# taz.de -- Mittelalter als Touristenattraktion: Der Gòtic-Fake | |
> Barcelonas mittelalterliches Viertel ist eine Erfindung des 20. | |
> Jahrhunderts. Architektonisch stark umgestaltet wurde es systematisch zum | |
> touristischen Ziel. | |
Bild: Brücke zwischen Gebäuden im Barri Gotic in Barcelona | |
Fast jeder kennt und liebt es: das Gotische Viertel von Barcelona. Es ist | |
eines der ältesten Viertel der Stadt und erstreckt sich rund um die | |
Kathedrale, zwischen den Straßen Carrer del Bisbe, der Via Laietana und | |
der Avinguda de la Catedral. Es gehört zu einem der vier Stadtviertel, die | |
früher innerhalb der 1.270 Meter langen römischen Stadtmauer lagen und die | |
dann zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert zu vollem Glanz erblühten. | |
Heute macht das Barri Gòtic neben dem Raval, San Pedro, Santa Catalina i la | |
Riveradas das Herz der Altstadt Barcelonas aus. Rund um die Kathedrale | |
werfen Palastmauern und noble Häuser lange Schatten auf die engen | |
labyrinthischen Gassen. | |
Hunderte, wenn nicht Tausende von Besuchern flanieren täglich durch die | |
Sträßchen und über die Plätze und lassen sich ins Mittelalter | |
zurücktransportieren – oder auch in die nächste Bar oder den | |
nächstgelegenen Souvenir- oder Designerladen. Denn wo die monumentalen | |
Gemäuer Platz lassen, haben sich alle Arten von Geschäften angesiedelt. | |
Urlauber schlendern unter der Pont del Bisbe, der Bischofs- oder | |
„Seufzerbrücke“, hindurch, die mit ihren Spitzbögen zwei mittelalterliche | |
Paläste, den Palau de la Generalitat und die Casa dels Canonges, verbindet. | |
Diese Brücke ist eines der meistfotografierten Objekte Barcelonas. Nur | |
haben unter ihr weder zum Tode Verurteilte geseufzt, noch sind die Könige | |
von Aragón hindurchgewandelt. Vielmehr wurde diese Brücke als | |
Touristenattraktion erfunden. Wie so vieles hier im Barri Gòtic. | |
Das mittelalterliche Viertel ist nichts weiter als eine Erfindung des 20. | |
Jahrhunderts. So belegt es Agustín Cócola Gant in seiner Doktorarbeit, die | |
2011 erschien und bereits in zweiter Auflage vorliegt. Sie erregt immer | |
noch großes Interesse – bisweilen auch Ärger. Denn der Kunsthistoriker | |
nimmt darin lieb gewordene Mythen aufs Korn. Sorgfältig dröselt Cócola die | |
Umgestaltung des Gotischen Viertels auf und zeigt, wie die Stadt schon seit | |
dem frühen 20. Jahrhundert von Lokalpolitikern und Unternehmern | |
architektonisch stark umgestaltet und systematisch in ein touristisches | |
Ziel verwandelt wurde. | |
Den Anfang der Umgestaltung machte man mit der Kathedrale. Ihre einfache, | |
glatt verputzte Fassade wurde für die erste Internationale Weltausstellung | |
1888 in einem recht pompösen neogotischen Stil ergänzt und „verschönert“. | |
Der mittlere Turm kam erst im frühen 20. Jahrhundert dazu. Das Teilstück | |
des „römischen“ Aquädukts an der rechten Seite der Kathedrale ist eine | |
Rekonstruktion aus Franco-Zeiten. | |
## Mittelalter-Mix | |
Cócola weist nach, dass dieses Barri Gòtic ein Fake ist. Dem Besucher wird | |
hier zum großen Teil ein Mittelalter-Mix, eine Collage-Architektur | |
präsentiert, die aus alten Bausteinen und Elementen zusammengestellt wurde. | |
1908 begannen der damalige Denkmalpfleger Jeroni Martorell (Servei de | |
