# taz.de -- Deutscher tötet mit Auto Café-Besucher: Eine Stadt sucht eine Ant… | |
> In Münster tötet ein Mann vorsätzlich. Es findet sich kein Motiv. Warum | |
> tat Jens R. das? Über eine Stadt, der die Ruhe abhanden kam. | |
Bild: Tatort Münster: Medienvertreter warten am Ort des Mordes auf Statements … | |
MÜNSTER taz | Was für ein herrlicher Frühlingstag in Münster: 20 Grad, die | |
Sonne scheint, die Winterjacke kann auf dem Haken bleiben. Die ganze Stadt | |
hat wunderbare rosa Tupfen, die Kirschblüten gehen auf. Durch Münsters City | |
drängeln sich Samstags ohnehin viel zu viele Menschen. | |
An diesem Samstag aber ist sie noch voller als sonst: Es ist das letzte | |
Wochenende der Osterferien, die Studenten kommen zurück, das Sommersemester | |
beginnt. Wer Zeit hat, grillt am Aasee, auch die Cafés und Eisdielen der | |
Stadt machen glänzende Geschäfte, kaum ein Platz bleibt frei. So wie das | |
Traditionslokal „Großer Kiepenkerl“ mitten in der Innenstadt. | |
Am Nachmittag formiert sich eine Demonstration für den Frieden im syrischen | |
Afrin. Fast jeder dritte Demonstrant schwenkt eine Fahne, der Bürgermeister | |
von Afrin ist auch da. Dazu gesellen sich die ersten Fans von Preußen | |
Münster, die sich über den Heimsieg ihrer Drittliga-Mannschaft gegen Wehen | |
Wiesbaden freuen. | |
Dann geht es aber nicht weiter, die etwa 300 Demonstranten stecken | |
plötzlich in der Windhorststraße fest, die vom Hauptbahnhof in die | |
Innenstadt führt. Gegen halb vier wird klar: Irgendetwas stimmt hier nicht. | |
Unentwegt fahren Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizeifahrzeuge durch die | |
Stadt, ein Hubschrauber kreist über dem sonst so beschaulichen Münster. Ein | |
Demonstrationsordner verkündet über sein Megafon, man könne nicht wie | |
geplant in die Innenstadt weiterziehen, weil diese weiträumig von Polizei | |
und Feuerwehr abgesperrt sei. | |
Langsam sickert durch: Vor dem Großen Kiepenkerl soll ein Mann mit seinem | |
Auto mitten in die Menge der Caféhausgäste gefahren sein. Zwei Menschen | |
seien gestorben, es gebe viele Verletzte. Die örtliche Tageszeitung, die | |
Westfälischen Nachrichten, richtet einen Newsticker ein, bei Facebook | |
können Münsteraner ihren Freunden signalisieren, dass sie sich in | |
Sicherheit befinden. Der Kassierer im menschenleeren Lidl hat auch etwas | |
gehört, seine Kollegin weint. | |
## Ein VW-Bulli rast in die Menschenmenge | |
Am Sonntag liegen Blumen vor dem Denkmal des Kiepenkerls, nur wenige Meter | |
vom Prinzipalmarkt in Münsters historischer Altstadt entfernt. Bei fast | |
windstillem Wetter brennen Kerzen am Sockel der Figur, die an die fahrenden | |
Händler erinnert, die früher die Bauern des Münsterlands mit Salz, Tuch und | |
nicht zuletzt Nachrichten versorgten und ihnen im Gegenzug Lebensmittel | |
abkauften. | |
Der Tathergang steht nun fest: Am Samstag um 15.27 Uhr ist hier ein 48 | |
Jahre alter, in Münster gemeldeter Deutscher mit seinem grau-silbernen | |
VW-Campingbulli in den Biergarten der beiden Gaststätten Großer Kieperkerl | |
und Kleiner Kiepenkerl gefahren. Die Terrasse am Spiekerhof Ecke Bergstraße | |
war gut gefüllt. Bei der Todesfahrt wurden rund 20 Menschen zum Teil schwer | |
verletzt. Eine 51 Jahre alte Frau aus dem niedersächsischen Kreis Lüneburg | |
und ein 65-jähriger Mann aus dem münsterländischen Kreis Borken starben. | |
