| # taz.de -- Winter in Nordjapan: Am Ende der Welt | |
| > Arktische Eisschollen und Spaßtourismus auf der Insel Shiretoko. Und ein | |
| > Nationalpark, wo Touristen die letzte japanische Wildnis suchen. | |
| Bild: Wanderung auf dem Packeis | |
| Im Winter ist das abgelegene Gebiet kalt, farblos und frostig, das | |
| Ökosystem weitgehend unberührt, die biologische Vielfalt intakt. Im | |
| grau-nebeligen Meer vor der felsigen Küste schaukeln zerklüftete | |
| Eisschollen, arktische Eisschollen. In der kleinen Hafenstadt Rausu, | |
| Ausgangspunkt für winterfeste Reisende, Naturbeobachter, Vogelkundler, | |
| Trekker oder Fotografen, warten Eisbrecher und Fischerboote auf ihren | |
| Einsatz. Die Rede ist von Japans einzig verbliebener wahren Wildnis, einem | |
| Ort mit atemberaubender Landschaft und seltenen Tieren, auf der Insel | |
| Hokkaidô, der nördlichsten der vier Hauptinseln. | |
| Hokkaidô ist das historische Siedlungsgebiet der Ainu, der Ureinwohner | |
| Nordjapans. Die von drei Meeren – dem Japanischen Meer, dem Ochotskischen | |
| Meer und dem Pazifischen Ozean – umgebene Insel wurde wegen der sibirischen | |
| Kälte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als einträgliches | |
| Landwirtschaften möglich geworden war, offiziell besiedelt. Hokkaidô ist | |
| heute die größte der insgesamt 47 Präfekturen Japans, auch Namensgeber für | |
| den kleinen orangefarbenen Lieblingskürbis der Deutschen. Sapporo, die | |
| Präfektur-Hauptstadt, ist bekannt als einstiger Austragungsort der | |
| Olympischen Winterspiele. | |
| Dort auf Hokkaidô, im äußersten Osten, liegt Shiretoko. Der Name entstammt | |
| der Sprache der Ainu, und bedeutet „Ende des Landes“ oder auch, aus | |
| damaliger wie aus heutiger Sicht, das „Ende der Welt“. Shiretoko ist eine | |
| Halbinsel, die, einem ausgestreckten Finger gleich, in das Ochotskische | |
| Meer zeigt. Ein fast 70 Kilometer langer Finger, der im Winter das Meer, | |
| einem biblischen Moses gleich, zweizuteilen scheint: linker Hand ein | |
| fester, weißer und rechter Hand ein flüssiger, blauer Ozean. | |
| ## Großflächige Treibeismatten | |
| Das Meer auf der Westseite der Halbinsel ist im Winter mit einer bis an den | |
| Horizont reichenden Eis- und Schneefläche bedeckt, das einzige an der | |
| Westküste Shiretokos gelegene Städtchen Utoro mitsamt seinem Hafen und den | |
| an Land gezogenen Booten – sie würden vom Eis zerquetscht werden – unter | |
| Schnee und einer kalten Glasur erstarrt. Ein sich jährlich wiederholendes | |
| Naturphänomen: Großflächige Treibeismatten aus Sibirien, entstanden dort, | |
| wo der russische Fluss Amur in das Ochotskische Meer mündet, passieren | |
| während ihrer Odyssee in den nördlichen Pazifik auch die Ostküste | |
| Hokkaidôs, wobei ein Teil des Wandereises von einer eigenwilligen Strömung | |
| bis an den Küstenstreifen zwischen Abashiri und Utoro geschoben wird. | |
| Zum Leid der zwangspausierenden Fischer, zumindest derer, die nicht vom | |
| Tourismus profitieren. Zur Freude derer, die Besucher für eine „Icebreaking | |
| Cruise“ gewinnen können, sich dabei dick vermummt auf einem Eisbrecher | |
| unter harschem Knirschen, „gari-gari“ nennen die Japaner diesen Laut, den | |
| Weg durch die Packeiskruste und die beißende Kälte bahnen lassen. Oder | |
| derer, die die Neugierde der Gäste zum geführten „Drift Ice Walking“ weck… | |
| können, wobei Gruppen in Neoprenanzügen über das Meer spazieren, rutschen, | |