Catalogació i Conservació de Monuments) und der Architekt der | |
Stadtverwaltung, Joan Rubió i Bellver, mit der Umgestaltung des | |
Kathedralenviertels. Auf begrenztem Raum wollte man mit möglichst vielen | |
gotischen Gebäuden ein Ambiente und eine historische und emotionale | |
Intensität schaffen, um die Besucher zu überwältigen, so Adolfo Florensa i | |
Ferrer, einer der damaligen Stadtarchitekten Barcelonas. Und man machte | |
sich daran, der Stadt ein altes Aussehen und neue symbolische Bedeutungen | |
zu geben. | |
Ohne Sorge um historische Authentizität verpflanzten die Architekten | |
Bauteile, Fassaden und ganze Häuser. „Man bezog sich auf die Glanzzeit | |
Barcelonas während des Mittelalters und versuchte auch mittels der | |
gotischen Architektur mittelalterliche Symbole wiederzubeleben“, hebt | |
Còcola hervor. | |
Restaurieren bedeutete damals, die Gebäude zu komplettieren und ihnen Teile | |
hinzuzufügen, die der Idee nach fehlten. Eine Idee, wie zum Beispiel das | |
typische mittelalterliche Landhaus aussehen sollte, hatte der Architekt und | |
Politiker Josep Puig i Cadafalch. Er erfand die Bezeichnung „Casa | |
Catalana“, auch wenn er sich auf existente Haustypen stützte. Das | |
mittelalterliche Landhaus sollte die katalanische Seinsweise widerspiegeln | |
und mit einem großen Portal und den typischen ventanas coronelles | |
(Dreierfenster mit gotischem Spitzbogen) sowie einer Portikusgalerie mit | |
einem seitlichen Turm ausgestattet sein. Nach diesem Vorbild einer | |
katalanischen Architektur restaurierte man etliche Gebäude des Gotischen | |
Viertels, das zuvor ganz einfach Kathedralenviertel hieß. | |
Es wurde gotisiert, wo es nur ging. Fassaden, Tore und Fenster, ja ganze | |
Gebäude wurden verpflanzt. So wurde zum Beispiel der Palast Casa Padellás | |
aus dem 15. Jahrhundert, der heute Sitz des Historischen Museums ist, | |
vollständig abgebaut und an die Plaça del Rei transferiert, was man flink | |
dazu nutzte, ihm eine Portikusgalerie und die Coronella-Dreierfenster mit | |
Spitzbögen angedeihen zu lassen. | |
## Der Wille zur Gotik | |
Etwas Ähnliches geschah mit dem Palau Reial Major aus dem 11. Jahrhundert, | |
der in verschiedenen Epochen umgestaltet worden war und ein neoklassisches | |
Portal hatte. Er wurde zurückgotisiert und mit alten Elementen aus anderen | |
Gebäuden angereichert. Auch den Salò de Tinell auf der Plaça del Rei, in | |
dem angeblich die katholischen Könige Kolumbus’ Erzählungen gelauscht | |
hatten, befreite man von allen umgebenden Gebäuden, um ihn dann auf Basis | |
der Vorstellung, die man von einem mittelalterlichen Gebäude hatte, zu | |
vervollständigen. | |
Dabei setzte man Fenster aus verschiedenen Epochen ein: Rosetten und | |
Drillingsfenster. Die hintere romanische Fassade, die dem Patio des | |
Marés-Museums zugewandt ist, wurde dabei ebenfalls stark umgestaltet. Wie | |
der Stadtarchitekt Rubió bekannte, gab es im Barri Gòtic kaum mehr als | |
sechs Häuser, die mit gutem Willen als gotisch bezeichnet werden konnten. | |
Um die Jahrhundertwende hatte die Stadterweiterung durch das | |
„Eixample-Viertel“ dessen Verbindung mit dem Hafen notwendig gemacht. Man | |
musste eine Schneise durch die Altstadt schlagen. Dem Bau der Via Laietana | |
fielen 335 mittelalterliche Gebäude zum Opfer. | |
Größtenteils waren diese schon sehr baufällig. Es begann eine große | |
