# taz.de -- Arte-Spielfilm „Jonathan“: Soviel zum Pflegenotstand | |
> „Jonathan“ ist der Debütfilm von Autorenfilmer Piotr J. Lewandowski. Er | |
> zeigt deutschen Wald und das Sterben eines Mannes. | |
Bild: Jannis Niewöhner in der Rolle des „Jonathan“ | |
Ein junger Mann pflegt zu Hause seinen todkranken Vater, wäscht ihn, | |
dosiert ihm die Medikamente, die er nicht mehr nehmen will, die ihn auch | |
nicht mehr gesund machen werden. Wer da an den jüngsten Bremen-„Tatort“ | |
(vom 11. März) und den nächsten Problemfilm zum immer größer werdenden | |
Thema „Pflegenotstand“ denkt – könnte falscher nicht liegen. | |
Eher schon bietet sich die Referenz auf Philip Grönings | |
Berlinale-Wettbewerbsfilm „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ an. | |
Ist das vielleicht ein neuer Trend, eine Schule gar, die deutsche Provinz | |
so zu filmen, ihre naturräumliche Schönheit zu zelebrieren, als handle es | |
sich um unendliche Weiten wie im amerikanischen Flyover Country? | |
Zu Letzterem passt dann auch, dass ungebetene Besucher schon mal in | |
Redneck-Manier mit der Schrotflinte vertrieben werden. So was hat man von | |
Barbara Auer, die die Schwester des Totkranken gibt, tatsächlich noch nicht | |
gesehen. | |
## Erotik inklusive | |
Irgendwann liegt „Jonathan“ (Jannis Niewöhner) mit einer Frau nackt auf der | |
Ladefläche seines alten Pick-ups (was sonst?), greift sich eine Handvoll | |
Waldboden, fordert sie auf: „Riech mal!“ Fragt sie: „Wonach riecht das?“ | |
Sagt es ihr: „Ursprung. Zuhause.“ Sie (Julia Koschitz) ist | |
Sterbebegleiterin und gekommen, um Jonathan, der nebenbei mit seiner Tante | |
(Auer) auch noch einen Bauernhof bewirtschaften muss, zu unterstützen. | |
Und das schließt von Anfang an mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit | |
auch die Erfüllung von Jonathans erotischen Bedürfnissen mit ein. Soviel | |
zum Pflegenotstand. | |
Fast der gesamte Film spielt auf dem Bauernhof und in der Natur darum | |
herum. Es gibt nicht einmal ein Dorf. Die Stadt ist ein Mythos, von dem der | |
beste Freund nur träumt: „Dann komm doch mit nach Berlin. Wir holen uns so | |
’ne geile Wohnung, Mann! Da laufen wir den ganzen Tag so im Bademantel rum, | |
mit Zigarre im Maul, und die Mädels dürfen nur im Bikini rein!“ | |
Was wäre ein Familiendrama ohne eine veritable Lebenslüge, die sich langsam | |
Bahn bricht. „Wie war Mama eigentlich so?“, will Jonathan ganz am Anfang | |
von seinem Vater (André M. Hennicke) wissen. Aber der Vater will nur | |
schlafen. „Wieso redet ihr nicht miteinander?“, fragt Jonathan die Tante. | |
Aber die sagt nur: „Gibt nichts zum Reden.“ Ihre Drohung mit dem Gewehr | |
hält den Besucher (Thomas Sarbacher) nicht davon ab, wiederzukommen. Sich | |
einzunisten. Er will helfen, sagt er. So viel zum Pflegenotstand. | |
## Merkwürdige Vertrautheit | |
Aber woher kennen sich die beiden Männer? Woher kommt ihre Vertrautheit, | |
die noch über die Zärtlichkeit zwischen Jonathan und seinem Vater | |
hinausgeht? „Denkst du noch daran, manchmal?“, fragt der Besucher den | |
Vater. „Ich hab an nichts anderes gedacht, all die Jahre“, sagt der Vater: | |
„Hat mich krank gemacht, was passiert ist. Was wir angerichtet haben. Ich | |
hab mich dafür gehasst.“ Und so werden Fährten ausgelegt, und der Zuschauer | |
braucht, wie Jonathan, eine Weile, um es zu kapieren. | |
„Jonathan“ ist das bei der Berlinale 2016 gezeigte Langfilm-Debüt des an | |
der Filmakademie Baden-Württemberg ausgebildeten Piotr J. Lewandowski | |
(Buch und Regie), der zuvor Kurzfilme und die Bibel-Comedy-Serie „Götter | |
wie wir“ (ZDFkultur) gedreht hatte. Sein Blick auf Landschaft und die | |
eigenwillige, irritierende Verschränkung dieser Perspektive mit dem Sterben | |
eines Menschen machen gespannt darauf, was dem jungen Autorenfilmer als | |
nächstes einfällt. | |
Den Sexualtrieb eines siechenden Mannes auf seinem Totenbett zu | |
thematisieren, explizite Bilder dafür zu finden, und das dann einem | |
TV-Sender (natürlich: Arte) zu dessen Primetime unterzuschieben, das muss | |
man als Debütant erst einmal fertigbringen! | |
30 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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Gustl Mollath | |
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