| schlittern, ein „Bad“ in einem Eisloch mimen oder beim „Drift Ice Hopping… | |
| auf vereinzelte Eisschollen aufspringen. Spaßtourismus am Ende der Welt, | |
| auch das ist die Realität. | |
| Die Ostflanke Shiretokos hingegen, um das Städtchen Rausu, an der nur die | |
| flachen Eisschollen vorbeitreiben, bleibt von der eisigen Umklammerung | |
| verschont, Fischer- und Ausflugsboote haben hier auch im Winter freie | |
| Fahrt. | |
| Die Stadt Abashiri ist das Eingangstor zum Nationalpark. Hier in der einst | |
| berühmt-berüchtigten Gefängnisstadt landen heute neben dem Treibeis auch | |
| die letzte japanische Wildnis suchenden in- und ausländische Touristen mit | |
| Flugzeugen, Fähren, Zügen, Überlandbussen oder Autos. Eine Straße verläuft | |
| von Abashiri über die Stadt Shari bis zum Seebad Utoro im Westen. Eine etwa | |
| 30 Kilometer lange Straße führt weiter, aber nur Anfang Mai bis November, | |
| über den 740 Meter hohen, einen atemberaubenden Weitblick garantierenden | |
| Shiretoko-Gebirgspass bis zum eher unscheinbaren Ort Rausu an der Ostküste | |
| der Halbinsel. Dort endet die Straße. | |
| ## Letze Wildniss | |
| Zum Schutz der seltenen Wildtiere und der Naturschönheit wurde 1964 der | |
| größte Teil der fast 70 Kilometer langen Halbinsel zum Naturschutzgebiet, | |
| zum „Shiretoko-Nationalpark“ erklärt, 2005 schließlich von der Unesco zum | |
| Weltnaturerbe gekrönt. | |
| Vom Kap Shiretoko aus, der obersten Spitze Shiretokos, zieht sich abwärts | |
| eine Reihe von Vulkanen wie ein Mittelgebirge fast die gesamte Halbinsel | |
| entlang: Shiretoko-dake, der Schwefel speiende Berg Iô-zan, der mit 1.660 | |
| Metern höchste und bis in den Sommer hinein schneebedeckte Rausu-dake, der | |
| bereits in der quartären Eiszeit entstandene Onnebetsu-dake und der | |
| Stratovulkan Unabetsu-dake. | |
| Westlich der Vulkankette, oberhalb von Utoro, stürzt der Furepe-Wasserfall | |
| direkt in das Ochotskische Meer, etwas gespenstisch, denn man erkennt von | |
| außen keinen Zufluss. Wie auch? Ein Wasserfall, welcher sich nur von den | |
| Quellen im Inneren der Berghänge speist und erst beim Sprung ins Meer ins | |
| Freie tritt. An den Stränden liegen heiße Thermalquellen, die Onsen, die | |
| das ganze Jahr über Entspannung und Ruhe suchende Besucher anlocken. | |
| Ansonsten teilen sich den größten Teil des Nationalparks die japanischen | |
| Sika-Hirsche, Bären, Füchse sowie die vor dem Aussterben bedrohten großen | |
| Eulen, die sogenannten Riesenfischuhus. Orcas, Pottwale, Seelöwen und | |
| Delphine tummeln sich in den reichen Küstengewässern und über 250 | |
| Vogelarten schweben über dem Himmel des schwer zugänglichen Gebietes. | |
| Besucher können fast nur zu Fuß, meist auf vorgegebenen Wanderwegen, oder | |
| mit einem Boot ihr Ziel erreichen. Teile der Halbinsel dürfen von Menschen | |
| nicht betreten werden. | |
| ## Hier schläft der Braunbär | |
| In den Sommermonaten werden von Utoro aus mehrstündige Bootstouren bis hoch | |
| zum Kap Shiretoko angeboten, entlang der 100 bis 200 Meter hohen | |
| Steilküsten, immer auf Ausschau nach den braunen Bären, die vielleicht am | |
| steinigen Ufer versuchen, frisches Meeresgetier in die Pranken zu bekommen. | |
| Auf der gegenüberliegenden Seite, vom Hafen in Rausu aus, schippern | |
| Ausflugsboote weit raus ins Ochotskische Meer, zur Walbeobachtung zwischen | |
| der Shiretoko-Halbinsel und der südlichsten Kurilen-Insel, um die sich | |
| Japan und Russland seit Kriegsende streiten. | |
