| # taz.de -- Vor Kommunalwahl in den Niederlanden: Ich und die anderen | |
| > „Identität“ lautet das große Thema in Rotterdam. Dazu haben nicht nur | |
| > Rechtspopulisten eine ganz besondere Meinung – sondern auch Migranten. | |
| Bild: Rechtspopulist Geert Wilders bei einer Kundgebung in Rotterdam | |
| Rotterdam taz | Nach 36 Jahren in dieser Stadt stellt sich Nourdin el | |
| Ouali, Sohn eines marokkanischen Gastarbeiters, eine grundsätzliche Frage. | |
| Von mehr als der Hälfte der Rotterdamer liegen die Wurzeln jenseits der | |
| Niederlande, sagt er. Dennoch sind sie mehrheitlich, genau wie er selbst, | |
| in diesem Land geboren und aufgewachsen. Die Wiegen der Rotterdamer | |
| niederländischer Abstammung aber standen meistens nicht an der Maas, | |
| sondern anderswo im Land. Nourdin el Ouali schaut herausfordernd und fragt: | |
| „Wer ist hier nun eigentlich der Migrant?“ | |
| Eine bemerkenswerte Überlegung, die einiges hinterfragt, was in dieser | |
| Gesellschaft als gegeben gilt. Noch auffälliger ist, dass el Ouali, ein | |
| kleiner, kräftiger Mann mit schütterem braunen Haar und Chef der jungen | |
| Rotterdamer Partei Nida, sie im Kommunalwahlkampf äußert. Doch wenn in den | |
| Niederlanden am Mittwoch über die Zusammensetzung der Gemeinderäte | |
| entschieden wird, geht es um weit mehr als Parkhäuser oder Einkaufszentren. | |
| Identität ist das zentrale Thema. Und mehr als auf irgendeine andere Stadt | |
| blicken die Niederländer auf Rotterdam, die Hafenmetropole mit ihren mehr | |
| als 170 Nationalitäten. | |
| Nourdin el Ouali, ein gelernter Pädagoge, hat daran keinen geringen Anteil. | |
| Nida, für die er seit den letzten Wahlen einen von zwei Sitzen im Stadtrat | |
| einnimmt, gehört zu einer Reihe neuer Parteien, die in den Niederlanden von | |
| sich reden machen. Oft werden sie einfach „Migrantenparteien“ genannt – | |
| zumindest, wenn man „Migranten“ unnuancierter definiert, als el Ouali das | |
| tut. Nida indes gilt auch als „Islampartei“: Der Name „ist ein Begriff aus | |
| dem Koran und bedeutet Aufruf oder Stimme“, heißt es auf ihrer Webseite. | |
| Ihr Slogan: „Rotterdamer DNA, islamisch inspiriert“. | |
| Ende Januar lädt Nida zum Neujahrsempfang in ein Restaurant im Süden der | |
| Stadt. Die etwa 100 Besucher bekommen Häppchen gereicht, Minztee und | |
| alkoholfreie Cocktails. Der Vorsitzende, Nurullah Gerdan, zieht eine | |
| positive Bilanz nach fünf Jahren Nida. Anschließend steht el Ouali am | |
| Kopfende des Saals und ruft: „Stadtgenossen!“ und meint damit alle | |
| Rotterdamer, die mit den surinamischen Wurzeln ebenso wie die mit | |
| holländischen oder maghrebinischen. „Wir stehen vor einer historischen | |
| Chance: Dem misstrauischen, kleingeistigen Blick auf unsere Stadt können | |
| wir Vertrauen und Liebe entgegensetzen und sie inklusiver, sozialer und | |
| nachhaltiger machen!“ | |
| ## Die Gegenbewegung zu den Rechtspopulisten | |
| Und el Ouali hält ein leidenschaftliches Bekenntnis in Sachen „Rotterdamer | |
| DNA“ ab. Die Stadt, sagt er, sei anderen immer ein paar Jahre voraus. Er | |
| beschreibt sie als Wiege des Rechtspopulismus in den Niederlanden, | |
| skizziert den Aufstieg Pim Fortuyns, die „Ideen von Islamisierung und | |
| Muslimen, die die Stadt übernehmen“. Als junger Mann habe er sich davon | |
| angesprochen gefühlt – „im Sinne von: Er redet über mich“. Sein Fazit: … | |
| die Gegenbewegung, Diversität und radikale Gleichheit aller Menschen | |
| betonend, musste hier ihren Anfang nehmen. | |
| Wer einmal durch die Straßen dieser Stadt streift, kann sich darunter | |
