Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Pressefreiheit in Russland: Lieber tot als abgeschoben
> Der Journalist Ali Ferus soll von Russland nach Usbekistan abgeschoben
> werden. Dort droht ihm Folter – weil er Regimekritiker ist und schwul.
Bild: Seine Kollegen beschreiben ihn als „einen, der wirklich zuhört“: Der…
Ein Bürogebäude unweit des Roten Platzes in Moskau, Anfang November. In
einem Atelier im zweiten Stock wippen ein paar Leute zu elektronischer
Musik. An der Decke hängen Luftballons, es gibt Krim-Sekt aus
Plastikbechern. So richtig nach Feiern ist niemandem zumute. Auf einem
Tisch liegen Kugelschreiber und T-Shirts. Darauf gedruckt das Gesicht eines
jungen Mannes mit kurzem Bart und Brille. Darunter die Aufschrift:
#FreeAli. Eine junge Frau läuft mit einer Spendendose umher. „Wir vermissen
dich, Ali“, ruft jemand auf Russisch.
Eine Solidaritätsparty, rund 30 Leute sind gekommen. Freunde und Kollegen
haben sie organisiert für Chudoberdi Nurmatow. Seit Anfang August sitzt der
usbekische Journalist und Menschenrechtsaktivist, bekannt unter dem
Pseudonym Ali Ferus, in Abschiebehaft in der Nähe von Moskau. Er soll nach
Usbekistan abgeschoben werden, die russischen Behörden haben ihm kein Visum
mehr ausgestellt. Seine Unterstützer haben ihm über seinen Anwalt ein
Notizheft und einen Kugelschreiber zukommen lassen. In seiner Zelle führt
Ali Ferus Tagebuch:
6. August 2017: Das SUWSIG ist ein Militärobjekt. Es ist von einem
doppelten grünen Stacheldrahtzaun und Wachtürmen umringt. Nachts lassen sie
Hunde umherlaufen. Hier werden keine Kriminellen, sondern Ausländer wegen
kleiner Ordnungswidrigkeiten festgehalten. Zum Beispiel wegen
Fristversäumnissen bei Visums- oder Anmeldungsangelegenheiten.
## Die russischen Behörden blockieren
Ali Ferus’ Heimatland Usbekistan hat im Welt-Pressefreiheits-Index den 169.
Platz, Journalisten wie er werden regelmäßig bedroht. Die Uni Göttingen hat
ihm bereits Anfang dieses Jahres eine Forschungsstelle zum Thema Migration
und Geflüchtete angeboten. Zusammen mit der Nemzow-Stiftung hat sie ein
Stipendium für ihn organisiert. Deutschland ist bereit, Ferus ein
humanitäres Visum auszustellen. Aber die russischen Behörden blockieren
das.
Im Hinterhof des Moskauer Bürogebäudes, zwischen verrosteten Garagentoren
und herunterhängenden Kabeln, sitzt Pawel Gafarow und dreht sich eine
Zigarette. Es regnet, Pawel bläst den Rauch in die kühle Luft. Der
28-Jährige ist Ferus’ Partner, seit Oktober sind die beiden verlobt. Der
Antrag kam per Anruf, aus der Zelle. „Sehr romantisch.“ Gafarow lächelt.
Homosexuelle Ehen sind in Russland verboten. Der Antrag ist ein Zeichen der
Hoffnung, er soll Ferus daran erinnern: Draußen wartet das Leben.
Gafarows Handy vibriert, ein Anruf. Ferus darf täglich eine halbe Stunde
telefonieren. „Hörst du uns?“ Ferus’ Stimme klingt gebrochen, er atmet t…
ein vor jedem Satz. Sein psychischer Zustand sei nicht stabil, sagt er.
Manchmal habe er das Gefühl, seine Freunde hätten ihn vergessen. Doch dann
gebe es Tage, an denen er wieder Hoffnung spüre. Hoffnung liegt für Ferus
momentan vor allem in Deutschland. „Alle Papiere liegen bereit. Ich warte
nur auf eine Antwort von den russischen Behörden.“ Doch genau das versuche
der usbekische Geheimdienst zu verhindern, glaubt Ferus. Denn für ihn ist
er nicht irgendwer.
## „Die Wände bedrängen mich von allen Seiten“
Bevor Ferus inhaftiert wurde, arbeitete er als Reporter für die
regierungskritische Zeitung Nowaja Gaseta in Moskau. Seine Artikel sorgten
für Aufsehen. Er, der jahrelang über das Schicksal von Migranten schrieb,
über die Grausamkeit, mit der sie ausgebeutet werden, die Doppelmoral der
russischen Regierung und die Machenschaften des usbekischen Geheimdienstes
in Russland – er ist nun selbst zum Protagonisten geworden. Und zum Opfer
seiner eigenen Recherchen.
