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# taz.de -- Debatte um neuen Gesellschaftsvertrag: Rendezvous mit der Ungleichh…
> Fehlende Gerechtigkeit und Solidarität: Der Gesellschaftsvertrag wird
> ernsthaft infragegestellt. Linke müssten für einen neuen streiten.
Bild: Soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit – dafür muss eine G…
Die „besorgten Bürger“ – nicht umsonst meist in der männlichen Form
bezeichnet – sind zum geflügelten Wort der gesellschaftspolitischen
Auseinandersetzung geworden. Mal werden ihre vermeintlichen oder
tatsächlichen Ängste für eine nationalistische, fremdenfeindliche Agenda in
Anspruch genommen; mal wird versucht, diese Ängste für eine Politik zu
kanalisieren, die sich gegen den fortschreitenden neoliberalen Umbau der
Gesellschaft wendet. Gelegentlich wird auch eingeworfen, man solle die
Bürgersorgen nicht gar so ernst nehmen, schließlich seien sie erst im
politischen Diskurs geschaffen worden.
Wie dem auch sei: Die emotionalen Überzeugungen der BürgerInnen davon, was
gesellschaftlich gut und richtig ist und was dagegen schlecht und falsch,
sind eine zentrale Kategorie von Politik. Die BürgerInnen politischer
Gemeinwesen haben durchaus ihre Vorstellungen davon, wem was zusteht und
wer zu was verpflichtet ist, wer welche Rechte haben soll und wer wofür
aufzukommen hat. Und sie haben, wenn die politischen Verhältnisse diesen
Vorstellungen nicht entsprechen, die Wahrnehmung, dass etwas faul sei im
Staate.
Genau dies scheint aktuell der Fall zu sein. Die politische und soziale
Stabilität der Nachkriegsrepublik gründete in einem Gesellschaftsvertrag,
dessen Gültigkeit heute ernsthaft in Frage steht. Dieser
Gesellschaftsvertrag wurde von niemandem am Verhandlungstisch
unterzeichnet. Und doch war er über Jahrzehnte hinweg wirksam. In der
historischen Soziologie ist die Figur des ungeschriebenen
Gesellschaftsvertrags wohl bekannt: Sie meint jenes stillschweigende
soziale Einvernehmen, welches Gesellschaften im Innersten zusammenhält.
Eine Übereinkunft, die stets umstritten ist, die immer nur bis auf Weiteres
gilt – und die irgendwann eben nicht mehr trägt, sich auflöst oder
aufgekündigt wird.
Für den unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag der westeuropäischen
Nachkriegszeit stand der demokratisch-kapitalistische Wohlfahrtsstaat. Sein
Institutionensystem war Ausdruck eines umfassenden sozialen Tausches: Die
BürgerInnen akzeptierten die ökonomische Herrschaft der Kapitaleigentümer
und das politische Herrschaftsprinzip der repräsentativen Demokratie – im
Tausch gegen Teilhabe am wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand, gegen ein
Recht auf Einkommenssicherheit und die Aussicht auf sozialen Aufstieg.
Dieses gesellschaftliche Tauschgeschäft, für das in der Bundesrepublik die
übergreifend akzeptierte Formel von der „sozialen Marktwirtschaft“ geprägt
wurde, hatte freilich eine zweite, hintergründige Seite, die kaum je
thematisiert wurde. Diese problematische Übereinkunft lautete: Die
politischen Eliten schützen den nationalen Wohlstands- und Wohlfahrtsraum
gegen Anfechtungen von außen – gegen Wirtschaftsmächte in Ostasien ebenso
wie gegen übermäßige Zuwanderung aus Osteuropa, gegen innereuropäische
Umverteilungsforderungen wie auch gegen unbotmäßige Interventionen aus
„Brüssel“.
