# taz.de -- taz-Serie Neu-Berlinern: Der Brexit hat sie nach Berlin gebracht | |
> Großbritanniens Ausstieg aus der EU als Grund, die Heimat zu verlassen: | |
> Im zehnten Teil ihrer Serie trifft sich Henriette Harris mit Carol Van | |
> Buren. | |
Bild: Früher ab und zu, jetzt ständig in Berlin: die britische Juristin Carol… | |
Sie saß in der ersten Reihe in der britischen Botschaft. Sie fiel auf mit | |
ihren üppigen geflochtenen Haaren und mit ihrer präzisen Frage zum Brexit | |
und dessen Konsequenzen für die britischen Staatsbürger in Deutschland. | |
Sir Sebastian Wood, Großbritanniens Botschafter in Deutschland, ist zwar | |
charmant – natürlich ist er das –, und es ist ihm auch klar, dass „das | |
Referendum Anlass zu Sorgen und Enttäuschungen für Briten, die in der EU | |
leben“, gibt. Aber die Fragen seiner empörten und beunruhigten Landsleuten, | |
die nun ihre Lebensgrundlage im EU-Europa für sich schwinden sehen, kann er | |
nicht immer klar und zufriedenstellend beantworten. Doch immerhin spricht | |
er sicherlich die Wahrheit, als er verkündet: „Ich hoffe, ihr habt das | |
Gefühl, dass wir eine zugängliche Organisation sind. Unsere Türen sind | |
offen. Metaphorisch gesehen.“ | |
Beim letzten Zusatz bricht der mit mehreren Hundert Zuhörern besetzte Saal | |
in Gelächter aus. Eine Situation ist nie so ernst, dass die Briten nicht | |
darüber lachen können. | |
Schon bei diesem Treffen in der Botschaft erzählt Carol Van Buren, dass sie | |
vor kurzer Zeit nach Berlin gekommen ist. Der Brexit ist der Grund, warum | |
sie Großbritannien verlassen hat. Briten, die fünf Jahre in Deutschland | |
gelebt haben, erwerben das Recht auf einen permanenten Aufenthalt. Für | |
Carol Van Buren hat der Countdown so schon angefangen. | |
Unser nächstes Treffen findet im Literaturhaus in der Fasanenstraße statt. | |
Carol Van Buren hat den Ort gewählt, sie wohnt in Charlottenburg nicht weit | |
vom Literaturhaus. | |
## Als Dolmetscherin in Brüssel | |
Die promovierte Juristin, die auch einen Abschluss in Sprachen und eine | |
Vergangenheit als Dolmetscherin in Brüssel hat, kam im Sommer 2017 nach | |
Berlin. Vor Kurzem hat sie begonnen, juristische Texte für Berliner | |
Rechtsanwälte zu übersetzen. | |
Bevor sie in Berlin gelandet ist, hat sie einen Sommersprachkurs im | |
dänischen Helsingør gemacht. „Weil ich nur in einem Land leben möchte, wo | |
ich auch die Sprache spreche“, sagt sie. Aber Dänemark war ihr zu teuer, | |
und sie war sich auch nicht sicher, dass sie die Sprache gut genug | |
beherrschen würde, um einen Job zu bekommen. | |
„Dann bin ich nach Amsterdam gefahren. Amsterdam ist schön, es ist sehr | |
multikulturell, aber es hat immer geregnet, und dann habe ich gedacht: Ich | |
schaue mir Berlin an. Und dann war ich genau die vier Tage hier, an denen | |
es Sonne gab, und die Entscheidung war einfach“, sagt sie. Es ist | |
allerdings nicht das erste Mal, dass Carol Van Buren in Deutschland und | |
Berlin lebt. | |
„Ich bin 1964 in London geboren, aber mein Vater war in der britischen | |
Armee, und wir haben in den 60er und 70er Jahren in Deutschland gelebt. | |
Mein Bruder ist in Westdeutschland geboren. Die Arbeit meines Vaters hat | |
uns auch in den Nahen Osten und nach Zypern, Spanien und Dänemark gebracht, | |
wo ich immer Nato-Schulen besucht habe“, erzählt sie. | |
## Zurück in London | |
Als die Familie zurück nach London ging, war Carol Van Buren 13 Jahre alt. | |