6. August 2017: Wegen der Hitze fällt das Atmen in der Zelle schwer. Es ist
eine gute Schicht. Die Wachen lassen die Essensklappe geöffnet. Nach dem
Mittagessen entsteht, weil wir uns nicht bewegen können, ein Gefühl der
Aussichtslosigkeit und Einsamkeit. In solchen Momenten bekomme ich öfter
Panikattacken. Die Wände bedrängen mich von allen Seiten.
Der usbekische Geheimdienst wird das erste Mal auf Ferus aufmerksam, als er
2008 von seinem Studium im russischen Kasan nach Usbekistan zurückkehrt. Er
kritisiert die damalige usbekische Regierung unter Islam Karimov. Die
Beamten wollen Auskunft über Ferus’ politische Aktivitäten und die seiner
Freunde. Er soll als Informant für den Geheimdienst arbeiten. Ferus weigert
sich und wird gefoltert.
2009 flieht er aus Usbekistan, zunächst nach Kirgistan und Kasachstan. Zwei
Jahre später kommt er nach Moskau und beantragt Asyl. Er fürchtet nicht nur
den Geheimdienst wegen seiner politischen Haltung – während er in Moskau
seine Homosexualität mit Einschränkungen ausleben kann, droht ihm in
Usbekistan Folter. Wenn nicht gar der Tod.
10. August 2017: Seit die Usbeken wissen, dass ich Probleme mit dem
usbekischen Geheimdienst habe, meiden sie mich. Die Tadschiken lachen über
sie: „Wovor habt ihr denn Angst? Euer Karimov ist auch gerade in einer
Haftanstalt, nämlich in der Hölle! Er wird euch nichts tun.“
## Ferus spricht neun Sprachen
Islam Karimov regierte Usbekistan seit 1991, im September 2016 ist er
gestorben. Das Timing von Ferus’ Festnahme scheint kein Zufall zu sein.
„Die Polizei hatte nie ein Problem mit mir“, sagt Ferus der BBC im
Gerichtssaal. „Das hat erst angefangen, als ich über die Wahlen in
Usbekistan geschrieben habe.“
Im Juni dieses Jahres lernt Ferus Pawel Gafarow kennen. Schnell werden die
beiden ein Paar. „Ali war anders als alle anderen Kerle“, sagt Gafarow ein
paar Tage nach der Solidaritätsparty am Telefon. „Er hat mir sofort von
seiner Geschichte erzählt. Von der Vergangenheit in Usbekistan, von seiner
Leidenschaft für Journalismus. Er war total offen.“ Auch Ferus’ Kollegen
bei der Nowaja Gaseta, für die er 2014 zu schreiben begonnen hat, sind
beeindruckt vom Engagement, mit dem er seine Geschichten recherchiert.
Ferus ist sich für nichts zu schade. Um Moskau aus der Perspektive von
Behinderten zu erfahren, fährt er eine Woche lang im Rollstuhl durch die
Stadt. In der glühenden Sonne legt er Fliesen mit Gastarbeitern, verbringt
Silvester mit Obdachlosen, arbeitet drei Tage als Totengräber. Ferus
spricht neun Sprachen, er findet schnell Anschluss, gerade im
Migrantenmilieu. Seine Kollegen beschreiben ihn als jemanden, der „den
Menschen wirklich zuhört“. Er habe mit jedem eine gemeinsame Sprache finden
können, ob mit Kriminellen oder Ministern, mit Nationalisten oder
Straßenarbeitern.
10. August 2017: In der Haftanstalt sitzen zwei Arten von Menschen. Die
einen nehmen die Haft hin und warten, bis sie zurück in die Heimat
geschickt werden. Die anderen sind mit der Haftsituation nicht
einverstanden und nicht bereit, sich an die Haftbedingungen zu gewöhnen.
Sie kommunizieren wenig und bevorzugen es, etwas abseits zu sein. Beide
Gruppen begegnen sich beim Ausgang im Hof, aber sie nehmen einander nicht
richtig wahr. Die einen spielen Fußball, lachen, und wenn sie ein Tor
schießen, dann tanzen sie. Die anderen sitzen auf der Bank und blicken
besorgt umher.
## „Usbekischer Flüchtling im Zentrum entführt“
Von Beginn an unterstützen ihn Kollegen der Nowaja Gaseta bei
Behördengängen. Mehrmals ist sein Asylantrag abgelehnt worden. Weil Ferus
keine Arbeitserlaubnis hat, sammeln seine Kollegen Geld und bezahlen seine
Artikel von Spenden. Nach und nach erfahren sie von seiner Vergangenheit.