Politische Loyalität gegen Wohlstand und Teilhabe nach innen einerseits,
Schutz und Abwehr nach außen andererseits: Das war der große historische
Kompromiss, der auf verschiedene Weise in allen Industriegesellschaften des
Westens gefunden wurde. Über mehrere Jahrzehnte hinweg vermochte er diese
politisch zu stabilisieren und ihnen weltwirtschaftlich einen Platz an der
Sonne zu garantieren. Jetzt aber wird zunehmend offensichtlich, dass dieser
doppelte Gesellschaftsvertrag nicht mehr trägt.
## Auf Protest gebürstet
Was die „innere“ Seite des Gesellschaftsvertrags angeht, so hat sich die
durch die wirtschaftliche Globalisierung mit zusätzlichen Machtressourcen
ausgestattete Kapitalseite von jenem Kompromiss verabschiedet, der ihr in
der Nachkriegszeit abgerungen worden war – und den sie immer schon als zu
teuer empfunden hatte. Den neoliberalen Umbau des Wohlfahrtsstaats, den
Abbau von Arbeitsrechten und Sozialschutz, hat das Kapital mal direkt
erwirkt, mal durch Abwanderungsdrohungen und Niedergangswarnungen erpresst.
Die „Hartz-IV-Reformen“ haben ein sozial deklassiertes Milieu
hervorgebracht. Und die Rentenpolitik wird absehbar zu einer großen
Altersarmut führen – allen „Haltelinien“ zum Trotz.
Während die zunehmende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen an der
Stabilität des demokratischen Kapitalismus nagt, wurde in jüngster Zeit
offenkundig, dass auch die „äußere“ Seite des Gesellschaftsvertrags
unhaltbar geworden ist. Die Zuwanderungsbewegung der letzten drei Jahre hat
die Deutschen jäh daran erinnert, dass sie eine jener wenigen
Wohlstandsinseln bewohnen, deren Lebensbedingungen begehrenswert für
Unterprivilegierte sind.
Was wir derzeit erleben, sind affektgeladene Reaktionen der schwächeren
Partei des Gesellschaftsvertrags auf die Auflösung seiner inneren wie
äußeren Bedingungen. Den versagenden politischen Eliten, die das Kapital
nicht bei der Stange halten konnten, wird nun ihrerseits die Gefolgschaft
versagt: Das Wahlvolk ist im Binnenverhältnis auf Protest gebürstet.
Zugleich verhält es sich im Außenverhältnis zunehmend aggressiv, weil
nennenswerte Teile der Bevölkerung den effektiven Schutz des nationalen
Sozialraums vor dem Elend der Welt nicht mehr gewährleistet sehen. Die
politischen Eliten wiederum reagieren mit einer erratischen Mischung aus
Wirtschaftshörigkeit und Publikumsbeschimpfung, fiskalischer Austerität und
selektivem Protektionismus, geschwollener Weltoffenheitsrhetorik in
Sonntagsreden und knallharter Festungsmentalität im Tagesgeschäft.
Im Ergebnis führt die Erschütterung der gesellschaftspolitischen
Nachkriegskonstellation nicht zu einer Rückkehr des Klassenkonflikts,
sondern zu dessen Überlagerung durch einen Kulturkampf, der von rechts
befeuert, von der Mitte zumindest geduldet und von links allenfalls
halbherzig zu unterbinden versucht wird. Und während die Leute auf ihre
Eliten zwar kräftig schimpfen, wird letzten Endes doch wie üblich nach oben
gebuckelt, nach unten getreten und nach außen gezündelt.
## Das Angstszenario „offener Grenzen“
Bemerkenswerterweise sind es in dieser Situation weder die SPD noch die
Linkspartei oder die Grünen, die aussprechen, was sich nicht länger leugnen
lässt. Es war vielmehr Wolfgang Schäuble, der auf dem Höhepunkt der
„Flüchtlingskrise“ den Deutschen eröffnete, dass sie nun ihr lange
aufgeschobenes Rendezvous mit der Globalisierung hätten – und der ihnen
jüngst nahelegte, sich mit der Aussicht vertraut zu machen, dass die
meisten Geflüchteten gekommen sein werden, um zu bleiben. Wer sich freilich
an Schäubles Umgang mit der „Griechenlandkrise“ erinnert, mag ahnen, dass
hier der Schritt vom Realismus zum Autoritarismus nicht weit ist. Es ist
daher an der gesellschaftlichen und politischen Linken, das Unabweisbare
ebenso deutlich auszusprechen – und eine progressive politische Agenda
daraus zu entwickeln, die der Versuchung widersteht, das Wohl der hiesigen
Lohnabhängigen in der möglichst effektiven Abwehr „fremder“
Teilhabeansprüche zu sehen.
