# taz.de -- Wanderarbeiter in Chinas Hauptstadt: Die Vertreibung der Armen | |
> In Peking verschwinden Garküchen, Obstverkäufer und Fahrradmechaniker: | |
> Die Verwaltung reißt die Häuser hunderttausender Wanderarbeiter ab. | |
Bild: Die Reste eines zerstörten Hauses in Daxing, Peking | |
PEKING taz | Mit bloßen Händen schiebt Jue Hao einen besonders dicken | |
Betonbrocken zur Seite. Staub wirbelt auf. Er hält sich den Ärmel seiner | |
Daunenjacke vor den Mund. Gemeinsam mit seiner Mutter versucht er, eine | |
Holzplatte aus dem Schutt zu ziehen. Doch dann winkt die Mutter ab. „Zu | |
kaputt“, sagt sie und sucht an anderer Stelle weiter. | |
„Wir brauchen einen Tisch“, sagt der 25-Jährige. Den eigenen könne er nic… | |
mitnehmen. Er zeigt auf einen mehrstöckigen Wohnblock. Die Fassade des | |
Hauses ist abgerissen. Im dritten Stock sind noch die Umrisse der Wohnung | |
zu erkennen, in der Jue Hao, sein jüngerer Bruder und seine Eltern bis vor | |
Kurzem lebten. Zwischen Glassplittern und Gerümpel ist in einer Ecke der | |
Kühlschrank zu sehen, an anderer Stelle steht das Gestell eines | |
Metallbettes. Alles andere versinkt im Schutt. Die Treppe ist eingestürzt, | |
verbogene Stahlträger liegen frei. Der Beton bröckelt. „Zu gefährlich“, | |
sagt Jue Hao. „An unsere Sachen kommen wir nicht mehr heran.“ | |
So wie Jue Hao und seine Mutter sind an diesem sonnigen, aber eisigen | |
Winternachmittag zahlreiche Menschen auf dem Trümmerfeld und wühlen im | |
Schutt nach brauchbaren Gegenständen. Vor zehn Tagen haben sie noch in den | |
Häusern gewohnt. Nun ist alles zerstört. | |
Sie sind Wanderarbeiter. Hunderttausende von ihnen mussten in den letzten | |
Tagen miterleben, wie Bagger quasi über Nacht ihre Wohnungen und | |
Arbeitsplätze dem Erdboden gleich machten. Und ihre Existenz. | |
## Kein Platz für Altes | |
Mehr als 20 Jahre lang hat es diese Siedlung in Daxing am südlichen | |
Stadtrand von Peking gegeben. Die meisten vier- bis sechsstöckigen | |
Wohnhäuser waren zwar heruntergekommen, boten den Wanderarbeitern im | |
ansonsten teuren Peking aber noch bezahlbaren Wohnraum. Im Pekinger Süden | |
stehen noch nicht so viele moderne Bauten aus Stahl und Glas wie im | |
Zentrum, Norden oder Westen der Hauptstadt. Neben den Unterkünften der | |
Wanderarbeiter ist Daxing auch bekannt für seine vielen Textilfabriken, | |
Lagerhallen und Handwerksbetriebe. Das meiste davon ist nun auch nicht mehr | |
da. | |
Abrissarbeiten gehören in Peking zum Alltag. In einer Stadt, deren | |
Verwaltung unter einer modernen Hauptstadt den Bau von immer mehr farblosen | |
Hochhäusern versteht, ist für Altes kein Platz. Doch was sich in diesen | |
Wochen abspielt, hat es noch nicht gegeben. Wie Jue Hao und seiner Familie | |
ergeht es derzeit Hunderttausenden. An mehr als 100 Orten der | |
23-Millionen-Metropole sind in diesen Tagen Bagger und Abrisstrupps | |
unterwegs, berichtet die Pekinger Zeitung Qingnianbao. Offiziell heißt es, | |
die Aktion sei Teil einer 40-tägigen „Sicherheitskampagne“. Doch das | |
Signal, das die Pekinger Stadtführung mit dem Massenabriss aussendet, ist | |
eindeutig: Wanderarbeiter – ihr seid hier nicht mehr erwünscht. | |
