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# taz.de -- Justiz- und Rechtssystem der DDR: Tschekisten, Prinzlinge, Anwälte
> In „Im goldenen Käfig“ schreibt Christian Booß über die Stasiakten von
> DDR-Anwälten. Dazu ein Gastbeitrag des früheren Justizsenators von
> Berlin.
Bild: Prinzling der DDR: Gregor Gysi auf dem 1. Parteitag der PDS im Februar 19…
Ungewöhnlich ist das schon. Christian Booß, altgedienter Rundfunk- und
Fernsehmann, zugleich langjähriger Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde,
legt als Wessi ein Buch über „DDR-Anwälte im politischen Prozess“ vor. Wer
nun die flott geschriebene Endabrechnung unter dem Motto „Alles Stasi oder
was“ erwartet, wird gleich mehrfach enttäuscht.
Das Buch fußt auf der Dissertation, mit der Booß an der Berliner
Humboldt-Universität promovierte. Entsprechend umfangreich ist es geraten –
800 Seiten, geschrieben im wissenschaftlichen Duktus, mit Fußnoten und
Quellenverzeichnis („Im goldenen Käfig“, Vandenhoeck & Ruprecht). Der Autor
behauptet, nicht viel mehr als eine Ausarbeitung anhand von Stasiakten aus
drei Jahrgängen über Anwälte in MfS-ermittelten Strafverfahren vorzulegen.
Dies ist die Untertreibung des Jahres.
In Wirklichkeit zeichnet er die Entwicklung der Anwaltschaft in der DDR,
ihre Rekrutierung und Ausbildung, ihre politische Instrumentalisierung,
ihre Grenzen und Freiräume, ihr Agieren innerhalb und außerhalb des
Polizei- und Justizapparates nach.
Wie um alle falschen Erwartungen gleich zu dekonstruieren, beginnt Booß mit
einem Vorwort vor dem Vorwort. Dort wird der Richter
Wetzenstein–Ollenschläger, Richter in der DDR und später Direktor des
Berliner Stadtbezirksgerichtes Lichtenberg, genannt „Schakal von Berlin“,
als widerständig gegenüber zu hohen Strafanträgen der Staatsanwaltschaft
geschildert. Ausgerechnet jener Mann, der in den 1990er Jahren in der
Transformationsphase Ostdeutschlands mit Millionen aus dem KoKo-Imperium
bis heute abgetaucht ist, habe hier in den Augen seiner Kollegen „Kreuz
gezeigt“.
## Entnazifizierung und Flucht in den Westen
Die Schwarz-Weiß-Schablone bleibt also in der Schublade. Der Autor breitet
stattdessen Fakten über Fakten aus. Und er kommt zu wohltuend
differenzierten Bewertungen, ohne klare Festlegungen und Verurteilungen
dort, wo notwendig, zu scheuen. Dass das Gesamtbild der Anwaltschaft in der
DDR so düster ausfällt, liegt alleine am betrachteten Objekt.
Booß zeichnet nach, wie innerhalb weniger Jahre die Zahl der zugelassenen
Anwälte von ca. 2.800 auf konstant ca. 600 bis zum Ende der DDR sinkt. Dies
geschieht durch Entnazifizierung – nach Opportunitätsgesichtspunkten wie
bei Militär und Polizei –, durch Flucht in den Westen und last but not
least durch die Bildung der Kollegien der Rechtsanwälte. Dies war zwar
nicht die oft so genannte Zwangskollektivierung des Anwaltsstandes.
Aber mit Zuckerbrot und Peitsche wurde die Zahl der Einzelanwälte auf ein
Minimum reduziert – nur dort, wo der Staat sie brauchte, etwa im
internationalen Rechtsverkehr, dem Häftlingsfreikauf oder bei der
Überwachung der ihnen gegenüber oftmals arglosen Opposition. Die Kollegien
nach sowjetischem Vorbild sollten das Gegenbild zur „bürgerlichen freien
Advokatur“ sein.