Denn die Gründe dafür, dass der Gesellschaftsvertrag im Inneren erodiert,
haben mit den Fluchtbewegungen seit 2015 nichts zu tun, sie sind älteren
Ursprungs und müssen als solche angegangen werden. Es ist gleichzeitig
notwendig, unseren Gesellschaftsvertrag endlich an die Realität einer
globalisierten Welt anzupassen. Doch das wird derzeit sabotiert. Die Rechte
hat es geschafft, die Regierungspolitik vor sich her zu treiben – im Namen
eines „Volkes“, das faktisch eine Minderheit der Bevölkerung darstellt.
Wer gibt heute noch jener Mehrheit eine Stimme, die nach wie vor die
Aufnahme und Integration von Geflüchteten und Zuwandernden befürwortet?
Eine Politik, die nur noch darauf abzielt, keine Flüchtlinge mehr ins Land
zu lassen, muss in der Konsequenz auch Integration scheitern lassen – die
in dieser Logik nur als falscher Anreiz zur Migration gilt. Das
Angstszenario „offener Grenzen“ lenkt von dem ab, was eigentlich ansteht:
Wer setzt sich eigentlich für ein Immigrationsgesetz ein, das nicht nur die
besten Fachkräfte aus aller Welt ins Land lassen will? Wer für ein
nationales und europäisches Asylrecht, das den Namen noch verdient? Und wie
steht es um die Bereitschaft in Deutschland und den Ländern des „globalen
Nordens“, endlich der globalen Umweltzerstörung entgegenzuwirken, die
zukünftig noch weitaus stärkere Migration zur Folge haben wird?
Eine zeitgemäße Linke müsste für einen neuen Gesellschaftsvertrag streiten.
Für einen, der so realistisch ist, die Unhaltbarkeit des alten
Gesellschaftsvertrags als soziale Tatsache anzuerkennen. Denn die Leute
kommen ja nicht zu uns, weil es offene Grenzen gäbe, sondern weil sich die
reichen Länder jahrzehntelang gegen die armen Länder abgegrenzt haben – und
weil es Grenzen der Leidensfähigkeit und der Bereitschaft zur Hinnahme
derart krasser globaler Ungleichheit gibt. Zeitgemäß links, das heißt auch
einstehen für einen Egalitarismus, der beide, die hiesigen Lohnabhängigen
ebenso wie die in den Krisen- und Armutsgebieten der Welt um Lebenschancen
kämpfenden Menschen, als gleichermaßen Berechtigte anerkennt.
Auf dem Weg zu einem egalitären Gesellschaftsvertrag sind das „Innen“ und
das „Außen“, wir und die anderen, untrennbar miteinander verbunden. Denn
nur eine Gesellschaft, die soziale Ungleichheit im Inneren reduziert, kann
auch Solidarität nach außen üben, indem sie entschieden gegen die Ursachen
von Flucht und Vertreibung angeht. Und nur eine Gesellschaft, die endlich
anerkennt, dass sie ihren Wohlstand nicht länger auf systematischen Raubbau
an der Natur gründen und zulasten der Lebenschancen großer Teile der
Menschheit mehren kann, wird auch ihren Frieden finden. Mit ihrer globalen
Umwelt. Und mit sich selbst.
24 Oct 2018
## AUTOREN
Martin Kronauer
Stephan Lessenich
## TAGS
Kapitalismus
Solidarität
Nachkriegszeit
Hartz IV
Polizei Sachsen
Wahlen NIederlande
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