„Wir hatten nicht einmal drei Tage Zeit für den Auszug“, klagt Jue Hao. Nur | |
das Nötigste hätten er und seine Familie mitnehmen können – das, was sie | |
tragen konnten. Er ist mit seinen Eltern vorläufig bei Bekannten | |
untergekommen. Sein Bruder hat Peking verlassen und sucht im Süden des | |
Landes nach Arbeit. Der Familie fehlt nun alles: Töpfe, Decken, Möbel – vor | |
allem aber eine Perspektive. | |
Jue Hao ist in Peking geboren, die Heimat seiner Eltern auf dem Land kennt | |
er nur von Besuchen. Er hat noch nie in seinem Leben einen Acker bestellt. | |
Er repariert Computer und Kleinelektronik. Eine neue Unterkunft kann er | |
sich angesichts Pekings horrender Mieten mit einem Monatslohn von gerade | |
einmal 5.000 Yuan (640 Euro) nicht leisten. | |
## Warum ausgerechnet jetzt? | |
Auslöser für die Abrisswelle war ein Feuer am 18. November in einem | |
Wohnblock für Wanderarbeiter im Stadtteil Daxing. 19 Menschen kamen dabei | |
ums Leben, für chinesische Verhältnisse keine Seltenheit. Immer wieder | |
kommt es in den dicht bebauten Wohnsiedlungen zu schweren Bränden oder | |
Unfällen mit oft Dutzenden Toten. Tatsächlich: Viele dieser Unterkünfte | |
erfüllen die Bauvorschriften nicht, sind illegal errichtet, überfüllt, die | |
Feuergefahr ist groß. Verständlich, dass die Regierung dagegen vorgeht. | |
„Doch warum ausgerechnet jetzt?“, fragt Liu Jintao. „Im tiefen Winter. Und | |
warum so rabiat?“ Der 28-Jährige trägt Kapuzenshirt, eine grüne Bomberjacke | |
und raucht dünne Zigaretten. Er sitzt im Keller eines gepflegten | |
Backsteinhauses im wohlhabenden Westteil der Stadt. | |
Liu war bis vor Kurzem noch Kunststudent an der nahe gelegenen Universität. | |
Sein Professor hatte den Raum angemietet, um von da aus Projekte mit | |
Wanderarbeitern zu initiieren. Mit anderen Studenten hatte Liu die | |
Wanderarbeiter interviewt, sie nach ihren Lebensverhältnissen befragt und | |
einen Dokumentarfilm gedreht. Sie kennen einige Vertriebene. Den Keller | |
haben die Studenten für sie zu einer Notunterkunft hergerichtet. Gegenüber | |
dem Sofa und einem Wohnzimmertisch steht ein frisch bezogenes Bett. | |
Das Problem mit dem unzureichendem Brandschutz sei seit Langem bekannt, | |
sagt Liu. Gestört hatte das die Behörden nie. Vielmehr seien die billigen | |
Unterkünfte lange Zeit erwünscht gewesen. „Schließlich sollte auch die | |
Wanderarbeit billig bleiben.“ Liu redet sich in Rage. | |
## Plötzlich ist die Stadt zu voll | |
„Sie schuften auf Pekings Baustellen, putzen die Klos der Parteibonzen und | |
ihrer Familien und kehren auf den Straßen den Dreck weg. Sie sind es, die | |
Räder und Autos reparieren und beim Onlineeinkauf binnen weniger Stunden | |
die Pakete liefern.“ | |
In Peking ist jeder dritter Beschäftigter Wanderarbeiter. Landesweit sind | |
es über 280 Millionen, die ihre Dörfer verlassen haben und auf der Suche | |
nach Arbeit in die boomenden Metropolen gezogen sind. Rechte haben sie in | |
den Städten keine. Denn offiziell sind sie weiter in ihrer Heimat auf dem | |
Land registriert – selbst wenn sie zum Teil seit 20 oder 30 Jahren nicht | |
mehr dort leben. Chinas rigides Wohnortregistrierungssystem bindet soziale | |
