| # taz.de -- Kino der Weimarer Zeit bei der Berlinale: Ergänzungen aus der zwei… | |
| > Die Berlinale-Retrospektive „Weimarer Kino – neu gesehen“ zeigt, wie man | |
| > dem Kino der Zwischenkriegszeit Neues abgewinnen kann. | |
| Bild: Film mit sprechendem Titel: „Menschen im Busch. Ein Afrika-Tonfilm“ v… | |
| Auf die Enge der Frankfurter Altstadt folgen Bilder lichtdurchfluteter | |
| Räume, gefüllt mit allen Finessen der Moderne. 1931 dreht die Fotografin | |
| Ella Bergmann-Michel für die im selben Jahr in Frankfurt am Main gegründete | |
| „Liga für den unabhängigen Film“ einen kurzen Dokumentarfilm über ein | |
| wenige Jahre zuvor eröffnetes Altenheim im Frankfurter Westend. | |
| „Wo wohnen alte Leute?“ propagiert das Wohnheim der Henry-und-Emma- | |
| Budge-Stiftung als attraktive Alternative zum Wohnen inmitten des | |
| städtischen Lärms. Ella Bergmann-Michels Film ist bis in die Poren | |
| durchdrungen vom Aufbruchswillen der Moderne. | |
| Ein Jahr später filmt sie den Wahlkampf zur Reichstagswahl im November | |
| 1932. Als sie eine Schlägerei vor einem Wahllokal der NSDAP dreht, wird sie | |
| verhaftet, die Aufnahmen werden auf der Polizeiwache vernichtet. Der | |
| geplante Film wurde unmöglich, er ist nur als Fragment überliefert – | |
| Aufbruch und Ende der Weimarer Republik im Spiegel einer Filmemacherin. | |
| ## „Exotik“, „Alltag“ und „Geschichte“ | |
| Nach einem Jahr fortwährender Feiern des 100. Gründungsjubiläums der Ufa | |
| und unzähligen Restaurierungen der Klassiker der Weimarer Republik wie | |
| „Metropolis“ kann man sich kaum vorstellen, dass es im Kino dieser Zeit | |
| noch viel zu entdecken gäbe. | |
| Die Retrospektive der diesjährigen Berlinale versucht ebendies: ein Kino | |
| der Weimarer Republik jenseits der ausgetretenen Pfade zu zeigen. „Weimarer | |
| Kino – neu gesehen“ verfolgt unter den drei Schwerpunkten „Exotik“, | |
| „Alltag“ und „Geschichte“ Linien durch die zweite Reihe der Weimarer | |
| Filmproduktion und schlägt sie zur neuerlichen Bewertung vor. | |
| Vor allem für die ersten Jahre der Epoche gelingen der Retrospektive durch | |
| neue Restaurierungen einige interessante Ergänzungen: Das gilt für Robert | |
| Reinerts „Opium“ von 1919 und mit ein paar Abstrichen auch für Urban Gads | |
| monumentale Verfilmung von Jakob Wassermanns Roman „Christian Wahnschaffe“ | |
| aus dem gleichen Jahr. | |
| Reinert, einer der Protagonisten des deutschen Expressionismus, drehte mit | |
| „Opium“ ein Drama zwischen China und Europa um einen Professor, der eine | |
| junge Frau aus den Händen eines Opiumhändlers befreit. Urban Gad, dänischer | |
| Regieroutinier, der in den 1910er Jahren nach Deutschland übergesiedelt | |
| war, erzählt in „Christian Wahnschaffe“ die Geschichte eines | |
| Industriellensohns, der sein Vermögen aufgibt und schließlich in den | |
| Großstadtwirren Berlins verschwindet. | |
| ## Koloniale Logik | |
| Die Retrospektive bezieht sich auf andere Versuche der jüngeren Zeit, das | |
| Weimarer Kino zu verstehen: Der Leiter der Retrospektive, Rainer Rother, | |
| nennt im PR-Interview die Reihe „The Other Weimar“ von CineGraph Hamburg | |
| auf dem Stummfilmfestival in Pordenone, die Retrospektive des New Yorker | |
| Museum of Modern Art „Weimar Cinema, 1919–1933: Daydreams and Nightmares“ | |
| von 2010 und die Filmreihe „Wiederentdeckt“ von CineGraph Babelsberg. Zu | |
| ergänzen wären unter anderem die Würdigung Werner Hochbaums durch Joachim | |
| Schätz und die Erforschung des Exotismus des Weimarer Kinos durch Tobias | |
| Nagl. | |
| Letztere erweist sich als unverzichtbar für eine kritische | |
| Auseinandersetzung mit dem Schwerpunkt „Exotik“, der unter anderem aus | |
| Friedrich Dahlheims und Gulla Pfeffers „Menschen im Busch. Ein | |
| Afrika-Tonfilm“ und Bernhard Villingers und Georg Asagaroffs „Milak, der | |
| Grönlandjäger“ besteht. | |
| Wie durchdrungen von den Macht- und Denkstrukturen kolonialer Logik dieser | |
| Film war, macht Tobias Nagl in seinem Beitrag zum Begleitband zur | |
