# taz.de -- 50 Jahre nach Martin Luther King: Die nächste Generation | |
> Walter „Hawk“ Newsome kämpft in New York gegen grassierende | |
> Polizeigewalt. Er sieht sich in der großen Tradition von King. | |
Bild: Er will die Schwarzen „von der Coach auf die Straße bringen“: Walter… | |
NEW YORK taz | Als Walter Newsome 1977 zur Welt kam, war Martin Luther King | |
auf den Tag genau seit neun Jahren tot, erschossen von dem vorbestraften | |
Rassisten James Earl Ray in Memphis, Tennessee. Aber der junge Newsome | |
kannte King schon lange bevor er lesen und schreiben konnte. Der junge | |
Schwarze wuchs in einem Spannungsfeld auf, in dem seine Mutter den | |
pazifistischen Widerstand Kings bewunderte und sein Vater den radikaleren | |
Ansichten von Malcolm X folgte, der glaubte, dass eine Befreiung der | |
Afroamerikaner nur im Kampf gegen die Weißen möglich sei. | |
Der zwei Meter große Newsome hat einen kahlgeschorenen Kopf, einen | |
Vollbart, den Körper eines Footballspielers und ein gewinnendes Lächeln. | |
Wie viele Afroamerikaner hat auch ihn immer neue tödliche Gewalt gegen | |
schwarze Männer zum Aktivisten gemacht. „Es tut weh“, sagt er über die | |
Tragödien, die ihn auf die Straße treiben. Er hat protestiert, als 2012 der | |
Teenager Trayvon Martin in Florida von einem privaten Wachschützer | |
erschossen wurde, als zwei Jahre später der Zigarettenverkäufer Eric Garner | |
in New York von einem Polizisten erwürgt wurde und als 2016 der CD-Händler | |
Alton Sterling von einem Polizisten in Louisiana nach einem Kopfschuss | |
starb. Allen Opfern gemeinsam war, dass sie schwarz und unbewaffnet waren, | |
den Tätern, dass keiner von ihnen jemals im Gefängnis landete. | |
Ein halbes Jahrhundert nach dem Mord an Martin Luther King Jr. führt eine | |
neue Generation von Aktivisten den Kampf des schwarzen Bürgerrechtlers und | |
Predigers weiter. Walter „Hawk“ Newsome gehört zu ihnen. Er ist Präsident | |
von Black Lives Matter of Greater New York. „Dr. King war einer der | |
eindrucksvollsten Menschen und Freiheitskämpfer aller Zeiten“, schwärmt er, | |
„eine Inspiration für uns alle“. King hat sich auf die Abschaffung der | |
Rassentrennung und das Wahlrecht für alle konzentriert. Für Newsome stehen | |
die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner sowie die ökonomischen | |
Ungleichheiten im Vordergrund seines Kampfes. | |
Erst vor einer Woche musste Newsome wieder einen Namen durch die Straßen | |
von Manhattan rufen und Aufklärung und Konsequenzen verlangen. Der | |
22-jährige Stephon Clark war am 18. März im Garten seiner Großmutter in | |
Sacramento, Kalifornien, von der Polizei erschossen worden. Sechs Kugeln | |
trafen den unbewaffneten schwarzen Mann in den Rücken. Die Polizisten | |
schossen auch noch, als er schon am Boden lag. | |
## Mit dem Megafon an der Spitze der Demonstration | |
Wie üblich hat Newsome bei der Demonstration ein Megafon in der Hand und | |
zieht in der ersten Reihe am New Yorker Times Square los. Doch für ihn und | |
zehn andere Protestierende endet die Demonstration schon vor ihrem | |
geplanten Ende in Polizeihaft. Der Vorwurf lautet „Behinderung einer | |
Regierungsbehörde“. Für Newsome ist es die dritte Festnahme bei einer | |
Demonstration. Erst wenige Tage zuvor waren monatelange Ermittlungen gegen | |
ihn wegen desselben Vergehens eingestellt worden. Bei jener Gelegenheit, | |
sagt Newsome, hätten Polizisten seinen Kopf so hart auf den Boden | |
geschlagen, dass er noch Monate später physiotherapeutische Behandlung | |
benötigt. Über seine Klage gegen die New Yorker Polizei ist bislang nicht | |
entschieden. | |
Wie Martin Luther King vor einem halbes Jahrhundert sieht Newsome seine | |
Aufgabe darin, seine Landsleute „von der Couch auf die Straße“ zu treiben, | |
