# taz.de -- Film über Tonya Harding: Coolness auf dem Eis | |
> Die US-Eiskunstläuferin war ein Star – bis ihre Karriere von Skandalen | |
> überschattet wurde. „I, Tonya“ von Craig Gillespie erzählt ihre | |
> Lebensgeschichte. | |
Bild: Eine Lebensgeschichte voller Gewalt: Tonya Harding, dargestellt von Margo… | |
Noch bevor sich das Reality-TV täglich in die Häuser und Wohnwagen der | |
sogenannten Unterschicht einschlich, um uns mit prekären Lebensumständen zu | |
unterhalten, gab es Tonya Harding. Die US-Amerikanerin wurde als | |
Eiskunstläuferin gefeiert, dann als Verdächtige im Komplott um den | |
körperlichen Angriff auf ihre Kontrahentin Nancy Kerrigan medial gejagt. | |
1994 wurde sie vom US-amerikanischen Eiskunstlauf-Verband lebenslang | |
gesperrt. Damals war Tonya Harding 24 und ihre Karriere am Ende. Ihre | |
Geschichte, die vor allem als Geschichte von Armut, Gewalt und Missbrauch | |
erzählt wurde, kommt nun als unterhaltsames Spektakel in die Kinos. | |
Harding konnte nie das repräsentieren, was die Jurys in einer kostspieligen | |
Disziplin wie der des Eiskunstlaufs von ihr forderten. Einer Idee von | |
Eleganz widersetzte sie sich bewusst mit auffälligen (selbstgenähten) | |
Kostümen, Attitüde und einer Pop- statt Klassikmusikauswahl. Ihre Leistung | |
allein reichte nie. Das Gesamtpaket konnte sie nie erfüllen. | |
Regisseur Craig Gillespie („Lars und die Frauen“) hetzt zu Beginn seines | |
vielfach ausgezeichneten, vermeintlich postmodernen Biopics in atemlosen | |
Montagen (Schnitt: Tatiana S. Riegel) durch die Kindheit Hardings, die sich | |
als wahre Schatztruhe für die Exposition oder Herleitung eines Skandals | |
herausstellt: Da wäre zum einen Lavona Harding, die mehrfach verheiratete, | |
alkoholabhängige und brutale Mutter Tonyas, die mit dem Brandy in der Hand | |
pausenlos flucht, und für deren Karikatur die Schauspielerin Allison Janney | |
mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. | |
Tonya wird verbal gedemütigt, von ihrem Halbbruder sexuell angegriffen, von | |
Lavona mit einer Bürste verprügelt. Das alles wird derart rasant | |
präsentiert und mit einem schmissigen Dauer-Soundtrack unterlegt, dass man | |
sich zwischen Mitsingen und Popcornessen kaum entscheiden kann, während | |
Margot Robbies Tonya Harding alles mit einer Coolness wegsteckt, als sei | |
sie von Quentin Tarantino erfunden. | |
## Vierte Wand durchbrochen | |
Nicolas Karakatsanis’ Kamera wirbelt und fliegt und zoomt währenddessen | |
durchs Geschehen, dass Erinnerungen an Filme wie „Boogie Nights“ oder „Pu… | |
Fiction“ wach werden – zwei Filme, die mit ihren Geschichten nicht weiter | |
entfernt sein könnten von Tonya Harding, deren Inszenierungen aber | |
zweifelsfrei Pate standen. Nicht nur in Zeitkolorit, Kostümen und Frisuren | |
feiert Regisseur Gillespie dabei einen Retro-Charme, er beruft sich auch | |
auf filmische Formen und Ideen, die in den 1980ern und 90ern noch originell | |
waren. | |
Als „ironiefrei“ und „total wahr“ kündigt sich „I, Tonya“ selbstir… | |
Beginn an, zitiert in gespielten Interviewpassagen das ausgelutschte Genre | |
der Mockumentary und lässt Margot Robbie zudem öfter mal, nachdem sie | |
geschlagen wurde (später dann dauerhaft von ihrem Ehemann Jeff Gillooly), | |
in die Kamera gucken, um das Publikum zu adressieren. Vierte Wand | |
durchbrochen, Verfremdungseffekt, „Funny Games“-Referenz und so weiter. | |
Das inszenatorische Augenzwinkern des Films wirkt irgendwann so penetrant, | |
dass man wie Hauptdarstellerin und Produzentin Margot Robbie beim Lesen des | |
Drehbuchs nicht auf die Idee kommt, dass es sich hier irgendwie doch um | |
eine wahre Geschichte handeln könnte. | |
Keine Wahrheiten behaupten zu wollen oder das in der Boulevardpresse bis | |
auf den letzten Tropfen ausgeschlachtete Thema final klären zu wollen (Was | |
wusste Harding wirklich von der Attacke auf ihre Kontrahentin?), ist als | |
filmischer Ansatz gut gemeint. Er birgt aber gleichzeitig die Gefahr der | |
Trivialisierung einer Gesellschaftsschicht, aus der Harding unverkennbar | |
kommt. | |
## Häusliche Gewalt cool inszeniert | |
Drehbuchautor Steven Rogers hat sich sowohl mit Harding als auch mit ihrem | |
Exmann und späteren Manager Gillooly unterhalten und beide zu | |
unzuverlässigen Erzählenden seiner Geschichte gemacht. Wie oft Tonya | |
Harding nun von wem geschlagen wurde, steht auch in Bezug auf Lavona | |
Harding dadurch irgendwann zur Disposition. Harding soll hier kein Opfer | |
sein und schlägt zurück. | |
Der actionreichen Inszenierung häuslicher Gewalt wohnt eine Coolness inne. | |
Reale Interviewpassagen aus zahlreichen Dokumentarfilmen werden zudem mehr | |
oder weniger frei in die Monologe des Films eingeflochten und andere | |
Aspekte wie die überraschend präzisen Ausführungen Lavona Hardings zur | |
US-amerikanischen Klassengesellschaft und der Rolle von Privilegien | |
zugunsten ihrer Rolle als eindimensionale Gegenspielerin vernachlässigt. | |
Die Soziologin und Feministin Danielle Docka spricht in ihrem Aufsatz über | |
die kulturelle Mythologie des „White Trash“ von einer oft komischen und | |
romantisierten Repräsentation der US-amerikanischen Armutskultur. Es gehe, | |
so Docka, oft um konsumierbare und unterhaltsame Geschichten, deren | |
sensationalisierte Darstellungen in stark übertriebenen Versionen einer | |
Realität mündeten. | |
## Endlich wieder Rampenlicht | |
Damit beschreibt sie sicherlich den „poverty porn“ des ungebremst | |
erfolgreichen Reality-TV, dessen Protagonist*innen oft durch einen Mangel | |
an Bildung und Klasse für Lacher sorgen. Sie beschreibt aber auch „I, | |
Tonya“, der sich auf die Fahne schreibt, seine Figuren nicht lächerlich | |
machen zu wollen, dann aber doch mehr an der unterhaltsamen Version einer | |
Realität interessiert scheint als an der Analyse ihrer Umstände. | |
Tonya Harding steht nach einer kurzen Karriere als Boxerin nun wieder im | |
Rampenlicht. Diesmal ist sie Teil von Galas und Preisverleihungen und | |
wieder geht es in Talkshows und in Interviews um ihr Leben. Was sie vom | |
Film hält, will Ellen DeGeneres von ihr wissen: „Ich fand den Film | |
fantastisch“, sagt sie. Wenigstens das. | |
22 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Toby Ashraf | |
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Josef Bierbichler | |
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Oscarpreisträger | |
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