Ihr Vater hatte eine Arbeit bei der Polizei angefangen, was von den anderen | |
schwarzen Kindern als Verrat empfunden wurde. Carol wurde gehänselt – und | |
sie war außerdem extrem gelangweilt. Im Ausland hatte sie, weil sie schlau | |
ist, immer eine höhere Klassenstufe besucht. Jetzt war sie zurück unter | |
ihren Altersgenossen. | |
„Ich habe angefangen, Unsinn zu machen, aber dann habe ich in Deutsch eine | |
schwarze Lehrerin bekommen. Sie hat zu mir gesagt: ‚Du musst doppelt so | |
hart arbeiten, weil du Frau und schwarz bist.‘ Sie hat mir Zusatzaufgaben | |
gegeben, ich habe einen Schüleraustausch in Bremen gemacht und tolle | |
Freunde gefunden, mit denen ich nach 35 Jahren noch immer in Kontakt stehe. | |
Letztendlich hat es zu einem Studienplatz in Cambridge geführt“, erzählt | |
Carol Van Buren, deren Großeltern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts | |
von Jamaika nach Großbritannien kamen. An der viertältesten Universität der | |
Welt hat sie ihren ersten Abschluss in Sprachen gemacht. | |
Von dort ging es direkt nach Brüssel, wo sie einen Praktikumsplatz als | |
Dolmetscherin bekam. „In der EU hat man Briten ermutigt, sich zu bewerben. | |
Erstens, weil sie normalerweise keine Fremdsprachen sprechen, und zweitens, | |
weil sie sich nicht für die EU interessieren. Auch damals nicht“, sagt sie. | |
„Aber mit 22 Jahren war ich zurück in London und wusste nicht so genau, in | |
welche Richtung mein Leben gehen würde.“ | |
Ende der Achtzigerjahre hatte sie einen deutschen Freund in Westberlin. | |
„Ich war Anfang November 1989 in Berlin, um ihn zu besuchen. Wir wussten, | |
dass etwas passieren würde, und am 9. November sind wir ausgegangen, um | |
eine Pizza zu essen. Plötzlich haben wir gehört: Die Ossis sind hier! Es | |
gab Menschen überall. Ich dachte: Wow! Am nächsten Tag waren die Läden | |
leer, und man hat schon in den ersten Tagen gehört und gespürt: Deutschland | |
für Deutsche! Westberlin war wirklich sehr cool, aber jetzt kam der | |
Rassismus. Das war der Grund, warum ich nicht zu meinem Freund nach Berlin | |
gezogen bin. Berlin hatte für mich lost it’s charm. Viele Jahre kam ich nur | |
für Konferenzen und Vorträge hierher. Vor dem Mauerfall war Berlin arm, | |
aber sexy. Jetzt war es nur arm“, sagt Carol Van Buren. | |
Mit 25 fing sie dann an, Jura zu studieren. Diesmal am King’s College | |
London. „Ich war das richtige Gesicht zum richtigen Zeitpunkt. Ich wurde | |
Partner in einer Firma und habe immer gearbeitet. Zu viel gearbeitet“, | |
erzählt sie, die auch zwei Kinder bekommen hat. Ihre Tochter und ihr Sohn, | |
heute 25 und 27 Jahre alt, leben beide in New York. Die Tochter ist Model | |
(„mir wäre es lieber, wenn sie Physik studieren würde“, lacht Van Buren), | |
ihr Sohn ist Künstler. | |
## Lieber ein schnelles Internet | |
Als die Finanzkrise kam, begann sie, unentgeltlich für verschiedene | |
Wohltätigkeitsorganisationen zu arbeiten. Gleichzeitig unterrichtete sie am | |
King’s College, und als die Flüchtlinge nach Europa kamen, hat sie oft | |
welche bei sich zu Hause versorgt. „Mein Mann war nicht so begeistert, es | |
wurde uns langsam klar, dass wir verschiedene Wege gehen möchten. Und | |
diesen Sommer habe ich dann ihn und England verlassen.“ | |
In wenigen Tagen fand Carol Van Buren eine Wohnung in Charlottenburg. „Ich | |
wollte kein Graffito, aber ein schnelles Internet“, grinst sie. | |
