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# taz.de -- Feuerwehrmann über Berliner Attentat: „Wir funktionieren“
> Warum vor einem Jahr bei dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz nicht noch
> mehr Menschen starben, erklärt Rolf-Dieter Erbe von der Berliner
> Feuerwehr.
Bild: Rolf-Dieter Erbe war auf dem Breitscheidplatz für die Berliner Feuerwehr…
taz: Herr Erbe, hatten Sie am 19. Dezember 2016 regulär Dienst?
Rolf-Dieter Erbe: Nein, ich kam von zu Hause. Sehr viele Einsatzkräfte
haben sich an diesem Abend freiwillig zum Dienst gemeldet.
Mit welchem Stichwort wurde der Alarm ausgelöst?
Um 20.04 Uhr wurde der Feuerwehr ein schwerer Verkehrsunfall gemeldet. Um
20.07 ein Unfall mit einem Lkw und vielen Verletzten. Daraufhin wurde das
Alarmstichwort „MANV“ ausgegeben – Massenanfall von Verletzten.
Wie viele Mitarbeiter von Feuerwehr und Rettungsdienst waren in der Nacht
vor Ort?
Rund 150 Einsatzkräfte. Das entspricht in etwa einem Viertel der in Berlin
verfügbaren Dienstkräfte. Die Stadt lebt ja weiter.
Sie selbst waren gegen 20.25 Uhr am Breitscheidplatz und wurden als Sichter
eingesetzt. Was heißt das?
Es gab mehrere Sichtungsteams. Wir sollten dem Leitenden Notarzt, der die
medizinische Versorgung vor Ort koordiniert, schnellstmöglich Rückmeldung
geben: Wie viele Patienten sind vital bedroht? Wo sind sie? Wer muss als
Erstes versorgt und ins Krankenhaus transportiert werden? Bei der Sichtung
gibt es drei Kategorien. Die Farbe Rot steht für vital bedroht, Gelb für
schwer verletzt und Grün für leicht verletzt.
Wie gehen Sie vor?
Für eine Ersteinschätzung zählt man die Verletzten. Zu jedem Patienten
beantworten wir einen kurzen Fragenkatalog. Das geschieht anhand einer
Checkliste. In eine Anhängekarte, die wir an dem Verletzten befestigen,
tragen wir eine der drei Sichtungskategorien ein.
Wird da nicht unnötig Zeit vertan?
Im Gegenteil. Das ist Lebensrettung! Die Sichtung mit der Checkliste pro
Patient dauert weniger als eine Minute. Kritisch Verletzte, die zuerst
vorsorgt werden müssen, werden so schneller gefunden.
Leisten Sichter keine Erste Hilfe?
Lebensrettende Handgriffe gehören zur Sichtung. Man lässt niemanden
sterben. Wenn es eine starke Blutung gibt, wird man diese stillen. Da geht
man natürlich nicht weiter. Ansonsten gibt es aber eine klare
Aufgabenteilung. Eine weitere Versorgung wie einen venösen Zugang legen
oder Wunden versorgen, das machen andere Einsatzkräfte.
Was passiert dann?
Dann werden die Versorgungsteams und Trägertrupps losgeschickt.
Wie lange mussten die Verletzten auf dem Breitscheidplatz warten, bis sie
behandelt wurden?
Zunächst hat man versucht, die Patienten da, wo sie gefunden wurden, zu
stabilisieren. Drei Rettungswagen sind innerhalb der ersten zehn Minuten
mit vital bedrohten Patienten weggefahren. Die anderen sind in ein Zelt
gebracht worden, das wir vor Ort aufgebaut haben, damit sie erst mal im
Warmen sind. Wir können nicht 20 Rettungswagen auf einmal vorfahren lassen.
So viel Platz ist nicht da. Nach etwa einer Stunde hatten wir alle
kritischen Patienten weg. Nach zwei Stunden waren alle Patienten
weggefahren. Auch die Leichtverletzten.
Gab es für die Rettungswagen auch klare Anweisungen?
Ja, dafür sorgt der für die Rettungsdienste zuständige Einsatzleiter.