| zweifellos etwas vorstellen. Über die Trottoirs von Rotterdam laufen | |
| Surinamer, Afrikaner und Antillianer, Türken, Holländer, Indonesier und | |
| Marokkaner. In ihrem beständigen Strom sieht man Miniröcke, hohe Absätze, | |
| Turbane, Hidschabs, die ewigen Trainingsanzüge des Fußballklubs Feyenoord | |
| und die Bomberjacken der letzten Techno- Kids, die schon längst keine Kids | |
| mehr sind. | |
| Was aber meint Nida mit „islamischer Inspiration“? Das Wahlprogramm | |
| verharrt im unbestimmten Schwelgen über etwas, das „so universell und | |
| essenziell wie das Wasser“ ist. Die Wirtschaft, so heißt es, habe Religion | |
| und Ethik verdrängt. Nida wolle „Ruhe- und Besinnungsräume“ errichten, in | |
| Einkaufszentren etwa, Spiritualität fördern und das abhandengekommene | |
| „Gleichgewicht in der Welt“ wiederherstellen. Was aber bedeutet das? | |
| Nourdin El Ouali gibt bereitwillig Antwort – doch diese bleibt vage. Er | |
| spricht vom Islam als „Ansporn zum Guten“ und „Quelle positiver Energie“ | |
| und der Notwendigkeit, der sich ausbreitenden Islamophobie etwas | |
| entgegenzusetzen. Eine Muslimpartei sei Nida aber nicht: „Auf der Liste | |
| stehen alle möglichen Menschen. Gläubig oder nicht, das spielt keine | |
| Rolle.“ Eher gehe es um Punkte wie die Gleichheit aller Menschen, auf die | |
| der Islam jedoch kein Monopol habe. | |
| Natürlich ist das mit dem Islam auch ein Label, das Wähler anzieht. Und | |
| eines, das den Eindruck weckt, dass der Urnengang zunehmend einen | |
| ethnischen Anstrich bekommt. Ist sich El Ouali dessen bewusst? „Zum Teil | |
| trifft das sicher zu. Aber es geht auch darum, dass Rotterdamer anderer | |
| Herkunft sich früher in anderen Parteien organisiert haben. Dort waren sie | |
| gut genug, um Stimmen zu holen, bekamen aber nicht genug Raum, um sich | |
| wirklich einzubringen.“ Dass Parteien wie Nida gerade Politiker und Wähler | |
| linker Parteien anziehen, nennt El Oualis einen „Prozess der Abkoppelung | |
| von einer Vormundschaft“. | |
| Tunahan Kuzu, ebenfalls 36, ist ein solches Emblem dieser Entkoppelung. | |
| Geboren in Istanbul, aufgewachsen in der Umgebung Rotterdams, wird er zum | |
| Musterbeispiel gelungener Integration: Kuzu studiert Verwaltungskunde an | |
| der Erasmus-Universität, arbeitet bei PricewaterhouseCoopers und zieht 2008 | |
| für die sozialdemokratische Arbeiterpartei in den Stadtrat ein. Vier Jahre | |
| später wird er ins Parlament in Den Haag gewählt. | |
| ## „Die Niederlande gehören uns“ | |
| 2014 aber kommt der Bruch. Es ging um ein Positionspapier, in dem sich die | |
| Sozialdemokraten von konservativ-nationalistischen türkischen | |
| Organisationen wie Milli Görüş und Ditib distanzierten. Kuzu und sein | |
| Fraktionskollege Selçuk Öztürk verlassen die Sozialdemokraten. Wenig später | |
| gründen sie eine eigene Partei namens Denk und stellen sie als | |
| Gegenbewegung zur populistischen Strömung im Land vor. Ihr Wahlspruch | |
| lautet „Gegen Rechtsruck, Verrohung und Verhärtung der Gesellschaft“. 2017 | |
| schaffen auf Anhieb drei Denk-Abgeordnete den Sprung ins Parlament: Kuzu, | |
| Öztürk und der in Marokko geborene Farid Azarkan. | |
| An einem klammen Winternachmittag tauchen Tunahan Kuzu und Selçuk Öztürk | |
| mit etwa zwei Dutzend Mitstreitern auf dem Theaterplatz von Rotterdam auf. | |
| Die meisten von ihnen sind jung und haben türkische Wurzeln. Sie tragen | |
| weiße Windjacken mit dem Denk-Logo zweier ineinander geschlagener Hände. | |
| Rasch gehen sie vor dem Theater in Stellung und entrollen ein Transparent: | |
| „Die Niederlande gehören uns allen!“ steht darauf. Eine Reihe von | |
