# taz.de -- Brexit-Verhandlungen in Brüssel: Alltagsfragen bleiben offen | |
> Ein Deal kurz vor den Weihnachtsferien? Wie London und Brüssel sich | |
> scheinbar einigten – und wieso sie weiter aneinander vorbeireden. | |
Bild: In Belfast ist man sich sicher: Dort soll es keine harte Grenze geben. Da… | |
Geht der 8. Dezember 2017 in die Geschichte ein als der Tag, an dem | |
Großbritannien und die Europäische Union sich über den Brexit | |
verständigten? Die Einigung war jedenfalls spektakulär choreografiert: | |
Theresa May flog in der Nacht zum Freitag, kurz nachdem die EU den Briten | |
eine Frist bis Sonntag gesetzt hatte, unangekündigt nach Brüssel, und noch | |
vor Sonnenaufgang war der Deal perfekt und alle waren begeistert. | |
Natürlich wurde der 16-seitige „Joint Report“, den die Brexit-Unterhändler | |
beider Seiten da vorlegten, nicht erst in der Nacht geschrieben. Ebenso | |
wenig die 16-seitige Antwort der EU-Kommission, die die Empfehlung enthält, | |
der EU-Gipfel kommende Woche möge den Erfolg der ersten Phase der | |
Brexit-Verhandlungen bestätigen und den Eintritt in weitere Gespräche | |
beschließen. | |
Es ist der Abschluss einer dramatischen Woche, in der sogar über den Sturz | |
von Theresa May spekuliert worden war – vielleicht ein Grund, warum beide | |
Seiten sich jetzt so beeilt haben. Erst am Montag war eine angeblich schon | |
fertige Vereinbarung am Widerstand der nordirischen Unionisten | |
gescheitert. Sie wehrten sich gegen jede denkbare Verwässerung der | |
Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich. Die gewünschte | |
Erfolgsmeldung beim nächsten EU-Gipfel stand auf der Kippe – und damit der | |
gesamte Brexit-Zeitplan. | |
Denn je länger sich London und Brüssel nicht einmal bei den sogenannten | |
Scheidungsfragen einig werden, desto schwerer ist es, überhaupt eine | |
Austrittsvereinbarung zu finden, bevor der Brexit am 29. März 2019 in Kraft | |
tritt. Es geht um die Erfüllung offener finanzieller Verpflichtungen | |
Großbritanniens gegenüber der EU, die Gewährleistung bestehender Rechte von | |
[1][EU-Bürgern in Großbritannien] und Briten in EU-Ländern und um die | |
[2][Beibehaltung einer offenen Grenze zwischen Nordirland und der Republik | |
Irland]. | |
Ein Brexit ohne Deal – das wollte außer den radikalsten EU-Gegnern in | |
Großbritannien niemand. Denn das würde bedeuten: Kein Geld mehr für die EU | |
aus Großbritannien, dem zweitgrößten Nettozahler. Und keine Vereinbarung | |
über die zukünftigen Beziehungen – das heißt über das von London gewünsc… | |
Freihandelsabkommen, die Rolle des Finanzplatzes London oder Fragen der | |
sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Themen, bei denen Großbritanniens | |
Rolle in der EU besonders wichtig ist. | |
Nun ist die Einigung über die drei „Scheidungsfragen“ offenbar da. Wieso | |
hat das so lange gedauert? Inhaltlich gab es nie grundsätzlichen Dissens. | |
Der war struktureller Natur. | |
## Nur ein Fortschrittsbericht | |
Aus EU-Sicht waren die „Scheidungsfragen“ unverhandelbare Vorbedingungen, | |
ohne die es gar nichts Weiteres zu besprechen gibt. Brüssel wartete, bis | |
die britische Seite sich bewegte. Die EU hat diese Phase der | |
Austrittsverhandlungen so geführt, wie sie Beitrittsverhandlungen führt: | |
Das fragliche Land hat EU-Bedingungen zu erfüllen, erst dann geht es | |
weiter. Was jetzt in Brüssel vorliegt, ist eben auch, wie die EU-Kommission | |
betont, noch keine Vereinbarung. Sondern ein Fortschrittsbericht, so wie | |
er für Beitrittskandidaten erstellt wird. | |
Aus britischer Sicht hingegen war eine Beschäftigung mit den | |
„Scheidungsfragen“ schon ein erstes Entgegenkommen. Man könnte ja auch | |
einfach ohne Vereinbarung austreten. Die häufigste in London gestellte | |
Frage zu den finanziellen Verpflichtungen war und ist: Was bekommen wir | |