Auch für sie galt das allgemeine Motto von Walter Ulbricht, dass alles
schön demokratisch (in diesem Fall nach Selbstverwaltung) aussehen müsse,
aber die Genossen alles in der Hand halten sollten. So hatten z. B. die
Vorsitzenden die Aufgabe, als „Instrukteure“ der vorgegebenen politischen
Linie zu wirken.
Es stellt sich eine ganze Reihe von Fragen. Entschuldigt nicht diese
Einbettung in die sozialistischen staatlichen Strukturen alles? Musste
nicht jeder Mandant wissen, dass es in diesem Staat DDR keinen unabhängigen
Anwalt geben konnte? Beauftragte er nicht mit dem Anwalt in vollem
Bewusstsein die Stasi gleich mit? Kann das Anwaltsverständnis
westlich-rechtsstaatlicher Prägung hier herangezogen werden? Gibt es
überhaupt ein systemübergreifendes allgemeingültiges Rollenbild des
Anwaltes, das als Maßstab für die Beurteilung der einzelnen gelten kann?
Die Einzelfallschilderungen von Christian Booß geben darauf Antworten.
## Der Fall Schnur
Einfach ist sie bei Anwälten, die wie Wolfgang Schnur sich schon vor ihrem
Jurastudium dem MfS verpflichteten und dann in ihrer gesamten
Anwaltstätigkeit „bis zur physischen und psychischen Erschöpfung Tag und
Nacht berichteten“. Er und bedenklich viele andere wurden verpflichtet,
„alle Vorgänge, die sie als Rechtsanwälte bekommen, vom tschekistischen
Standpunkt aus zu sehen“. Sie sollten nur die Mandate annehmen, „die für
uns operativ interessant sind“.
Der Schauspieler Armin Mueller-Stahl wird zitiert, wie er im Nachhinein
über seinen IM-verpflichteten Anwalt Edgar Irmscher urteilt: „Da sitzt der
Rechtsanwalt, … mein vermeintlicher Freund, spricht Recht und tat Unrecht.
Alles, aber auch alles hat er der Stasi mitgeteilt, was ihr nicht hätte
mitgeteilt werden dürfen.“
Und sie teilten nicht nur mit. Sie verrieten Mittäter und Mitwisser der
unterstellten Straftaten und beteiligten sich an Gegenstrategien und
Zersetzungsplänen der Stasi. Der Anwaltsstatus tarnte und begünstigte ihr
Tun. Sie waren Tschekisten in der Anwaltsrobe.
## Friedrich Wolff und Gregor Gysi
Schwieriger wird die Beurteilung bei den Anwälten in der Grauzone, die zum
Teil wie Friedrich Wolff in den Gründungsjahren IMs wurden, aber dann nicht
immer nach der Pfeife des MfS tanzten und z. B. auch einmal Freisprüche in
politischen Prozessen beantragten. Oder bei den „Prinzlingen“ aus der
nachgeborenen Generation, die, wie Gregor Gysi, ohne formelle
IM-Verpflichtung in mannigfacher Weise mit Staat, Partei und MfS verbunden
waren.
Ein Anwalt darf grundsätzlich auch mit dem Teufel sprechen. Dann kooperiert
die Anwaltsrobe mit dem Tschekisten. Dieser Kontakt muss allerdings immer
im Interesse des Mandanten liegen und zwingend mit dessen Wissen und
Einverständnis geschehen. Hier schildert Booß eine Vielzahl von Fällen, z.
B. im Anschluss an die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988, wo genau
dieses Wissen und Wollen von den Inhaftierten bestritten wird.
Völlig befremdlich ist schließlich die fehlende Solidarität vieler mit den
Anwaltskollegen, die ausschließlich die Interessenvertretung ihrer
Mandanten anstrebten. Die Rechtsberatung eines Ausreisewilligen ohne
Honorar reichte zum Berufsverbot.
## Die Fälle Reinhard Preuß und Götz Berger
Ausführlich schildert Booß die Fälle Preuß, Berger und Henrich.