Leistungen wie Krankenversorgung, Rente oder den Schulbesuch der Kinder an | |
den Geburtsort. Eine Ummeldung ist nur schwer möglich. In den Städten sind | |
Wanderarbeiter quasi illegal. Darum scherte sich auch niemand um ihre | |
Unterkünfte. Nur zu teuer sollten sie nicht sein. Sonst wären sie womöglich | |
weggeblieben. | |
Doch nun findet die Regierung, dass Peking zu voll ist. Rund 23 Millionen | |
Einwohner zählt die Hauptstadt, eine Verdreifachung in den letzten 25 | |
Jahren. Auf 20 Millionen will die Stadtregierung die Bevölkerungszahl bis | |
2020 drücken. „Die Einwohnerzahl übersteigt die Kapazität“, sagt Cai Qi, | |
Parteichef von Peking. Und wer soll die Stadt verlassen? Die | |
Wanderarbeiter. | |
Seit Monaten schon verschwinden im Stadtgebiet die Garküchen und Buden, die | |
Pekings Straßenbild lange Zeit so menschlich gemacht haben. Die | |
Obstverkäufer mit ihren Karren sind ebenso weg wie die Fahrradmechaniker, | |
die einst an jeder größeren Kreuzung standen. Die Buden müssen Grünanlagen | |
oder erweiterten Straßen weichen. | |
## Das Schicksal eines Wanderarbeiters | |
„Eine harmonische Stadt“, steht auf roten Bannern geschrieben, die an den | |
Bauzäunen hängen. Auf Plakaten in U-Bahnhöfen sind luxuriöse | |
Apartmenthäuser und glückliche Familien der Mittelklasse abgebildet. | |
Wanderarbeiter passen nicht ins Bild. „So funktioniert der Kommunismus in | |
China heute“, sagt Aktivist Liu. „Glitzernde Hochhäuser, sterile Plätze, | |
saubere Straßen – alles auf Kosten der sozial Schwachen.“ | |
Wanderarbeiter Jue Hao berichtet: Zuerst hätten die Behörden ohne | |
Vorwarnung die Wasserversorgung, Strom und Gas gekappt. Zwei Nächte mussten | |
sie frieren. Am dritten Tag gab es einen Aushang. Für den Auszug hatten sie | |
drei Tage Zeit. Dann kamen die Bagger. Ein Nachbar um die 60 habe sich aus | |
Verzweiflung vom Dach gestürzt, berichtet Jue Hao. „Die Wanderarbeiter | |
sollten sich nicht organisieren können“, vermutet Aktivist Liu. | |
Das rabiate Vorgehen der Behörden sorgt jedoch nicht nur bei Liu und seinen | |
Mitstreitern für Empörung. Landesweit hagelt es Kritik. Auch das hat eine | |
neue Qualität. Mehr als 100 Intellektuelle haben einen Protestbrief gegen | |
die „rücksichtslose“ Kampagne geschrieben. In einigen der betroffenen | |
Siedlungen hat es am Wochenende Demonstrationen gegeben. In sozialen Medien | |
gibt es Aufrufe, Zimmer für vertriebene Wanderarbeiter bereitzustellen. Und | |
selbst einige der staatlich kontrollierten Zeitungen werfen die Frage auf, | |
ob Pekings Stadtverwaltung angesichts der eisigen Kälte nicht zu brutal | |
vorgegangen ist. Selbst Premierminister Li Keqiang hat „mehr | |
Menschlichkeit“ angemahnt. | |
Für Wanderarbeiter Jue Hao und seine Familie kommen diese mahnenden Worte | |
zu spät. „Alles weg“, sagt er. Bis zum chinesischen Neujahrsfest Anfang | |
Februar wolle er versuchen, mit seinem geringen Einkommen eine neue Bleibe | |
für sich und seine Eltern zu finden. Viel Hoffnung hat er nicht. Bleibt er | |
erfolglos, müsse er weiterziehen, sagt er. „Das Schicksal eines | |
Wanderarbeiters eben.“ | |
22 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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