Er erzählt von Folter – mit einem Lächeln. „Er wollte uns nicht
erschrecken“, schreiben seine Kollegen in einem Aufruf für Ferus’ Freiheit.
Sätze wie „Ich würde lieber sterben, als zurückzukehren“ hätten sie dam…
nicht wörtlich genommen.
15. August: Ich wurde in die Zelle 302 verlegt, in den Frauen-Block (…)
Mein neuer Nachbar ist Urmat. Er ist aus Bischkek, Kirgisien. Russisch
spricht er gut, er lebt seit drei Jahren in Moskau. (…) In der einen Woche,
die Urmat im SUWSIG verbracht hat, wurde er von einem Kriminalbeamten
sechsmal verhört. Urmat sagt, dass die Polizisten ihm einen Deal anbieten:
seine Freunde zu verraten. Sie denken, dass er etwas mit Drogen zu tun hat.
Urmat bestreitet das. Außerdem befragen sie ihn zu seiner Sexualität. Sie
denken wegen seiner langen Haare, dass er schwul ist.
Ferus’ erster Artikel für die Nowaja Gaseta trägt den Titel „Usbekischer
Flüchtling im Zentrum Moskaus entführt“. Wenn man ihn liest, versteht man
sofort, warum er so eine panische Angst hat, nach Usbekistan abgeschoben zu
werden. Der Artikel ist eine Horrorgeschichte, die auch ihm droht. Er
beschreibt, wie usbekische Staatsbürger in Moskau entführt und nach
Usbekistan gebracht werden – eine Kooperation des russischen und des
usbekischen Geheimdienstes. Dort, so zitiert Ferus einen Menschenrechtler,
„werden sie zu Tode geschlagen, mit kochendem Wasser übergossen, ihnen
werden die Nägel gezogen.“
Die Chefredaktion der Nowaja Gaseta will Ferus unbedingt anstellen. Doch
sein Asylantrag wird erneut abgelehnt. Er beantragt einen temporären
Aufenthaltsstatus. Die Herausgeber der Zeitung schreiben dem russischen
Innenminister, selbst Wladimir Putin bitten sie um Unterstützung. Ein
Problem ist: 2012 hat Ferus seinen Pass verloren. Um einen neuen zu
beantragen, müsste er nach Usbekistan reisen.
1. September 2017: In letzter Zeit habe ich einen eigenartigen Reflex
entwickelt. Ein Telefonanruf oder das Türklingeln – und mein Herz rutscht
mir in die Hose. Mir kommt es so vor, als wären sie hinter mir her. Erst
wenn ich höre, dass die Tür der Nachbarzelle aufgeht, kann ich mich wieder
entspannen. Ich habe das Gefühl, das Unglück sei an mir vorbeigerast.
Der erste Warnschuss kam im März dieses Jahres. In einem Protestschreiben
halten seine Kollegen fest: Ferus wird damals schon einmal in der Nähe
seiner Moskauer Wohnung festgenommen. „Sie haben auf mich gewartet“, kann
er gerade an seine Redaktion schreiben. Dann bringen ihn die Polizeibeamten
ins Büro für interne Angelegenheiten in Presnija, einem Bezirk im
Nordwesten Moskaus. Dort wird er zwölf Stunden ohne Anklage festgehalten.
Die Beamten befragen ihn zu seiner Arbeit, sie wollen wissen, warum er Asyl
in Russland beantragt hat.
## Entlassen. Vorübergehend
Außer den Polizisten sind Vertreter des russischen Geheimdienstes FSB und
einige Männer in Zivil bei der Befragung dabei. Sie sprechen usbekisch. Die
Beamten erklären Ferus, dass er noch am gleichen Abend nach Usbekistan
abgeschoben werden soll. Erst dann wird einem Anwalt Zutritt erlaubt.
Abends wird Ferus schwindlig, er bekommt Fieber. Sie bringen ihn in ein
Krankenhaus, von dort wird er überraschend entlassen. Vorübergehend.
3. September, 2017: Heute sind es 32 Tage, die ich hier drin bin. Als ob
die Zeit stehen geblieben wäre. Es passiert nichts. Jeden Tag möchte ich
dem Anwalt dieselben Fragen stellen: „Ich werde doch nicht nach Usbekistan
abgeschoben, oder? Wann komme ich raus?“
Am 1. August wird Ferus auf dem Weg von der Redaktion zum Gesangsunterricht
erneut verhaftet. Auf Facebook postet er ein Video, das er auf dem Rücksitz
eines Polizeiwagens aufnimmt. Er wirkt verunsichert, kratzt sich an der
Stirn. „Sie bringen mich ins Büro für interne Angelegenheiten in Basmanny.
