 waren in Freiwilligenbataillonen organisiert. | |
War der Antisemitismus schon vorher stark verbreitet? | |
Ja, Litauen ist ein sehr katholisches Land. Jahrhundertelang wurde der | |
katholische Antisemitismus gepflegt. Dazu kam dann noch die Propaganda | |
gegen den „Judäo-Kommunismus“. Juden galten als prosowjetisch und wurden | |
beschuldigt, hinter den Deportationen zu stecken. | |
Wurden nur Juden ermordet oder richtete sich der Massenmord auch gegen | |
andere Minderheiten wie Homosexuelle oder „Asoziale“? | |
Die Deutschen wollten geistig Behinderte töten. Aber das ließen die Litauer | |
nicht zu. Gegen den Judenmord gab es aber keine Proteste. Es gab auch keine | |
Partisanenbewegung. Die antisemitische Tradition und Propaganda spielte | |
eine wichtige Rolle, aber es ging auch um das Eigentum. Manche Juden waren | |
wohlhabend, hatten Häuser, Geschäfte, Apotheken. Selbst Leute, die sich | |
nicht an den Morden beteiligten, machten bei den Plünderungen mit. Die | |
Deutschen nahmen das Gold und vielleicht andere Wertgegenstände. Aber es | |
blieben die Häuser, Möbel, Bettwäsche, Fahrräder, Uhren. Selbst Leute, die | |
vorher nicht antisemitisch eingestellt waren, bereicherten sich und nahmen | |
dann antisemitische Haltungen ein, um zu rechtfertigen, dass sie sich nur | |
geholt hätten, was ihnen zustand. | |
Also reine Gier als Motiv? | |
Das kann man so nicht sagen. Viele waren richtig arm. Wenn du keine Schuhe | |
hast und einem Toten die Schuhe ausziehst, ist das keine Habgier. Es gab | |
auch welche, die nicht mitmachten. Der berühmte Historiker Raul Hilberg hat | |
geschrieben, es genügte, einen Feind zu benennen und ein Ziel vorzugeben. | |
Dann begann die bürokratische Maschinerie zu arbeiten und Menschen wurden | |
zu Mördern. Meine Angehörigen waren wirklich nette Menschen, aber sie | |
taten, was man ihnen auftrug. Sie haben keinen Abzug gedrückt, aber Listen | |
erstellt und sich an der Organisation des Holocaust beteiligt. Die erste | |
Regierung trat bald zurück, doch die Strukturen blieben. Die meisten | |
litauischen Juden wurden im Herbst 1941, noch vor der Wannsee-Konferenz, | |
getötet. Als Hitler die „Endlösung“ des Judenproblems beschloss, hatten d… | |
Litauer bereits Fakten gesetzt. | |
Wie haben Sie sich für das Thema interessiert? | |
Ich kannte die Geschichte, war aber lange überzeugt, dass meine Großväter | |
Helden und antisowjetische Kämpfer waren. Dann las ich die Verhörprotokolle | |
von einem Großvater und dem Mann einer Tante. Er sagte aus, er hätte eine | |
Liste von 41 Juden erstellt, die dann erschossen wurden. Er war Teil einer | |
für die Listenerstellung zuständigen Kommission. Zur Belohnung bekam er | |
zwei sowjetische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit auf seinem Hof. Da begann | |
ich nachzudenken und wollte mehr wissen. Die Quellen existieren alle auf | |
Litauisch. Man muss sich nur die Mühe machen, sie zu lesen. Jeder hätte | |
dieses Buch schreiben können. Aber niemand setzt sich in die Archive und | |
wühlt sich durch Verhörprotokolle. Das ist eine trockene akademische | |
Arbeit. | |
In den baltischen Ländern gründet die nationale Identität auf dem | |
antisowjetischen Widerstand und der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. | |
Ja, jeder Balte sieht sich als Opfer und Held. Wir sind aber auch Mörder. | |
Das müssen wir akzeptieren. Vielleicht hat nicht jede und jeder | |
Massenmörder unter den Vorfahren aber ich dachte, die Gesellschaft sei reif | |
genug, mit den Fakten umzugehen. Leider habe ich mich getäuscht: nur die | |
junge Generation ist so weit, meine Generation nicht. Die Gesellschaft ist | |
da gespalten. | |
Trotzdem war Ihr Buch ein großer Erfolg. | |
Wie man es nimmt. Die litauische Öffentlichkeit reagierte sehr negativ. Ich | |
habe viele Freunde verloren. Man nannte mich Jüdin und verbreitete das | |
Gerücht, ich würde von Putin oder den Juden bezahlt. Ist es ein Erfolg, | |
wenn ich mich nicht mehr auf die Straße trauen kann, weil ich dort als | |
Verräterin und Nestbeschmutzerin beschimpft werde? | |
Ihr Verlag Alma littera verkaufte über 18.000 Exemplare und rief dann alle | |
Ihre Bücher zurück. Das hatte aber nichts mit deren Inhalt zu tun, sondern | |
mit einer Bemerkung über den Nationalhelden Adolfas Ramanauskas. | |
Ja, das ist seltsam. Ich habe sechs Bücher geschrieben und in keinem gehe | |
ich auf das Thema Partisanen ein. Darum wollte ich wissen, warum der Verlag | |
alle meine Bücher zurückruft. Das ist so, als ob ich als Autorin bestraft | |
würde, weil ich meine Frisur ändere oder beim Schwarzfahren erwischt werde. | |
Adolfas Ramanauskas wird als Nationalheld verehrt, weil er von den Sowjets | |
zu Tode gefoltert wurde. Sie haben ihn beschuldigt, für den KGB gearbeitet | |
zu haben. | |
Weil das die Wahrheit ist. Er hat das unterschrieben. Ob er tatsächlich für | |
die Sowjets spioniert hat, weiß ich nicht. Die Karteien der KGB-Agenten | |
sind für uns in Litauen nicht zugänglich. Ich kenne nur diese Unterschrift | |
und weiß, dass er die Leute, die ihm zehn Jahre Unterschlupf gewährt | |
hatten, verraten hat. | |
Das Parlament hat trotzdem das Jahr 2018 zum Jahr des Helden Ramanauskas | |
erklärt … | |
Ja, viele Leute kannten seinen Namen gar nicht. Aber seit ich ihn | |
attackiert habe, kennt ihn jeder. Mir wirft man vor, von Putin dazu | |
angestiftet worden zu sein und dass ich die Speerspitze eines russischen | |
Informationskrieges gegen Litauen sei. Das hat der Chefanalytiker der | |
litauischen Armee behauptet. | |
Auch Ihr Verhältnis mit dem Nazijäger Efraim Zuroff wird Ihnen vorgeworfen. | |
Zuroff ist der meistgehasste Mann in Litauen weil er seit 20 Jahren immer | |
wieder kommt und die Menschen ermahnt, die Wahrheit zu sagen. Ich habe mit | |
ihm 45 von den 227 Massengräbern aufgesucht und 7 weitere in Weißrussland. | |
Litauische Freiwillige wurde ja auch dort für den Holocaust eingesetzt. Als | |
Ausländer und Prominenter war Zuroff unangreifbar. Daher richtete sich | |
aller Hass gegen mich. Ich war ein leichteres Ziel. Die Litauer wollen | |
nicht zugeben, dass sie am Massenmord beteiligt waren. Ich werde gehasst, | |
weil ich diese Lebenslüge, dass Litauer nur Opfer und Helden sind, zerstört | |
habe. | |
22 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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