Unmittelbar nach der Tat erschoss sich der Fahrer selbst. Da zufällig ein | |
Streifenwagen nur wenige Meter entfernt in einer Nebenstraße im Einsatz | |
war, erschienen Polizeibeamte direkt danach vor Ort – und verhinderten wohl | |
eine Panik. | |
Die Sicherheitskräfte wissen am Sonntag schon mehr über den Täter. Sie | |
haben das Tatfahrzeug akribisch untersucht. Im Inneren finden sie außer der | |
Waffe, mit der sich Jens R. selbst umgebracht hat, eine | |
Schreckschusspistole und etwa ein Dutzend Polenböller. Sie haben nicht nur | |
seine zwei Wohnungen in Münster durchsucht, sondern auch zwei weitere in | |
Ostdeutschland. Sie finden in Münster eine unbrauchbar gemachte | |
Maschinenpistole vom Typ AK 47. Keinerlei Hinweise gibt es hingegen auf | |
einen islamistisches Motiv des Täters, über das unmittelbar nach der Tat so | |
intensiv diskutiert worden ist. | |
## Die Stadt ist aus den Fugen geraten | |
Die ansonsten so in sich ruhende Stadt Münster ist aus den Fugen geraten. | |
Man merkt das, sobald man mit den Menschen ins Gespräch kommt. Die sitzen | |
in sommerlichen Dress auf den Bänken rund um den Kiepenkerl, ruhig und | |
nachdenklich, versuchen das Geschehene zu rekonstruieren und zu verstehen. | |
„Von da oben ist er gekommen.“ Ja, von da oben vom Prinzipalmarkt ist er | |
gekommen der Münsteraner, der mit seinem Campingbus. Der Brauereibesitzer | |
Bernd Klute sagt: „Man kann das gar nicht verstehen, wie jemand zu so etwas | |
fähig sein kann. Er muss schlimme Gedanken und psychische Probleme gehabt | |
haben.“ | |
Klute unterhält sich mit Siva Sivatharsanan, der gebürtig aus Sri Lanka | |
kommt. Nur etwa 100 Meter weiter betreibt er die Köpi-Stuben. Er hat den | |
lauten Knall gehört und das Schreien der Menschen. Er ist sofort zum Ort | |
des Geschehens gerannt. „Lange habe ich es dort nicht ausgehalten, ich kann | |
kein Blut sehen.“ So gut es geht, räumt er die Trümmer aus dem Weg, um | |
Platz für die heraneilenden Rettungsfahrzeuge zu schaffen. „Es war so | |
lange so ruhig hier bei uns, vielleicht sind wir jetzt dran“, sagt er | |
trocken. Auf dem Handy zeigt er drastische Aufnahmen vom Kiepenkerl | |
unmittelbar nach der Todesfahrt. | |
Vor Ort ist auch den evangelische Pfarrer Martin Mustroph, um als | |
Notfallseelsorger ein unterstützendes Gespräch mit Mitarbeitern aus der | |
Kiepenkerl-Gastronomie zu führen. Ja in Münster hilft man, unterstützt man | |
sich. Eigentlich. | |
## Seehofer: „Ein feiges und brutales Verbrechen“ | |
Keine 21 Stunden nach der Tat, auf die Minute genau um Viertel nach zwölf | |
am Mittag, legen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), | |
Nordrhein-Westfalens christdemokratischer Ministerpräsident Armin Laschet | |
und sein Parteifreund und Innenminister Herbert Reul Blumen vor den | |
Fachwerk- und Klinkerhäusern am Kiepenkerl nieder. Der Platz ist | |
mittlerweile kleinräumig abgesperrt, in den Nebenstraßen parken Dutzende | |
Polizeifahrzeuge. Vor Ort sind nur wenige BürgerInnen präsent, dafür aber | |
rund dreißig Kamerateams. JournalistInnen berichten auf Englisch, | |
Französisch, Italienisch, Polnisch. | |
„Aus Respekt vor den Opfern“ wollen sich die drei Politiker am Tatort nicht | |
äußern, erklärt eine Sprecherin der Polizei. Was folgt, ist der Kampf um | |
die besten Bilder: Seehofer, Laschet und Reul sollen vor der nahen | |
Überwasserkirche reden, bleiben aber im Pressepulk stecken. | |