| Wer sich in den warmen Jahreszeiten selbst auf den Weg macht, muss | |
| vorsichtig sein. Auf der Shiretoko-Halbinsel tummelt sich die größte | |
| Braunbären-Population Japans. Die Braunbären zählen zur Grizzly-Familie, | |
| mit denen – außerhalb eines Zoogeheges – nicht zu spaßen ist. Das Shireto… | |
| Nature Center, auf der Straße zwischen Utoro und Rausu, informiert über | |
| Verhaltensregeln bei Begegnungen mit den Bären sowie über deren Standorte, | |
| vermittelt erfahrene Natur- und Bergführer, erteilt auch Auskunft über | |
| Wander- und Kletterpfade, Drifteis-Wanderungen, Skiausflüge und die jeweils | |
| notwendige Ausrüstung für die unterschiedlichen Unternehmungen. | |
| ## Der große Vogel | |
| Reisende erhalten dort auch Informationen über Shiretoko Goko, die „Fünf | |
| Seen Shiretokos“. Auf einem aufwändig in mehreren Metern Höhe erbauten, | |
| sogar rollstuhlgeeigneten Holzplankengestell, das zusätzlich mit einem | |
| Elektrozaun ausgestattet vor den Bären schützen soll, können die Besucher, | |
| ohne das empfindsame Ökosystem zu stören und von Rangers geführt, zu den | |
| einzelnen Seen wandern, die sich mit Frischwasser aus der Tiefe versorgen, | |
| und von deren Ufer aus eine ruhige Kombination aus Seen- und | |
| Gebirgslandschaft bewundert werden kann. | |
| In den Wintermonaten, wenn die Bären in ihren Höhlen pausieren und die | |
| Straßen von Utoro zu Shiretoko Goko und die zum Hafenstädtchen Rausu nicht | |
| passierbar sind, erwarten die Naturfreunde einen weiteren Superstar auf | |
| Shiretoko: Augen- bzw. Ohrenzeugen beschreiben die Balzlaute als | |
| möwenartiges Rufen oder Krächzen oder als eine Art von tiefem Bellen, wenn | |
| über ihren Köpfen ein oder mehrere dieser großen Vögel majestätisch mit | |
| geraden Flügeln und ausgebreiteten Schwung- und Steuerfedern vom Wind | |
| getragen kreisen. | |
| „Großer“ Vogel scheint untertrieben, bei genauerem Hinschauen wäre „rie… | |
| wohl die passendere Beschreibung, denn es geht um den Riesenseeadler. Mit | |
| einer Flügelspannweite von bis zu über 2,50 Metern, annähernd die Stehgröße | |
| eines Braunbären, zählt er zu den größten Greifvögeln auf Erden. Die | |
| Erkennungsmerkmale dieser russischen Wintergäste sind das überwiegend | |
| dunkle Gefieder, dazwischen weiße Stirn, Schultern, Schwanz und die | |
| buschigen Federhosen. Der klobige Hakenschnabel und die Füße sind auffällig | |
| gelb. | |
| Die wichtigsten Überwinterungsquartiere der Riesenseeadler liegen auf der | |
| Shiretoko-Halbinsel. Hier können sich schon mal zeitweise viele Hunderte | |
| Tiere sammeln. Die Brutgebiete liegen weiter oben, auf sibirischem Gebiet. | |
| Jedoch spätestens bevor sich das Meer mitsamt seinem Fischbestand unter | |
| dicken Eisflächen zurückzieht, machen sich die Adler andernorts auf | |
| Nahrungssuche. | |
| Sie ziehen über tausend Kilometer südlich über die Kurilen, den „Archipel | |
| der tausend Inseln“, bis nach Hokkaidô, wo sie sich am Furen-See von den | |
| Fangresten der Eisfischer, von toten Fischen im Hafen von Rausu oder vom | |
| Aas verendeter Waldtiere ernähren werden – ganz nahe zu ihrem | |
| Winterquartier auf Shiretoko. Hier im Sammelsurium von seltenen Tieren, | |
| Insekten, Pflanzen, großen und kleinen Vögeln, Vulkanen, klarer Luft, | |
| sauberen Seen und Flüssen, umgeben von drei Meeren – hier am Ende der Welt. | |
| 17 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Hartmut Pohling | |
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