Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Geschichte der kurdischen Gesellschaft: Der Traum vom eigenen Staat
> Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches fanden sich die Kurden in vier
> neuen Staaten wieder. Sie konnten ihren Weg seither nie selbst bestimmen.
Bild: Kurden bekunden ihre Solidarität mit einem verstorbenen Kämpfer
Kurz vor Beginn des kurdischen Newroz-Fests hat die türkische Armee am
Sonntag die kurdische Stadt Afrin in Nordsyrien erobert. Vor zwei Monaten
hatte die türkische Armee gemeinsam mit verbündeten Milizen der Freien
Syrischen Armee (FSA) ihren völkerrechtswidrigen Angriff auf den
westlichsten kurdischen Kanton in Syrien begonnen, um die kurdischen
YPG-Milizen von dort zu vertreiben.
Damit hat sie ihr Ziel, die kurdische Selbstverwaltung in Afrin zu
zerschlagen und das Gebiet unter Aufsicht der Armee der Kontrolle der FSA
zu überstellen, erst einmal erreicht. Glaubt man dem türkischen Präsidenten
Recep Tayyip Erdoğan, soll das erst der Anfang sein. Vollmundig hat er
bereits angekündigt, die YPG-Miliz und damit auch die vorherrschende
kurdische „Partei der demokratischen Union“ PYD aus dem gesamten
türkisch-syrischen Grenzgebiet bis hin zum Irak zu vertreiben und in den
Städten Manbidsch, Kobani und Kamischli eine Türkei-freundliche Herrschaft
zu errichten.
Es scheint, als solle wieder einmal ein kurdischer Traum zerschlagen und in
einen Albtraum verwandelt werden. Für die Kurden hatte es in Syrien gut
ausgesehen. In den ersten Jahren des Aufstandes gegen Präsident Baschar
al-Assad hielten sie sich aus den Kämpfen heraus, was Assad mit einem
Teilrückzug seiner Truppen aus den kurdisch besiedelten Gebieten belohnte.
Nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch den Assad-Klan gab es nun einen
Freiraum, den die Kurden zum Aufbau einer Selbstverwaltung nutzten.
Das geschah zunächst in drei voneinander getrennten Gebieten. Der
Durchbruch erfolgte im Winter 2015 mit dem Sieg in der Grenzstadt Kobani.
Nachdem der „Islamische Staat“ (IS) mit Hilfe der US-Luftwaffe aus Kobani
vertrieben worden war, setzten die kurdischen Milizen nach und schafften es
relativ schnell, das Gebiet zwischen Kamischli und Kobani zu besetzen und
die beiden Kantone zu verbinden. Kurz darauf vertrieb die YPG den IS aus
Manbidsch östlich des Euphrat und bereitete sich darauf vor, von dort aus
das Gebiet zwischen Manbidsch und Afrin unter ihre Kontrolle zu bekommen.
Die Erfüllung des [1][Traums von Rojava], dem autonomen kurdischen Gebiet
entlang der türkischen Grenze, schien nur noch eine Frage weniger Wochen.
Noch ist nicht ausgemacht, was für die Kurden bleiben wird, wenn der Krieg
in und um Syrien zum Erliegen kommt. Doch erst einmal sind sie mit einem
herben Rückschlag konfrontiert. Bei dem Angriff der türkischen Armee ließen
ihre amerikanischen und russischen Verbündeten sie im Stich. Damit
wiederholt sich ein Muster, das sich in ähnlicher Form durch das 20.
Jahrhundert zieht. Die Kurden blieben Objekt größerer Mächte, sie schafften
es nie, zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu werden. Das begann mit der
Aufteilung des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges.
## Instrument fremder Mächte
Lebten sie zuvor, bis auf wenige Stämme in Persien, auf dem Gebiet des
Osmanischen Reiches, fanden sie sich jetzt verteilt auf die neuen Staaten
Türkei, Irak und Syrien wieder. Als sie 1920 im heutigen Nordirak gegen die
britische Besatzung aufbegehrten, weil sie nicht Teil des irakischen
Kunststaates werden wollten, wurden sie zusammengeschossen.