| Retrospektive mit einem Zitat des Kameramanns Sepp Allgeier deutlich „Gut, | |
| dass diese treuen Eskimos vom eigentlichen ‚Filmzauber‘ nichts wissen, | |
| sonst hätten sie sicher auch manchmal gestreikt oder die Bezahlung von | |
| Überstunden verlangt. (…) Die guten einfachen Eismenschen verrieten oft mit | |
| ihrer Natürlichkeit ein erstaunliches Schauspielertalent.“ Film wie | |
| Kameramann wiegen sich in der Sicherheit vermeintlicher europäischer | |
| Überlegenheit über die „edlen Wilden“. | |
| Während Nagl in seinem Buch „Die unheimliche Maschine“ den Spielfilmen des | |
| Weimarer Kinos im Detail nachgeht, streift er die dokumentarischen Formen | |
| eher am Rande. Da die üblichen Einführungen gerade bei diesen Filmen das | |
| Unbehagen mit den Bildern nicht aufzulösen vermögen und koloniale Blick- | |
| und Zugriffsmuster fortwirken, wäre hier weitere Aufarbeitung dringend | |
| geboten. | |
| Die Bilder des Weimarer Alltags hingegen, die in einer Reihe von sozial | |
| engagierten Filmen oder Kolportagefilmen wie Erich Waschnecks „Die Carmen | |
| von St. Pauli“ gezeigt werden, gehören zum vertrauten Bildrepertoire der | |
| Filmgeschichte. Hier führt die Retrospektive Verstreutes oder – wie im | |
| Falle der Filme von Ella Bergmann-Michels – vor längerer Zeit | |
| Wiederentdecktes neuerlich zusammen. So Werner Hochbaums fantastischen | |
| Hafenarbeiter-Streikfilm „Brüder“, der sich, mit Laiendarstellern gedreht, | |
| erkennbar am Montagefilm nach sowjetischer Art versucht. | |
| In Alexis Granowskys „Das Lied vom Leben“ ist eine junge Frau aus | |
| wirtschaftlicher Not drauf und dran, in Industriellenkreise einzuheiraten, | |
| als sie entsetzt und angeekelt flieht. Mit einem jungen Mann aus dem | |
| Arbeitermilieu findet sie neues Glück. Zur typisierten Handlung ergänzt | |
| Granowsky Lieder von Hanns Eisler und Walter Mehring und formt so ein | |
| eindrückliches Beispiel für den proletarischen Film jener Jahre. | |
| ## Trend zum Digitalen | |
| Wenig bekannt und sehenswert ist auch Gerhard Lamprechts „Die Unehelichen. | |
| Eine Kindertragödie“, ein Film über Kinderschicksale und Jugendschutz in | |
| der Weimarer Republik. Filme wie „Die Unehelichen“ verweisen auf eine | |
| doppelte Leerstelle in der Retrospektive: Mit dem klassischen Kulturfilm | |
| fehlt ein zentrales Medium für das Selbstbild der Weimarer Republik. Neben | |
| dem neuen Bauen und der neuen Rolle von Frauen in der Gesellschaft sind | |
| Justiz und Schule zentrale Schauplätze gesellschaftlicher Erneuerung in der | |
| Weimarer Republik gewesen. | |
| Während Erstere in einigen Filmen anklingt, sind Schule und die | |
| pädagogischen Reformen der Weimarer Republik unsichtbar geblieben. Ebenso | |
| bedauerlich sind – das ist fast unvermeidbar – einzelne Filmentscheidungen: | |
| Warum etwa Werner Hochbaums Tonfilm „Morgen beginnt das Leben“ den Vorzug | |
| vor der deutlich unbekannteren, aber unlängst wiedergefundenen Tonfassung | |
| von Robert Siodmaks ähnlich gelagertem Meisterwerk „Stürme der | |
| Leidenschaft“ von 1931 bekam, muss man nicht verstehen. | |
| Entdeckungen und Wiederbegegnungen gibt es dennoch genug: Joe Mays „Ihre | |
| Majestät die Liebe“, „Abwege“ und „Kameradschaft“ von G. W. Pabst et… | |
| mit diesen ist man aber auch wieder in der ersten Reihe des Weimarer Kinos | |
| angekommen. Und immerhin: Einige analoge Kopien wurden auch neu gezogen für | |
| die Filmreihe. | |
| Angesichts des von Sektionsleiter Rainer Rother postulierten | |
| gleichberechtigten Nebeneinanders von analoger und digitaler Präsentation | |
| von historischen Filmen ist das eine angenehme Überraschung. Der Trend zum | |
| Digitalen ist dennoch unverkennbar: Noch ist es nicht die Hälfte der Filme, | |
| aber zehn der 27 Langfilme laufen bereits digital. Revidieren wird man das | |
| Bild vom Weimarer Kino auch kaum müssen nach dieser Retrospektive, eher in | |
| Details ergänzen. | |
| 16 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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