| Polizisten schiebt sich vor sie. Oder besser: zwischen die Denk-Aktivisten | |
| und dem Demonstrationszug, der jetzt vor dem Theater zum Stehen gekommen | |
| ist. | |
| Auch an der Spitze dieses Zugs fällt ein Transparent ins Auge mit fast | |
| identischer Aufschrift: „Die Niederlande gehören uns.“ Hier lässt sich mit | |
| Händen greifen, wie aufgeladen diese Kommunalwahl ist. Denn es stehen die | |
| großen Fragen zur Verhandlung: Wer gehört zu diesem Land, unter welchen | |
| Bedingungen, und wer bestimmt eigentlich darüber? Hinter dem Plakat laufen: | |
| Maurice Meeuwissen, der Rotterdamer Spitzenkandidat der Partei für die | |
| Freiheit (PVV). Geert Wilders, deren Galionsfigur. Und Filip de Winter, | |
| sein Äquivalent vom Vlaams Belang aus Belgien. Was bitte macht der | |
| eigentlich hier im kommunalen Wahlkampf des Nachbarlands? | |
| Tunahan Kuzus Stimme bekommt etwas Abschätziges: „Die Leute, die dort | |
| stehen, sind voller Hass. Ihr großer Führer hat sie hergerufen“, spöttelt | |
| er. „Viele von ihnen kommen nicht mal von hier. Wir dagegen: alles | |
| Rotterdamer!“ Als wolle er die Worte unterstreichen, schwenkt jemand von | |
| Denk eine Fahne in Weiß und Grün, den Farben der Stadt. „Rotterdam ist eine | |
| Weltstadt, in der Menschen von überallher wohnen und arbeiten“, fährt Kuzu | |
| fort. „Und wo diese Leute Hass und Grenzen wollen, stehen wir für | |
| gegenseitige Solidarität und Zusammengehörigkeit.“ | |
| ## Die Strategie gegen die holländischen Rechten | |
| In diesem Wahlkampf hat Denk eine auffällige Strategie gewählt. Wo immer | |
| die Partei für die Freiheit auftaucht, stellen sie sich ihnen entgegen. | |
| Friedlich, aber mit unmissverständlicher Aussagekraft. Ein wichtiger Punkt | |
| dabei: nicht provozieren lassen. Auch nicht, wenn von den politischen | |
| Gegnern meckernde Ziegen imitiert werden, ein Hinweis auf den türkischen | |
| Staatschef Rezep Tayyip Erdoğan, den Ziegenficker, und obwohl die | |
| Denk-Demonstranten nicht darauf eingehen, merkt man den PVV-Anhängern an, | |
| wie viel Spaß sie an ihrem Einfall haben. | |
| Die Konfrontation ist symbolisch: Die politische Auseinandersetzung | |
| zwischen Rechtspopulisten und den neuen Parteien, die Diversität | |
| propagieren und häufig doch vor allem auf Identität setzen, nimmt an Fahrt | |
| auf. Wieder einmal haben die Niederlande eine Vorreiterrolle, denn eine | |
| ähnliche Konstellation zeichnet sich in einigen Nachbarländern ab. | |
| Rotterdam, die Stadt mit dem größten Hafen Europas und sieben der zwanzig | |
| ärmsten Vierteln des Landes, in der die Arbeitslosigkeit beinahe doppelt so | |
| hoch ist wie im niederländischen Durchschnitt, ist der Hauptschauplatz | |
| dieser Auseinandersetzung. | |
| Zugleich ist Rotterdam die Stadt mit einem sprichwörtlichen Arbeitsethos. | |
| Ausdrücke wie „Ärmel hochkrempeln“ oder „Nicht labern, arbeiten“ geh�… | |
| zum kulturellen Selbstbild seiner Bewohner, auch um sich von der | |
| vermeintlich blasierten Eleganz Amsterdams abzusetzen. Rotterdam, das ist | |
| raue Ehrlichkeit, sind die Betonwüsten, in denen die von den Deutschen 1940 | |
| zerbombte Stadt nach dem Krieg wiederauferstand, als Behausungen nötig | |
| waren und Ästhetik nicht oben auf der Wunschliste stehen konnte. In den | |
| 1990er Jahren nahm der Beton akustische Form an und wurde um Gabbertechno, | |
| der von Rotterdam aus durch Europa zog. Erst danach entwickelte sich | |
| Rotterdam zum Architektur-Mekka, wo steile Glasfassaden aus der Maas zu | |
| schießen scheinen und eine Skyline bilden, die Amsterdam, nun ja, alt | |
