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# taz.de -- Ausstellung „Stockholm Syndrome“: Die Geiseln der Kunst
> Der Kunstverein Harburger Bahnhof präsentiert eine Reihe von
> Versuchsanordnungen, die sich damit befassen, was menschliches Verhalten
> beeinflusst.
Bild: Eine Bühne für die Videos: Hier werden die Filme präsentiert und Semin…
HAMBURG taz | Ein Individuum, das sich aufgrund gleicher Interessen oder
auch zufällig in einer Gruppe wiederfindet, hat zwei Möglichkeiten:
Entweder es beharrt auf seiner Einzigartigkeit – oder es versucht, sich dem
Gruppengeist anzuschließen. Dass sowohl die erhoffte Singularität als auch
der angenommene Gruppengeist keine festen Eigenschaften, sondern immer
wieder neu auszutarieren sind, lässt sich bei genauer Beobachtung solcher
Prozesse feststellen.
Solche Erfahrungen zu machen, ist aber stets mühsam und zeitaufwendig.
Selbst wenn Künstlerinnen in Inszenierungen und Dokumentationsvideos die
persönliche Teilnahme überflüssig machen, bleibt es notwendig, sich länger
darauf einzulassen, so wie derzeit im Kunstverein Harburger Bahnhof.
Auf einer Video-Bühne sind dort Menschen zu beobachten, die nicht ganz
alltägliche Situationen zu meistern haben – unter dem Titel „Stockholm
Syndrome“, das in die Psychologie als Synonym für die Identifikation von
Geisel und Geiselnehmer eingegangen ist.
Vor einer weißen Wand gegenüber dem Eingang des einstigen Wartesaals
begrüßt eine achtköpfige Gruppe das Publikum, die alle anlächelt –
möglichst unbeweglich und gequälte 60 Minuten lang. Wie schnell dabei
Freundlichkeit peinlich und zur Folter werden kann, ist schon nach kurzer
Zeit und höchst amüsant zu bemerken.
Eine weitere Videoarbeit derselben Künstlerin, Anna Witt, kreist um das
Verhalten zufällig ausgewählter Personen, die sich gemeinsam auf
unbestimmte Zeit in einem mit Matratzen ausgelegten Raum aufhalten. In
„Gemeinschaft ohne Eigenschaften“ geht es teils um den Rückzug nach Innen
und teils um schüchterne Kommunikation, um den lästigen Zwang, aber auch
die utopischen Möglichkeiten des Zusammenseins.
Dass die Betrachter auf den gleichen Sitzgelegenheiten wie im Bild Platz
nehmen, deutet an, dass dieses Experiment eine allgemeinere Bedeutung haben
kann. Schade eigentlich, dass die hörbaren individuellen Geschichten und
Visionen ins Leere laufen, wenn sich die Interaktion in dieser von Agonie
überschatteten Gruppe darauf beschränkt, nach einem Feuerzeug für die
letzte Zigarette zu fragen.
Gleichfalls frustrierend, aber eigentlich nicht verwunderlich sind die
Einblicke, die das Ausbildungsvideo „Gnade üben“ von Lisa Bergmann und
Alina Schmuch gibt: Auch kirchliche Seelsorger sind keine Engel, auch sie
müssen pingelig geschult werden und haben ihre schwatzhaften Zweifel an den
geforderten Identifikationen.
Dagegen kommen Management-Seminare in dem anderen Video von Alina Schmuch
geradezu religiös daher: „Hello, my Name is Mystique and Power“. Vielleicht
sparen die hier vor dem Bildschirm verbrachten 43 Minuten ja Geld für
dergleichen Motivationszauberei in der Realität draußen.
## Geronnene Geschichte
Im fünften Film wird es amerikanisch und theatralisch komplex. „Some Things
in Common Perhaps“ der Gruppe „Titre Provisoire“ (Cathleen Schuster und
Marcel Dickhage) ist eine Tanz-Text-Performance in einem alten Haus in New
York City. In der Zeit der Machtübernahme von Präsident Donald Trump
bespielen die vier Akteure „Stimme“, „Körper“, „Sprache“ und „Je…
herrschaftliche Architektur, machen holzgetäfelte Räume und gewundene
Treppen zu Mitspielern in einer Vergegenwärtigung der Repräsentation von
Macht und kolonialem Erbe.
Das läuft nicht ohne einiges Pathos und hochintellektuelle Zitate von
Hannah Arendt und aus B. Travens Roman „Troza“, die in der
Anti-Trump-Kampagne Verwendung fanden. In „Troza“ geht es um die
geschlossenen tropischen Sub-Gesellschaften bei der Mahagoni-Gewinnung und
deren Mikro-Ökonomie: Universale Bau-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
körperlich erfühlt und geronnen zu einer klaustrophobischen Situation. Hier
ist der Geiselnehmer Architektur gewordene Geschichte.
20 Mar 2018
## AUTOREN
hajo schiff
## TAGS
Kunst
Videokunst
Documenta
Kunst
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