Ähnlich erging es den Kurden in der Türkei. Aufstände in den 20er und 30er
Jahren wurden militärisch unterdrückt. Die Türkei, Irak und Syrien wollten
nicht riskieren, dass ihre Grenzen von den Kurden infrage gestellt wurden.
Für die Machthaber in Ankara, Bagdad, Damaskus und bald auch Teheran wurden
die Kurden zu einer Risikogruppe, die es galt gewaltsam unter Kontrolle zu
halten.
Andererseits galt: Wer von außen die Herrschaft in den jeweiligen
Hauptstädten unterminieren wollte, konnte fast immer die Kurden in den
jeweiligen Staaten als Bündnispartner gewinnen, um nicht zu sagen
instrumentalisieren. Denn auf ihre angeblichen Bündnispartner konnten die
Kurden sich nie verlassen.
Das begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als Stalin die Kurden
benutzte, sich ein Einflussgebiet in dem 1945 teils von Russland und
Großbritannien besetzten Iran zu sichern. Die Kurdenrepublik von Mahabad im
Grenzgebiet zur Türkei und dem Irak war, auch wenn sie von vielen Kurden
als erster Kurdenstaat der Neuzeit verklärt wird, nichts anderes als ein
russisches Protektorat, das mit dem Rückzug der Russen aus dem Iran
zusammenbrach. Von Januar bis Dezember 1946 existierte die Kurdenrepublik,
dann setzte die iranische Armee ihr ein Ende. Präsident Gazi Mohammed wurde
gehenkt, Armeechef Molla Mustafa Barsani floh nach Moskau.
Zurück im Nordirak, wurde Molla Mustafa Barsani, der Vater des heutigen
Präsidenten der autonomen Zone im Nordirak, Massoud Barsani, zum
politischen Führer der Kurden im Nordirak und großen Gegenspieler des
Machthabers Saddam Hussein. Barsani gründete die Kurdische Demokratische
Partei (KDP), der erste Versuch einer politischen Organisation der Kurden,
der über die traditionellen Klan-Loyalitäten hinausging. Anfang der 70er
Jahre war Barsani schon einmal so weit wie die syrischen Kurden heute. Mit
massiver militärischer Unterstützung des Schahs von Persien, im Hintergrund
dirigiert von der CIA, gelang es Barsani, den Truppen von Saddam Hussein
schwere Niederlagen beizubringen.
Die Katastrophe kam 1975. Überraschend einigte sich der Schah mit Saddam
Hussein über einen neuen Grenzverlauf am Mündungsfluss Schatt al-Arab; der
Iran stellte seine Unterstützung der irakischen Kurden ein. Binnen Tagen
brach der militärische Widerstand der Kurden zusammen, Tausende flüchteten
in den Iran. Auch die USA ließen die Kurden fallen und lieferten Hunderte
kurdische CIA-Mitarbeiter der Rache Saddam Husseins aus.
Erst als Amerikaner und Briten nach dem zweiten Golfkrieg 1990/91 über dem
Nordirak eine Flugverbotszone für irakische Kampfflugzeuge und Hubschrauber
einrichteten, konnten die Kurden wieder beginnen, Selbstverwaltungsorgane
zu etablieren.
In der Türkei blieb es nach dem Aufstand in den 30er Jahren zunächst ruhig,
bis sich im Zuge der Studentenbewegung in Istanbul und Ankara in den 70er
Jahren eigene kurdische Organisationen bildeten. Eine davon war die
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die sich Ende der siebziger Jahre als
marxistisch-leninistische Gruppe gründete.