| aussehen lassen. Noch ist die Stadt erschwinglich, doch der Boom hat | |
| begonnen. | |
| ## Rotterdam ist der Trendsetter, vom Fußball bis zur Politik | |
| Schon immer zeigten sich hier die ersten Formen neuer Entwicklungen, die im | |
| Rest des Landes folgen würden: 1968 gab es die erste Metro, 1970 gewann | |
| Feyenoord den Fußball-Europacup. Kurz nach dem Millennium tauchte mit Pim | |
| Fortuyn der erste moderne Rechtspopulist auf. 2009 wurde mit Ahmed | |
| Aboutaleb erstmals ein Migrant Bürgermeister einer europäischen Metropole. | |
| Derzeit gibt es noch einen weiteren Grund, weshalb Europa auf diese Stadt | |
| schauen sollte: Ausgerechnet in dieser alten Arbeiterhochburg ist der | |
| Verfall der Sozialdemokratie besonders weit fortgeschritten. | |
| Begünstigt hat das diejenigen Parteien, die auf das Thema Identität setzen. | |
| Viele Wähler sind bei der PVV, aber inzwischen auch bei Denk gelandet, was | |
| auf Türkisch übrigens „gleich“ bedeutet. Im Parlament in Den Haag sind | |
| beide vertreten – die PVV als stärkste Oppositionspartei, Denk als | |
| Neulinge. Kommunal treten sie in Rotterdam zum ersten Mal an. Bei den | |
| Parlamentswahlen im letzten Jahr waren beide in armen Vierteln wie | |
| Feijenoord die stärksten Parteien. | |
| Den größten Rückhalt hat Denk bei türkischstämmigen Rotterdamern. Und just | |
| in türkei-spezifischen Fragen zeigt die Partei ein Profil, das nichts zu | |
| tun hat mit der propagierten „gegenseitigen Solidarität und | |
| Zusammengehörigkeit“. Geht es um kritische türkische Journalisten wie Can | |
| Dündar oder um Erdoğan-Gegner, liegt Denk zuverlässig auf der Linie der | |
| türkischen Regierung. Im Februar 2018 stimmten fünf türkischstämmige | |
| Abgeordnete in Den Haag dafür, dass die Niederlande den Genozid an den | |
| Armeniern anerkennen. Worauf Denk-Gründer Kuzu ihnen öffentlich vorhielt, | |
| sie müssten sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Er selbst hat | |
| das wohl schon getan: Es gibt Fotos und Videos, die ihn neben Anhängern der | |
| türkischen Grauen Wölfe zeigen. Dem Rechtspopulisten Geert Wilders kann | |
| Kuzu zweifellos das Wasser reichen, wenn es um nationalistische | |
| Bündnispartner mit zweifelhafter Reputation geht. | |
| ## Besorgte Bürger, Rechtsextreme und Geert Wilders | |
| Einmal mehr ist die übliche Mischung aus besorgten Bürgern und Extremisten | |
| an diesem Tag dem Aufruf der PVV nach Rotterdam gefolgt: Vertreter von | |
| Pegida und der neonazistischen Nederlandse Volks-Unie sind zu sehen, | |
| Mitglieder der völkischen Voorpost-Bewegung verteilen Flugblätter. Eine | |
| Delegation des flämisch-separatistischen Vlaams Belang stimmt lauthals den | |
| identitären Schlachtruf „Eigen volk eerst“ an. „Geht doch nach Hause nach | |
| Belgien“, ruft ein Gegendemonstrant ironisch. | |
| Bevor sich der Zug in Richtung Innenstadt auf den Weg macht, sagt Wilders | |
| am Rand des Rotterdamer Bahnhofsplatzes der Regierung den Kampf an. Genug | |
| habe er von der „Diskriminierung der Niederländer“, von Elite, | |
| Islamisierung und Asylbewerbern, die alles umsonst bekämen, während | |
| rechtschaffene Einheimische ihre Pflegekosten nicht bezahlen könnten. Doch | |
| damit sei jetzt Schluss: „Ich rufe das Volk massenhaft zum Widerstand | |
| auf!“, tönt es durch die kalte Luft. „Die Niederländer werden sich ihr La… | |
| zurückholen!“ Hier in Rotterdam soll bei den Kommunalwahlen der Anfang | |
| gemacht werden. | |
| Auch für die PVV hat diese Stadt eine besondere Bedeutung. Es ist die | |
| einzige Metropole des Landes, die nicht überwiegend linksliberal wählt. Die | |