Planmäßig, so ist es auch hier gemacht worden, gibt es einen sogenannten
Bereitstellungsraum. Es gibt einen Rettungsmittel-Halteplatz, wo die
Fahrzeuge vorfahren. Und eine sogenannte Ladezone, wo die Patienten
eingeladen und abgefahren werden. Das hat etwas mit Raumordnung zu tun. Das
ist wichtig: Man baut ein Einbahnstraßensystem, damit die ein- und
abfahrenden Rettungswagen nicht kollidieren.
Das hört sich sehr technokratisch an. Wo bleiben die Gefühle in so einer
Situation?
Wir arbeiten nach festgelegten Regeln. Das ist so wie bei der Fliegerei.
Ein Pilot, der die Sicherheit betreffende zeitkritische Entscheidung fällen
muss, arbeitet auch nach einer Checkliste. So haben auch wir Checklisten
und Einsatzpläne. Immer in dem Sinn, die Patienten schnellstmöglich zu
versorgen und in die Kliniken zu bringen. Denn es gibt Verletzungsmuster,
da kommt es auf die Zeit an. Wir funktionieren. Die Gefühle kommen
hinterher.
Wie übt man das?
Dafür gibt es Kurse, die wir im Jahr mehrmals machen, auch mit den
Notärzten. Wir üben Großschadensereignisse, wie das bei uns heißt, auch
anhand eines Planspiels.
Sind alle Menschen gerettet worden, die hätten gerettet werden können?
Die Ärzte haben hinterher festgestellt: Niemand ist aufgrund irgendwelcher
Mängel, sei es durch Verzögerungen, oder dass irgendetwas nicht gemacht
worden wäre, noch weiter zu Schaden gekommen. Leider waren die
Verletzungsmuster von denen, die verstorben sind, so schwerwiegend, dass
sie nicht zu retten waren.
Woran denken Sie da?
An die Überrolltraumen. Wenn ein Lkw über einen Menschen fährt, ist das
nicht überlebbar.
Nach den Terroranschlägen 2015 in Paris kam die Forderung auf, alle
Rettungswagen mit sogenannten Tourniquets auszustatten. Das ist ein
Abbindesystem, mit dem eine lebensbedrohliche Blutung an Armen oder Beinen
gestoppt werden kann. Standen bei der Versorgung der Opfer auf dem
Breitscheidplatz genug Tourniquets zur Verfügung?
Es gab genug Tourniquets, aber die befanden sich auf den Rettungswagen. Die
Ersthelfer hatten keine. Diese Erfahrung ist bei vielen Einsätzen gemacht
worden, wo es Terroranschläge gab: Wenn sich die Tourniquets auf den
Rettungswagen befinden, nutzt das den Ersthelfern nichts. Deshalb haben wir
jetzt 600 Rucksäcke mit Ersthelfer-Sets und jeweils einem Tourniquet darin,
angeschafft. Diese Sets kann man im Bedarfsfall schneller aushändigen.
Wer sind die Ersthelfer?
Das sind die Leute, die zuerst bei den Verletzten sind. Am Breitscheidplatz
waren das vor allem Weihnachtsmarktbesucher. Sie haben sehr wirkungsvolle
Erste Hilfe geleistet. Uns ist keine Person bekannt, die gestorben wäre,
weil Tourniquets gefehlt hätten. Es gab sehr, sehr schwere Verletzungen.
Aber das waren kaum schwer nach außen blutende Wunden. Das ist eher bei
Explosionen, Schüssen und Messerattacken der Fall.
Was wären da die Folgen?
Seit den Anschlägen in Paris weiß man, dass bei Explosionen und
Schussverletzungen mit sehr, sehr schweren Blutungen der Extremitäten
gerechnet werden muss. Man hat festgestellt, dass bei Anschlägen 40 Prozent
der Todesursachen Verbluten ist. Selbst wenn wir nach sieben oder acht
Minuten da sind – bei so schwer blutenden Verletzungen wäre das zu spät.
Was kann ein Ersthelfer tun?
Helfen kann man, indem man ganz einfach auf die stark blutende Wunde
drückt. Bei großen Wunden oder Abrissen von Gliedmaßen muss man abbinden.
Damit wird verhindert, dass jemand ausläuft, auf gut Deutsch gesagt. Nach
den Anschlägen in Paris haben uns die Kollegen erzählt, die Menschen seien
ohne Schlips und Gürtel aus den betroffenen Lokalitäten gekommen. Jeder hat
etwas dabei, womit er wirkungsvoll helfen kann.