Rechtsanwalt Dr. Reinhard Preuß galt dem MfS als ein „Mensch, der nichts
mit unserem Staat gemein hat“. Er informierte, zu dieser Zeit noch
zulässig, Anwaltskollegen in Westberlin über das Schicksal von
Inhaftierten. Mit der Begründung, dass in den Handakten von Preuß nicht
alle Aufträge der freikaufwilligen Häftlinge nachvollziehbar seien und er
sich so der Kontrolle der kostenmäßigen Abwicklung entzogen habe,
appellierte das Justizministerium an das materielle Interesse der
Anwaltskollegen. Erfolgreich.
Das „Kollegium Beschluss“ – Parteileitung, Vorstand, Plenum – schloss i…
1973 aus der Anwaltschaft aus. Erst 1978 erhielten alle Anwälte die
Information, dass es nicht gestattet sei, „selbstständig Verbindungen zu
BRD- bzw. Westberliner Anwälten aufzunehmen bzw. zu unterhalten“. An
DDR-Bürger seien „keinerlei Informationen“ weiterzugeben.
Im Fall von Götz Berger verhängte das Justizministerium gleich selber das
Berufsverbot und holte sich erst im Nachhinein in stalinistischer Manier
die Zustimmung des Kollegiums und persönliche Erklärungen der einzelnen
Mitglieder. Berger war Altkommunist, Spanienkämpfer, hoher Richter in den
Anfangsjahren der DDR, hoch angesehen, aber eben auch unbeirrbarer
Vertreter von Wolf Biermann, Robert Havemann und anderen. Der Staat vollzog
an ihm ein auf Abschreckung zielendes Exempel. Und war damit erfolgreich.
Die Mitgliederversammlung aller Anwälte der „Hauptstadt der DDR“ erklärte
am 6. Dezember 1976 einstimmig: „Wir distanzieren uns von dem Verhalten des
ehemaligen Mitgliedes unseres Kollegiums, Dr. Berger, das im Widerspruch
steht zur Berufung des Rechtsanwalts, in Wahrung der Rechte der Bürger zur
Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit mitzuwirken“. Der
Staatssekretär im Justizministerium war bei der Zulassungsenthebung
direkter: „Denk an Budapest, da haben sie unsere Genossen an
Laternenpfählen aufgehängt. Und Du hast jetzt dazu aufgefordert.“
## Rolf Henrich
Noch im Jahr des Mauerfalles 1989 wurde der Rechtsanwalt und Mitbegründer
des Neuen Forums Rolf Henrich wegen seines Buches „Der vormundschaftliche
Staat“ vom Kollegium Frankfurt (Oder) aus der Anwaltschaft ausgeschlossen.
Die Stasi wollte mit Hilfe anderer Anwaltskollegen „diesen Banditen in die
Furche ducken“. Der herbeigeeilte Chef der Anwaltskollegien, Gregor Gysi,
argumentierte nach Aussagen von Anwesenden, wer die Stasi „Geheimpolizei“
nenne, dürfe sich über die Folgen nicht wundern. Gysi selbst erinnert sich
wie immer anders.
Fazit: Das Bild des goldenen Käfigs trifft es nicht ganz. Für Anwälte mit
Westreiseerlaubnis stand die Käfigtür weiter auf als für den Normalbürger.
Dass Anwälte gut verdienen, ist noch kein berechtigter Vorwurf. Im Westen
hätten sie im Zweifel mehr verdient.
Das Gros der Anwälte bejahte das System und unterstützte den Staat demnach.
Der Staat brauchte sie, gerade im Verkehr mit dem Ausland und als
rechtliche Fassade. Diese an sich starke Position führte aber nur zu
zaghaften Forderungen nach mehr Unabhängigkeit. Das Gängelband des Staates
war akzeptiert und wurde sogar „in Selbstverwaltung“ gegen unliebsame
Kollegen selbst angelegt. Eigentlich sollte dieses Buch hierüber eine
kontroverse und lebhafte Diskussion auslösen.
21 Jan 2018
## AUTOREN
Wolfgang Wieland
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