| einzige, die sich zu einer Hochburg der PVV entwickelt hat. Und, auf | |
| kommunaler Ebene, die einzige, wo sie auf Konkurrenz vom eigenen Schlag | |
| trifft. Es geht dabei nicht um irgendeine Partei, sondern, wenn man so | |
| will, um die Ursuppe des niederländischen Populismus, wo vor anderthalb | |
| Jahrzehnten Pim Fortuyn großwurde und man sich bis heute als die Bewahrer | |
| seines Erbes sieht: Leefbaar („Lebenswertes“) Rotterdam. | |
| 2014 gewann die Partei mit Abstand die Wahlen in der Stadt und stellt | |
| seither drei von sechs Dezernenten – noch so eine Rotterdamer Premiere. An | |
| einem Februarabend veranstaltet „Leefbar“ im Weltmuseum am Maasufer eine | |
| Podiumsdiskussion. Das Ambiente ist distinguiert: ein edler Saal im ersten | |
| Stock, mit hellem Holzboden, Kronleuchtern und weißen Vorhängen. Aus hohen | |
| Fenstern fällt die Aussicht auf den Strom. Ab und an zieht ein Frachtschiff | |
| vorbei. Doch dafür hat in dem überfüllten Raum niemand Augen, denn das | |
| Thema lautet: Die „Weg mit uns“-Debatte. | |
| „Weg mit uns“ ist eins dieser Schlagworte, bei denen die Stimmung hoch | |
| kocht. Es geht um die vermeintliche Abschaffung der kulturellen Identität | |
| im Zuge von Multikulti und politischer Korrektheit. Auf dem Podium fliegen | |
| die Fetzen: zwischen einem linken und einem rechten Publizisten, der | |
| türkischstämmigen Moderatorin und Farid Azarkan, der für Denk im Parlament | |
| in Den Haag sitzt. Azarkan hat eine Gruppe Unterstützer mitgebracht, die | |
| johlt und buht. Auch der Rest des Publikums geht lebhaft mit. | |
| Einmal mehr zeigt sich: Der Rahmen dieser Kommunalwahlen ist vollkommen | |
| überfrachtet. Man streitet über die Frage, ob Migration „ein Anschlag auf | |
| unsere Identität“ sei. Aber auch über den Vorschlag, die Denkmäler | |
| vermeintlicher „Seehelden“ aus der niederländischen Geschichte mit einem | |
| Disclaimer zu versehen, wegen ihrer Verstrickungen in Kolonialismus und | |
| Sklavenhandel. Gegenvorschlag von „Leefbaar“: eine entsprechende | |
| Kennzeichnung an der Eingangstür zu Moscheen – wegen der gewalttätigen | |
| Geschichte des Islam. Leefbaar-Politiker fordern Migranten dazu auf, aus | |
| ihrer Opferrolle zu kommen. Farid Azarkan hält dagegen: „Weg mit uns – was | |
| für eine Opfermentalität ist das denn?“ | |
| Später am Abend ist Joost Eerdmans, der Spitzenkandidat von „Leefbaar“, | |
| besorgt: über die wachsende Zahl ethnisch definierter Parteien. „Früher | |
| wählten Ausländer Sozialdemokraten. Jetzt überlegen sie, wo sie besser zur | |
| Geltung kommen, und wählen eine Partei, die aus der Türkei gelenkt wird, | |
| oder eine islamische. Es gibt sogar eine Partei für Afrikaner! Bald haben | |
| wir eine für jede Nationalität“, schnaubt der schlaksige Mann mit dünnem | |
| hellbraunen Haar. Er ist Spitzenkandidat von „Leefbaar“. | |
| Eerdmans, 47, war in den letzten vier Jahren Dezernent für Sicherheit in | |
| Rotterdam. Einst saß er für die Partei Pim Fortuyns im Parlament in Den | |
| Haag. Die Stadt sieht er nun „an einer Kreuzung“: Geht es weiter mit dem | |
| Weg, den Rotterdam zuletzt einschlug? Harter Kurs in puncto Integration und | |
| Sicherheit? Oder gewinnt das „Opferdenken“ die Oberhand, das er | |
| migrantischen Parteien vorwirft? | |
| Einer Sache ist sich Eerdmans gewiss: Die Niederlande blicken auf seine | |
| Stadt. „Hier kommt alles zusammen: Denk, Nida, die PVV und wir. Der Fokus | |
| liegt wie immer auf Rotterdam!“ | |
| 19 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Müller | |
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