Debatte, was mit den mittelalterlichen Fenstern, Kapitellen, Säulen und | |
Steinen geschehen sollte. Die eigens für diese Fragen gegründete Kommission | |
schlug vor, die historischen Bauelemente in einem Museum auszustellen. Doch | |
dann kam man auf eine bessere Idee: die Konstruktion eines gotischen | |
Viertels rund um die Kathedrale. | |
Zeitgleich mit dem Baubeginn der Via Laietana, um 1908, hatte sich die | |
Sociedad de Atracción de Forasteros (SAF) gegründet, eine Gesellschaft, die | |
es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den internationalen Tourismus | |
voranzutreiben und das Potenzial der Stadt auf diese Weise auszubeuten. Das | |
Bürgertum, Politiker wie private Investoren wollten der Stadt ein | |
unverwechselbares Aussehen geben. | |
## Frühes Stadtmarketing | |
„Die Touristen, die Fremden, hätten dann bessere Gründe, nach Barcelona zu | |
kommen und ihr Geld dazulassen.“ So argumentierte der Architekt Jeroni | |
Martorell. Das war 1911. Drei Jahre später sprach sich der Politiker Ramón | |
Rucabado dafür aus, die „normalen“ – also nichtgotischen – Gebäude | |
abzureißen und sie im neu-alten Stil zu ersetzen. So könne man dem Viertel | |
ein geschlossenes Bild geben und ein „echtes gotisches Viertel“ entstehen | |
lassen. Auch stand die nächste große Weltausstellung von 1929 an, zu der | |
man die Stadt weiter aufhübschen wollte. | |
Das Barri Gòtic müsste man aus heutiger Sicht als Fake bezeichnen. Das | |
Viertel war wie ein Konsumartikel für den Besucher geschaffen worden, eine | |
Art Themenpark. Obgleich dagegen einzuwenden ist, dass jede Epoche ihren | |
eigenen Umgang mit historischen Ensembles pflegt. Und dieser sorglose | |
Umgang mit der Geschichte war zu Beginn des 20. Jahrhunderts relativ normal | |
und nicht weiter schockierend. | |
„Rekonstruktionen, die einem Idealmodell des Mittelalters folgten, waren in | |
vielen europäischen Ländern üblich. Besonders in Frankreich, Italien, | |
Belgien und Deutschland. Die Renovierung des Kölner Doms ist ein gutes | |
Beispiel hierfür“, bemerkt Cócola. Allerdings wurde in Barcelona besonders | |
heftig rekonstruiert. Agustín Cócola, der derzeit an der Universität von | |
Lissabon über Gentrifizierung und Tourismus forscht, beklagt, „wie schnell | |
die ‚historische Wahrheit‘ nebensächlich wird, sobald eine erfundene | |
Tradition (Invented Tradition) Erfolg hat.“ Und den hat Barcelona. | |
Nach offiziellen Daten der Stadt strömten 2016 mehr als 30 Millionen | |
Touristen in die katalanische Metropole. Nur während der Franco-Diktatur | |
war die Touristifizierung Barcelonas unterbrochen worden. Und „vieles, was | |
die Tourismusindustrie bereits 1911 vorgeschlagen hatte, an Internationalem | |
Marketing, der Planung von Großveranstaltungen und der Schaffung eines | |
attraktiven historischen Zentrums, wurde in den 1990er Jahren mit der | |
Vorbereitung Barcelonas auf die Olympiade von 1992 realisiert“, erklärt | |
Cócola. | |
Das Wissen um die Erfindung des Barri Gòtic muss den Besuchern die Laune | |
nicht verderben. Im Gegenteil, sie ist ein Teil seiner Geschichte. Ein | |
Teil, der allerdings nicht so gern offengelegt wird. | |
31 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Prinz | |
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