für unser Geld? Die ehrliche Antwort konnte Brüssel nicht geben. Sie wäre: | |
Nichts, außer die Erlaubnis, überhaupt mit der EU über andere Dinge zu | |
reden. | |
So bleibt die Erwartungshaltung in London bestehen, dass Großbritannien | |
sich mit seinen Finanzzusagen ein europäisches Entgegenkommen in der | |
Zukunft erkauft hat. Die EU wird das anders sehen, was die zukünftigen | |
Gespräche belasten dürfte. | |
Die werden ohnehin dadurch erschwert, dass auch bei den „Scheidungsfragen“ | |
der Teufel im Detail steckt: Worin bestehen überhaupt die Verpflichtungen? | |
Welche Rechte sind zu gewährleisten und wie? Wie hält man eine | |
EU-Außengrenze offen? | |
Beantwortet sind diese Fragen jetzt nur teilweise. Die finanziellen | |
Verpflichtungen sind nicht beziffert. Großbritannien zahlt in den Jahren | |
2019 und 2020 einfach weiter in den EU-Haushalt ein und bekommt weiter | |
Gelder heraus, als wäre es EU-Mitglied. Brüssels Punktsieg besteht darin, | |
dass London da überhaupt mitmacht, auch in Bezug auf Zahlungen, die erst | |
nach 2020 fällig werden. Das hat Theresa May erst im November zugesagt. | |
Londons Punktsieg: Die Zahlungen beschränken sich auf „tatsächlich | |
umgesetzte“ Aktivitäten, bestehende Rabatte gelten weiter und britische | |
Anteile an EU-Vermögen werden gegengerechnet. | |
## Alle Probleme vertagt | |
In dieser Frage hatte die EU am meisten zu verlieren: Ohne britische Gelder | |
würden in Brüssel schon ab 2019 Milliardenlöcher auftauchen, während schon | |
hochfliegende und teure Reformpläne zirkulieren. | |
Bei den anderen beiden Fragen sind viel mehr Details noch unklar, als | |
öffentlich gesagt wird. Was die Bürgerrechte angeht, gab es zwar einen | |
Durchbruch: EU-Bürger in Großbritannien dürfen sich weiter auf Urteile des | |
Europäischen Gerichtshofs berufen. Zugleich darf der Gerichtshof nur auf | |
britische Initiative und nur für die nächsten acht Jahre tätig werden. Aber | |
viele Alltagsfragen bleiben offen: die fortdauernde gegenseitige | |
Anerkennung von Berufsabschlüssen, zukünftige Entsenderichtlinien, die | |
Niederlassungsfreiheit für Briten in der gesamten EU auch nach dem Brexit. | |
Was Nordirland angeht, bleibt die Unklarheit einfach bestehen. | |
Großbritannien tritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion aus, trotzdem | |
gibt es keine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland. | |
Wie das gehen soll, wird noch vereinbart. | |
Letztlich wurde die Einigung vom 8. Dezember nur möglich, weil man sich | |
darauf verständigt hat, alle Probleme zu vertagen. So können beide Seiten | |
nach dem Gipfel in einer Woche beruhigt in die Weihnachtsferien fahren – | |
sofern in den nächsten Tagen nicht jemand noch ein Problem entdeckt, das | |
nicht warten kann. | |
Die Probleme, die es ohnehin noch geben wird, sind klar: Das | |
EU-Kommissionspapier stellt fest, der Deal jetzt sei „nicht die | |
Austrittsvereinbarung“. Diese sei auf Grundlage der erreichten | |
„Fortschritte“ auszuhandeln. Das entspricht der Brüsseler Sicht auf den | |
Verhandlungsprozess. Im „Joint Report“ steht die Londoner Sicht: Die | |
„gemeinsamen Verpflichtungen“ stünden „unter dem Vorbehalt, dass nichts | |
vereinbart ist, bis alles vereinbart ist“. | |
Also ist nichts vereinbart? Wäre das so, wird die zweijährige | |
Übergangsphase nach dem Brexit, während der Großbritannien weiter EU-Regeln | |
einhält und ein Freihandelsabkommen ausgehandelt wird, nicht ausreichen. | |
Und je länger der Übergang dauert, desto schwerer wird es sein, einen | |
endgültigen Kompromiss zu finden. | |
Sowohl das britische Parlament als auch das Europaparlament müssen am Ende | |
zustimmen. Und britische Brexit-Gegner wollen die ganze Prozedur ohnehin | |
vor Gericht anfechten. Der Brexit bleibt eine Baustelle. | |
8 Dec 2017 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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