Neben mir sitzen Männer mit Kalaschnikows.“
Schon wenige Stunden später ist das Urteil gesprochen: Ferus soll mit
sofortiger Wirkung nach Usbekistan abgeschoben werden. Noch im Gerichtssaal
greift er nach einem Kugelschreiber und versucht, sich die Pulsadern
aufzuschneiden. Auf dem Weg in die Haftanstalt wird er geschlagen und mit
Elektroschockern verletzt, berichtet die Nowaja Gaseta und zeigt Fotos der
Verletzungen. „Der Tag war der reinste Albtraum“, erinnert sich Ferus’
Verlobter Gafarow, der nicht in den Gerichtssaal gelassen wurde.
6. September 2017: Alle in der Zelle sind traurig. Urmat konnte seine
Freunde nicht erreichen. Und Tahirs jüngster Sohn wurde in Tadschikistan
festgenommen. Rasul hat Angst, dass er das amerikanische Visum doch nicht
bekommt und in Usbekistan bleiben muss. Und ich habe Angst, dass ich nach
Usbekistan abgeschoben werden kann. Ich bin nun zu einem Handelsobjekt
geworden. Erst heute haben Migranten aus Usbekistan während des Ausgangs
von Folter in ihrem Land erzählt. Wenn ich daran denke, bricht mir
Angstschweiß aus und die Welt verdunkelt sich vor meinen Augen. Ich möchte,
dass mein Herz einfach aufhört zu schlagen. Es scheint mir, als wäre das
wohl für alle das Beste.
## „Lieber sterbe ich“
Ferus’ Anwälte erheben Einspruch am Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. Der entscheidet am 4. August in einem Eilverfahren, dass er
nicht nach Usbekistan ausgeliefert werden darf, bis das endgültige Urteil
feststeht. Bis dahin könnte es ein bis zwei Jahre dauern. So lange muss er
in Abschiebehaft bleiben, urteilt das Moskauer Stadtgericht vier Tage
später. Im Gerichtssaal wiederholt Ferus den Satz, den er schon seinen
Kollegen gesagt hat: „Lieber sterbe ich, als nach Usbekistan
zurückzukehren.“
Ferus’ Texte sind ein Aufruf zum Widerstand gegen die Willkür des Staats
und zur Aufklärung von Unrecht. Der usbekischen und russischen Regierung
ist er ein Dorn im Auge. Weil er die Menschen aus ihrer Passivität reißen
könnte. Sein letzter Artikel ist vom 30. Juli. Er trägt den Titel „Es gibt
einen Prozess“ und handelt von einem jungen Wehrpflichtigen, dessen
Todesursache Fragen aufwirft.
Seitdem gibt es nur noch Artikel über Ferus, keine von ihm. Am 14.
September schreibt er in sein Tagebuch:
14. September 2017: Ich habe mich endgültig vergewissert, dass ich nicht so
stark bin, wie viele denken. Ich glaube, wenn jemand Hilfe braucht, soll er
sich nicht dafür schämen, sich an Menschen zu wenden, um davonzukommen.
Helft mir bitte zu überleben. (Letzter Eintrag)
10 Dec 2017
## AUTOREN
Paul Toetzke
## TAGS
Russland
Abschiebung
Homosexualität
Usbekistan
Russische Opposition
Lesestück Recherche und Reportage
Russland
Usbekistan
Usbekistan
Anna Politkowskaja
## ARTIKEL ZUM THEMA
Usbekischer Aktivist in Deutschland: Wie in einem Agentenkrimi
Der usbekische Journalist Ali Ferus saß in Moskauer Abschiebehaft. Dann kam
das Angebot, nach Deutschland zu kommen. Nun ist er frei.
Homophobie in Russland: Ganz alltäglicher Hass
Leider nicht überraschend: Das russische Vermietungsportal MyLinker schlägt
Alarm, wenn sich in einer Stadt zu viele Schwule tummeln.
Präsidentschaftswahl in Usbekistan: So hart wie sein Vorgänger
Der bisherige Regierungschef Schawkat Mirsijajew hat die
Präsidentschaftswahl deutlich gewonnen. Es gibt jedoch Kritik an der
Transparenz der Abstimmung.
Usbekischer Präsident Karimow ist tot: Der Kronos aus Zentralasien
Islam Karimow herrschte seit dem Ende der Sowjetunion als Diktator in
Usbekistan. Er bekämpfte die Opposition, Islamisten und seine eigene
Familie.
Presse in Russland: Die „Neue Zeitung“ sieht alt aus
Dem oppositionellen Blatt „Nowaja Gaseta“ droht im Mai das Aus – zumindest
im Print. Der Chefredakteur spricht von finanziellen Schwierigkeiten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.