Also wird auf einer Brücke über dem Flüsschen Aa improvisiert: Im | |
Kameragedränge versichern alle drei ihre Anteilnahme. Ministerpräsident | |
Laschet spricht von „einem traurigen Tag für die Menschen in Münster, in | |
NRW, in ganz Deutschland“. Seehofer nennt die Todesfahrt ein „feiges und | |
brutales Verbrechen“, verspricht den Angehörigen der Toten und Verletzten | |
„die Solidarität der ganzen Bundesregierung, vor allem der | |
Bundeskanzlerin“. | |
Wie danach auch sein Landeskollege Reul betont der Bundesinnenminister, der | |
Angriff mitten im Herzen Münsters sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ von | |
einem deutschen Einzeltäter ausgegangen, der „keine Verbindung zum | |
islamistischen Terrorismus“ gehabt habe. Allerdings werde weiter „in alle | |
Richtungen“ ermittelt. | |
## Wer war der Täter Jens R.? | |
Denn noch bleibt das Motiv des Todesfahrers unklar. Bei dem Mann soll es | |
sich um den 1969 in Olsberg im Sauerland geborenen Jens R. handeln. Der | |
beruflich offenbar wenig erfolgreiche Schmuck- und Industriedesigner soll | |
psychische Probleme gehabt und auch schon einen Selbstmordversuch | |
unternommen haben. Sowohl Münsters Polizeipräsident Hajo Kuhlisch als auch | |
die Leitende Oberstaatsanwältin, Elke Adomeit, betonen aber, nach | |
derzeitigem Stand gebe es „keine Hinweise auf einen politischen | |
Hintergrund“ – auch kein rechtsextremer, über den in linken Blogs bereits | |
ebenso spekuliert wird wie in Sicherheitskreisen. | |
Kuhlisch erklärt, Jens R. habe nicht nur vier Wohnungen gehabt, zudem seien | |
dem 48-Jährigen mehrere Fahrzeuge und ein Container zugeordnet worden. Wozu | |
Jens R. vier Wohnungen gebraucht haben könnte, erklärte Münsters oberster | |
Polizist nicht. Beim vermuteten „Täterprofil“ sei dies aber nicht völlig | |
untypisch, sagte Kuhlisch – und spielte damit offenbar auf die psychische | |
Erkrankung des Todesfahrers an. | |
„Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im | |
Zusammenhang steht“, sagt auch Staatsanwältin Adomeit. Zwar habe es 2015 | |
und 2016 in Münster drei und im sauerländischen Arnsberg ein | |
Ermittlungsverfahren gegen Jens R. gegeben. Dabei sei es um eine Bedrohung, | |
aber auch um Unfallflucht, Sachbeschädigung und Betrug gegangen. Alle | |
Verfahren seien eingestellt worden. | |
Entsprechend deutlich verurteilt insbesondere Ministerpräsident Laschet | |
„diejenigen, die bei Twitter das Hetzen begonnen haben“ – ohne Namen zu | |
nennen. Und er lobt die Besonnenheit und Solidarität der Münsteraner nach | |
der Tat. Er würde sich wünschen, dass „diese besondere Münsteraner | |
Erfahrung einer Friedensstadt“ auch diejenigen erreicht hätte, die „ganz | |
schnell bei Twitter und anderswo wieder das Hetzen begonnen haben“. Für die | |
Opfer sei die Religion der Täter egal, sie hätten einen Menschen verloren. | |
Die beiden Innenminister Seehofer und Reul danken ausdrücklich den Medien: | |
Deren Berichterstattung sei „sehr verantwortlich“ gewesen, sagt Seehofer. | |
Obwohl sicherlich viele an die Anschläge auf den Weihnachtsmarkt Berliner | |
Breitscheidplatz und auf der Promenade des Anglais im französischen Nizza | |
2016 dachten, hätten die JournalistInnen „berichtet, was Fakt ist – und | |
darauf kommt es an“, sagt Reul. Trotz Polizei in unmittelbarer Tatortnähe | |
könne es „nie absolute Sicherheit auf Straßen, Plätzen, in Flugzeugen | |