Vollkommen überzeugt von Berlin ist sie aber noch nicht. „Kurz nach meiner | |
Ankunft kam der Herbst und dann der Winter. Ich hatte keine Arbeit, war | |
deprimiert. Es war kalt, und die Berliner lächeln dich nie an. Und der | |
Russe, der meine Pakete entgegennimmt, ist ein Rassist. Einmal hat er | |
seinen Hund auf mein Paket pissen lassen. Daran bin ich nicht gewöhnt. In | |
England hat die Klasse viel mehr Bedeutung als die Hautfarbe. Hier ist es | |
das Gegenteil. Hier wirst du nach deiner Hautfarbe eingeschätzt. Berlin ist | |
gar nicht so multikulturell, wie es denkt, aber schmückt sich zu viel | |
damit“, sagt sie. | |
Ihre Eltern, die jetzt ihr Rentenalter in Jamaika verbringen, haben sie | |
davon überzeugt, sie zu besuchen. „Den ganzen Januar dort mit Sonne und | |
gutem Essen, und ich war wieder aufgefüllt. Als ich zurückkam, hat mein | |
Freund Frank, den ich seit dem Bremer Schüleraustausch kenne und der ein | |
Anwaltsbüro am Kurfürstendamm hat, zu mir gesagt: Du brauchst eine | |
Beschäftigung. Als Anwältin zu arbeiten hatte ich keine Lust. Damit | |
verdient man hier auch zu wenig. Aber die Übersetzungen finde ich toll, und | |
mit der juristischen Übersetzung kombiniere ich meine beiden Ausbildungen. | |
Also bin ich freiberufliche Übersetzerin geworden. Ich hoffe, dass ich bis | |
zum Erscheinen dieses Artikels auch eine Website habe. Übrigens habe ich | |
die Domain www.vb-translations.com schon gekauft“, sagt Carol Van Buren. | |
„Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich die Gelegenheit nutze, ein | |
bisschen für mich zu werben“, fügt sie lachend hinzu. | |
Sie findet es großartig, dass es in Berlin so viel Kultur gibt, „Obwohl ich | |
das bis jetzt wenig ausgenutzt habe.“ Und jedes Mal, wenn sie sich schlecht | |
fühlt, hat sie Freunde, die ihr helfen, sich wieder besser zu fühlen. „Die | |
älteren Berliner in meiner Gegend lächeln mich auch oft an. Vielleicht sind | |
sie mehr an schwarze Menschen gewöhnt“, lacht sie. | |
Für den Fall, dass sie sich doch nicht in Berlin zurechtfinden sollte, | |
überlegt Carol Van Buren, nach Hamburg zu ziehen: „Ich fühlte mich immer | |
wohl in Norddeutschland und habe dort Freunde, aber manche sagen, dass sich | |
auch Hamburg ganz schön verändert hat.“ | |
2 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Henriette Harris | |
## TAGS | |
Neu-Berlinern | |
Expats | |
Großbritannien | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
Schwerpunkt Brexit | |
EU | |
Schwerpunkt Brexit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ein Laden in Berlin und der Brexit: „Ein kleiner Englandfimmel“ | |
Oh, my God: Der Laden „Broken English“ in Kreuzberg schloss Anfang des | |
Jahres, auch wegen des Brexits. Dann fand sich mit Antje Blank die | |
Retterin. | |
Schwarze Briten und der EU-Austritt: Der Brexit, das Votum der Weißen | |
Im britischen EU-Austritt sehen Vertreter der Geschäftselite der | |
afrikanisch-karibischen Gemeinschaft neue Chancen – und Gefahren. | |
Einigung zwischen Briten und der EU: Übergangsphase nach dem Brexit | |
Die EU und Großbritannien haben sich auf eine Brexit-Übergangsphase bis | |
Ende 2020 geeinigt. In dieser Zeit soll weitestgehend alles beim Alten | |
bleiben. | |
Versöhnliche EU: Freihandel nach dem Brexit | |
Der EU-Ratspräsident stellt Richtlinien für ein Abkommen mit Großbritannien | |
vor. Freier Handel sei „Kern der Wirtschaftsbeziehungen“. |