wie er es formuliert. Dabei hat er es mit Menschen zu tun, die kaum | |
unterschiedlicher sein könnten. „Schwarze sind am Boden zerstört“, sagt e… | |
„aber wir müssen auch jene Weißen erreichen, die die Gewalttaten nicht | |
einmal zur Kenntnis nehmen.“ | |
Newsomes Methoden stammen von King: die Verantwortlichen nerven und | |
öffentlich vorführen, die Medien als „Verstärker“ nutzen und gewaltfrei | |
bleiben. „Dr. King war ein brillanter Stratege“, sagt Newsome, „er hat die | |
Herzen in diesem Land bewegt.“ | |
Newsome hat lange mit den radikalen Ideen seines Vaters sympathisiert. Aber | |
anders als er war er selbst in seiner Jugend nicht politisch aktiv und | |
anders als King wuchs er auch nicht religiös auf. Newsomes Jugend war | |
geprägt von Alkohol und Wut. Erst spät vollzog er eine Kehrtwende, ließ | |
sich taufen, schwor dem Alkohol ab und nahm den Namen eines Raubvogels an, | |
den er als Beschützer empfindet: des Falken. Seither nennt er sich Hawk. | |
## Grassierende Polizeigewalt | |
Heute haben die USA einen nationalen Feiertag an Kings Geburtstag, ein | |
nationales Monument für King im Kreis der Denkmäler für die weißen | |
Präsidenten in Washington und landesweit Straßen, Schulen und Sportplätze, | |
die nach ihm benannt sind. | |
Aber zugleich grassieren Polizeigewalt und Inhaftierungen in den USA – und | |
das sind bei Weitem nicht die einzigen Probleme von Afroamerikanern. Auch | |
wirtschaftlich sind sie eine benachteiligte Bevölkerungsgruppe geblieben, | |
die überproportional unter der Finanzkrise von 2008 litt, besonders viel | |
Hauseigentum verloren hat und tiefer in die Armut gesunken ist. | |
Newsome lebt nicht mehr in der Bronx, wo Afroamerikaner und Latinos die | |
Mehrheit stellen, sondern in Manhattan. Zu seinen Alliierten gehören jetzt | |
auch Weiße und Asiaten. Und zu seinen Zielen zählt nicht mehr nur die | |
Überwindung der Ungleichheit, sondern auch der Kampf für bessere Schulen | |
und gesünderes Essen. Doch bei einer Strategierunde in der 5th Avenue | |
lachen er und seine Freunde bitter über die „postrassistische | |
Gesellschaft“, die manche Beobachter nach der Wahl von Barack Obamas zum | |
Präsidenten proklamiert hatten. „Wir sind als Sklaven hierher verschleppt | |
worden“, sagt einer von ihnen, „heute gehen die Dollar zwar durch unsere | |
Hände, aber die Anhäufung des Reichtums findet anderswo statt. In den | |
Geschäften werden wir so misstrauisch beäugt wie kein weißer Kunde.“ | |
Bei seinem eigenen Versuch, die Herzen auch der anderen Seite zu erobern, | |
ist Newsome bereit, weit zu gehen. Im vergangenen September mischte er mit | |
ein paar Freunden mehrere hundert weiße Nationalisten auf, die sich in | |
Washington zu einer Sympathiekundgebung für Präsident Donald Trump | |
versammelt hatten. Die Black-Lives-Matter-Aktivisten kamen in schwarzen | |
Kleidern mit den panafrikanischen Farben Rot, Gold und Grün auf ihren | |
Flaggen und T-Shirts. Sie wurden mit Buhrufen empfangen, dazu zischte es: | |
„Verlasst das Land, wenn es euch hier nicht gefällt.“ | |
Doch dann holte ein Mann Newsome auf die Bühne und überreichte ihm für zwei | |
Minuten das Mikrofon. Der rief gegen die anbrandenden „USA, USA“-Slogans | |
ins Mikrofon: „Ich bin ein stolzer Amerikaner und ein Christ.“ Und | |
erklärte, dass er nicht gegen alle Polizisten sei, sondern nur gegen | |
schlechte Polizisten: „Die gehören ausgetauscht, genau wie schlechte | |
Politiker.“ Anschließend drückte ihm der Anführer einer weißen Bürgerwehr | |
aus Florida seinen Sohn für ein Erinnerungsfoto in den Arm und das Video | |
von seiner Rede wurde millionenfach geklickt. In der | |
Black-Lives-Matter-Bewegung aber hagelte es Kritik an Newsomes Alleingang | |