geben“, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister. „Wir können es nur | |
bestmöglich versuchen.“ Später bringt Seehofer mehr Straßenpoller ins | |
Gespräch. | |
## Münster ist getroffen – an einem empfindlichen Punkt | |
Keine Frage: Münster ist an einem sehr empfindlichen Punkt, dem | |
Sicherheitsgefühl seiner gut 300.000 Einwohner getroffen worden. Münster, | |
diese ansonsten ruhige, wohlhabende, gebildete und friedliche, | |
kunstsinnigen Stadt, die Stadt der Skulptur Projekte, die Stadt, in der die | |
AfD bei der letzten Bundestagswahl bundesweit am schlechtesten | |
abgeschnitten hat, steht urplötzlich im Fokus der Gewalt. In Münster, der | |
Stadt des Westfälischen Friedens, wo im Rathausinnenhof die Skulptur von | |
Eduardo Chillida mit dem Titel „Toleranz durch Dialog“ steht, wird weltweit | |
durch einen Mordanschlag bekannt. | |
Auf der anderen Seite des Rathauses hängt die Fahne jetzt auf Halbmast, im | |
Rathaus wurde ein Kondolenzbuch ausgelegt, am Abend wird ein | |
Gedenkgottesdienst für die Opfer stattfinden. In wenigen Wochen soll in | |
Münster der 101. Katholikentag eröffnet werden, mit hoher Promidichte und | |
Zehntausenden Besuchern. Gewiss wird in den nächsten Tagen die Frage | |
aufkommen: Können wir eigentlich die Sicherheit unserer Besucher noch | |
garantieren? Reichen da ein paar Poller auf dem Domplatz und an anderen | |
sensiblen Stellen der Stadt aus? Wie viel Polizeischutz verträgt so eine | |
Veranstaltung? | |
Einer der die Stimmung in der Stadt in einem der zahllosen | |
Facebook-Postings zum Thema auf den Punkt bringt, ist der Münsteraner | |
Liedermacher Detlev Jöcker, der schon ein Lied für den Kirchentag | |
komponiert hat: „Was für ein großes Leid wurde hier unschuldigen Menschen | |
zugefügt, das einige jäh aus ihrem Leben herausgerissen und andere an Leib | |
und Seele verletzt hat. Unsere geliebte Stadt hat ihre Unschuld verloren. | |
Diese unfassbare Tat wird Narben hinterlassen. Martialische | |
Schreckensbilder mit Tötungsfantasien aus Internet-Ballerspielen wurden | |
Wirklichkeit. Das alles macht so unendlich traurig!“ | |
Auch der fast in Münster schon eingemeindete Darsteller des | |
Tatort-Gerichtsmediziners Börne, Jan-Josef Liefers, versucht „seinem“ | |
Münster Mut zu machen. „Ohne alle Details und Motive zu kennen, reichen die | |
Bilder und entsetzlichen Nachrichten aus Münster, um mir das Herz zu | |
brechen. Münster ist einer der friedlichsten und freundlichsten Orte, die | |
ich kenne, und so wird es bleiben, trotz dieses feigen und kranken | |
Anschlags.“ Sein Kollege Axel Prahl schreibt: „Ich bin schockiert und | |
traurig“. Ich wünsche den Familien und Angehörigen der Opfer jetzt ganz | |
viel Kraft und den Verletzten eine hoffentlich schnelle und vollständige | |
Genesung. Wir denken an Euch. Münster, bleib wie Du warst und wie wir Dich | |
lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz. Lass Dich jetzt | |
nicht unterkriegen.“ | |
In Münster hätte am Sonntag eigentlich die Sonne scheinen sollen. Ja, warm | |
ist es, aber weiß-grau-blaue Wolken hängen am Morgen danach über der Stadt. | |
Wenn über die Promenade durch die Stadt fährt, fällt auf, wie viel leerer | |
als sonst es an diesem Tag ist. | |
8 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Frank biermann | |
Andreas Wyputta | |
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