Für den Einsatz auf dem Breitscheidplatz haben die Rettungskräfte viel
Anerkennung erhalten. Wie ist das angekommen?
Das hat uns gutgetan. Lob ist in Berlin ja eher nicht der Normalfall. Von
vielen Ereignissen kennen wir es, dass Kritik kommt – von der
Öffentlichkeit, von der Politik, von der Presse.
Wann war das so?
Eigentlich ist das bei fast jedem Einsatz so. Auch bei Verkehrsunfällen.
Warum kommen Sie so spät? Manchmal denken die Leute, wir frühstücken zu
Ende oder weiß ich nicht, was. Dabei können wir erst dann losfahren, wenn
man uns anruft. Deshalb ist der schnelle Notruf, 112, ja so wichtig. Wenn
unterwegs Stau ist und die Autofahrer keinen Platz machen, können wir nicht
schneller fahren. Und dann zeigen uns die Leute auf der Straße noch den
Vogel in dem Sinne, wir sollten mal nicht so übertreiben. Aber nicht nur
deshalb haben uns die Dankeswelle und die Anteilnahme der Bevölkerung
gutgetan. Den Einsatzkräften hat das auch weitergeholfen.
Wie meinen Sie das?
Das war schon ein sehr belastendes Ereignis. Sehr viele der
Notfallsanitäter und Rettungsassistenten haben das in diesem Ausmaß noch
nie erlebt. Wir haben zunächst an einen Verkehrsunfall geglaubt. Wir haben
uns das richtig eingeredet. Als dann die Bestätigung kam, es ist ein
Anschlag, war das für alle wie ein Schlag in die Magengrube.
Was macht den entscheidenden Unterschied?
Ich mache den Beruf fast 30 Jahre. Mit Toten und schweren Unglücken
umzugehen gehört zu unserem Alltag. Das ist tragisch genug, aber dazu sind
wir da. Aber dass hier jemand mit Absicht dieses Leid verursacht hat, das
war eine zusätzliche erhebliche Belastung – auch für mich.
Im Normalfall macht Ihnen der Anblick von Unfallopfern nichts mehr aus?
Ganz so ist es nicht. Besonders wenn Kinder unter den Opfern sind, was hier
Gott sei Dank nicht der Fall war, geht einem das nahe. Man ist da nicht
abgebrüht. Oder wenn Menschen bei Bränden aus dem Fenster springen und man
weiß, sie hätten das nicht tun müssen. Nach zehn Minuten ist die Feuerwehr
in der Regel da. Nach zehn weiteren Minuten haben wir das Feuer im Griff.
Wenn jemand nur deshalb ums Leben kommt, weil er nicht wusste, wie er sich
zu verhalten hat – das belastet.
Wie sind Ihre Kollegen mit den Erlebnissen auf dem Breitscheidplatz fertig
geworden?
Noch am selben Abend, um 23 Uhr, gab es das Angebot, an einem
psychologischen Nachsorgegespräch teilzunehmen. Dafür gibt es bei der
Feuerwehr ein extra ausgebildetes Team. Bei dem Gespräch waren fast alle
Kräfte dabei, bei einem zweiten Treffen deutlich über die Hälfte. Die
Gespräche befreien einen ein bisschen von der Last. Auch untereinander noch
mal zu sprechen hilft.
Der Einsatz ist jetzt ein Jahr her. Wie lautet Ihr Fazit?
Die Multifunktionalität hat sich bewährt. In Zukunft müssen wir uns aber
noch mehr darauf einstellen, dass auch die Rettungskräfte bei so einem
Einsatz gefährdet sein könnten. Auch deshalb machen wir weiterhin
Aufarbeitung und versuchen Lehren zu ziehen. Eine gute Zusammenarbeit mit
der Polizei am Einsatzort ist für uns lebenswichtig. Unser Wissen geben wir
auch an andere Feuerwehren und Rettungsdienste weiter. Bundesweit haben wir
rund 80 Anfragen nach Vorträgen und Schulungen.
Unter welcher Überschrift läuft das Programm?
„Lessons learned-Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt vom Breitscheidplatz“.
Bevor andere selbsternannte Experten durch die Welt reisen, machen wir das
lieber selbst.
19 Dec 2017
## AUTOREN
Plutonia Plarre
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