und daran, dass er eine Versammlung weißer Nationalisten durch seinen | |
Auftritt aufgewertet habe. | |
Martin Luther King hatte sich am Schluss seines Lebens auf soziale | |
Ungerechtigkeiten konzentriert. Er kritisierte zudem den Vietnamkrieg und | |
nannte sein Land den „weltweit größten Lieferanten von Gewalt“. Kurz vor | |
seinem Tod reiste er zweimal nach Memphis, um dort den Streik der schwarzen | |
Beschäftigten der Müllabfuhr zu unterstützten, die für gleichen Lohn | |
kämpften. | |
Mit der Ausweitung seines Engagements verlor King die Unterstützung der | |
Medien, des demokratischen Parteiapparats und des damaligen Präsidenten | |
Lyndon B. Johnson. Aber seine Anhänger organisierten posthum die noch von | |
ihm geplante Poor People’s Demonstration in Washington, um das Leben von | |
„armen Amerikanern aller Rassen“ zu verbessern. | |
## „Wir haben uns ausgeruht, anstatt weiter zu kämpfen“ | |
„Dr. King hatte nicht genügend Zeit, um sein Potenzial zu realisieren“, | |
sagt Newsome ein halbes Jahrhundert später dazu. Er macht dessen | |
Zeitgenossen und die Nachgeborenen für die gegenwärtige Lage von | |
Afroamerikanern verantwortlich: „Wir waren nicht auf seiner Höhe. Wir haben | |
uns auf den Erfolgen ausgeruht, anstatt weiter zu kämpfen“. | |
Nach dem Mord an King, als viele Städte in den USA in Aufruhr und Gewalt | |
gerieten, kam es zu einer Welle von Reformen. Der Stadtrat von Memphis | |
akzeptierte plötzlich die Forderungen der Müllarbeiter. Präsident Johnson | |
hatte es ganz eilig, ein Gesetz gegen die Diskriminierungen Schwarzer auf | |
dem Immobilienmarkt zu unterschreiben. | |
Doch danach erschütterten neue Katastrophen die schwarze Community, | |
darunter die Crack-Epidemie der 1980er Jahre und der Aufbau eines | |
gigantischen Gefängnissystems. Selbst die Wahl des ersten schwarzen | |
Präsidenten blieb vor allem ein Symbol. „Acht Jahre gegen fünf | |
Jahrhunderte“, sagt Newsome zu Obamas Amtszeit. Als Hillary Clinton sich | |
für die Präsidentschaft bewarb, verweigerte er ihr seine Stimme: „Sie hatte | |
keinen ernstzunehmenden Plan gegen die Polizeigewalt.“ | |
Im Sommer 2016 demonstrierte er zusammen mit Tausenden Aktivisten sowohl in | |
Cleveland gegen den republikanischen Parteitag als auch in Philadelphia | |
gegen den der Demokraten. Das Ergebnis, die Wahl von Donald Trump, nennt | |
Newsome ein „letztes Aufbäumen der Good Old Boys“ – der weißen | |
konservativen Männer. | |
Wie andere Aktivisten der neuen Generation erwartet er wenig von den großen | |
Bürgerrechtsorganisationen, einschließlich der NAACP (National Association | |
for the Advancement of Colored People), der King damals angehörte. Sie | |
seien „zu zaghaft“ und gehörten demselben „Establishment“ an wie die | |
Demokratische Partei. Stattdessen geht es Newsome darum, neue Politiker zu | |
finden, die Polizei und Justiz kontrollieren und reformieren. „Die | |
Polizeigewalt wird enden, sobald sie bestraft wird“, davon ist Newsome | |
überzeugt. | |
Am Todestag von Martin Luther King am Mittwoch wird Walter „Hawk“ Newsome | |
41 Jahre alt. Er wird eine Demonstration von Harlem aus bis zu | |
Riverside-Kirche am Hudson-Fluss anführen, dort, wo King 1967 seine Rede | |
gegen den Vietnamkrieg gehalten hat. Newsome will bei dabei auch ein | |
Gedicht vortragen, das er vor einer Woche in Polizeihaft geschrieben hat. | |
Wie King, dessen Aktionen ihn immer wieder hinter Gitter führten, bereut er | |
nichts. Stattdessen sieht er neue Partner auf der Straße, von denen er viel | |
erwartet: „Heute Nacht habe ich leidenschaftliche schwarze, braune und | |
weiße Menschen in Einheit demonstrieren sehen.“ | |
3 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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