Nach dem Militärputsch 1980 floh die Führungsriege um Abdullah Öcalan nach
Syrien und stellte sich unter den Schutz des Geheimdienstes von Hafis
al-Assad, dem Vater von Baschar al-Assad. Im libanesischen Bekaa-Tal wurden
die ersten PKKler von den Syrern militärisch ausgebildet. Im August 1984
begann der bewaffnete Aufstand der PKK in der Türkei.
## Kurden wurden für eigene Interessen fallengelassen
Assad ließ die PKK erst fallen, als die türkische Armee 1998 mit einem
Einmarsch in Syrien drohte. Öcalan musste fliehen und wurde schließlich in
der griechischen Botschaft in Kenia unter Mithilfe der CIA vom türkischen
Geheimdienst geschnappt. Der größte Teil der PKK-Kader ging in den
Nordirak und setzte von dort den Kampf gegen die türkische Armee fort.
Für [2][Massoud Barsani] war und ist die PKK ein unliebsamer Gast. Die PKK
stellt seinen Herrschaftsanspruch infrage und sieht sich als Vertretung
aller Kurden, nicht nur in der Türkei. Während sie im Irak und im Iran kaum
Gefolgschaft fanden, gelang es ihr mit Gründung der PYD in Syrien, einen
Ableger zu etablieren.
Doch dort wiederholt sich jetzt, was schon im Iran und im Irak passiert
war: die Schutzmächte Russland und Amerika sind dabei, die Kurden für ihre
eigenen Interessen fallen zu lassen. Das größte Problem für die Kurden aber
ist und bleibt ihre Zersplitterung und Rivalität. Sowenig die Kurden im 20.
Jahrhundert als eine Nation agiert haben, so wenig tun sie es heute.
20 Mar 2018
## LINKS
[1] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5447214
[2] /Abstimmung-ueber-Unabhaengigkeit/!5446926
## AUTOREN
Wolf Wittenfeld
## TAGS
Lesestück Meinung und Analyse
Türkei
Kurdendossier
Schwerpunkt Syrien
Kurden
PKK
Rojava
Nordirak
Kurden
Afrin
Kurdendossier
Türkei
Kurden
Türkei
Afrin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wahl mit zwei Jahren Verspätung: Ein frischer Windhauch für Irakisch-Kurdistan
Die Autonome Region Kurdistan im Norden Iraks wählt ein neues Parlament.
Eine Reformpartei bekommt zwar viele Stimmen, doch die alten Mächte
bleiben.
NGO-Bericht zu Menschenrechtsverstößen: Türkei ist für Gewalt verantwortlich
Die türkische Armee ist für Menschenrechtsverletzungen in der nordsyrischen
Stadt Afrin verantwortlich. Das berichtet die Organisation Amnesty
International.
Kurdisches Fest in der Türkei: Die Wut am Newroz-Feuer
Überall in der Türkei darf die kurdische Bevölkerung dieses Jahr das
Newroz-Fest feiern. Zuvor kommt es allerdings zu Festnahmen.
Ethnische Gruppe ohne Staat: Wer sind die KurdInnen?
25 bis 30 Millionen Menschen sind KurdInnen. Wo leben sie? Was wollen sie?
Und warum werden sie so häufig mit Terrorismus in Verbindung gebracht?
PKK-Gründer Abdullah Öcalan: Der Kult um den Ex-Terrorchef
Abdullah Öcalan ist kurdischer Volksheld und türkischer Staatsfeind. Seit
19 Jahren sitzt er wegen Hochverrat auf der Gefängnisinsel Imrali in Haft.
Kurden in Syrien und dem Irak: Erdoğan droht mit Mehrfrontenkrieg
Nach der Eroberung Afrins will Ankara den Krieg gegen die Kurden notfalls
nach Ostsyrien und Nordirak tragen. In Afrin soll es zu Plünderungen
gekommen sein.
Kommentar Assad-Truppen in Afrin: Die falschen Verbündeten
Nicht alle Kurden in Idlib hoffen auf Assads Hilfe. Sie wissen, dass ihre
Demokratische Föderation Nordsyriens unter Assad kaum eine Chance hat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.