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# taz.de -- Hamburgs Reformjuden sind wieder da: Im Clinch mit den Orthodoxen
> In Hamburg gibt es seit 13 Jahren wieder eine Liberale Jüdische Gemeinde.
> Sie steht im Schatten der Orthodoxen und kämpft bis heute um Geld – und
> um einen eigenen Ort.
Bild: Die Apsis ist noch zu sehen: Erster Tempel der Hamburger Reformjuden in d…
Hamburg taz | Sie wissen, dass hier in der Kohlhöfen eine orthodoxe
Synagoge stand?“, sagt Wolfgang Georgy und zeigt in westliche Richtung. Es
ist ein nasskalter Tag, an dem man gern den Mantelkragen hochschlägt, und
wir stehen mitten in der Hamburger Neustadt. Poolstraße, Hütten,
Rademachergang und eben Kohlhöfen sind die Straßennamen. Früher lebten hier
Hamburgs Juden, bis sie dank endlich zugeteilter Bürgerrechte und ihrem
einsetzenden Wohlstand ab den 1890er-Jahren langsam hinüberwechselten ins
mondänere Grindelviertel nahe des neuen Bahnhofs Dammtor.
Doch zuvor entstand hier, zwei Straßen weiter, die neue Synagoge des
liberalen Judentums in Hamburg: der „Israelitische Tempel“. Man wollte
nicht mehr darauf warten, dass eines Tages in Jerusalem der eine Tempel der
Juden wieder aufgebaut werden würde, sondern überall wo Juden sind, konnte
nach jüdisch-liberalem Verständnis ein solcher erbaut werden.
Im Dezember 1817, vor 200 Jahren, hatte sich zu diesem Zweck der Neue
Israelitische Tempelverein in Hamburg gegründet. Bei den liberalen
Gottesdiensten saßen Männer und Frauen zwar weiterhin getrennt, aber die
Frauenräume waren nicht mehr vergittert und es gab einen gemeinsamen
Eingang. Neben Hebräisch wurde nun auch in Deutsch gepredigt. Und die
bisher verpönte Musik kam hinzu: In den liberalen Reformsynagogen gab es
nun eine Orgel, der Chor sang gemischt.
## Der Mainstream des deutschen Judentums war liberal
„Die gebildeten Hamburger Familien wie die Mendelssohns und die Heines
waren eine Generation zuvor Christen geworden. Nun wollte man mit den
Traditionen brechen, aber auch zeitgemäßere Formen finden, um es den
reichen Kaufleuten zu ermöglichen, weiterhin ihren jüdischen Glauben zu
leben“, sagt Wolfgang Georgy, der im Vorstand der Liberalen Jüdischen
Gemeinde von Hamburg tätig ist.
„Der Mainstream des deutschen Judentums vor 1938 war liberal und nicht
orthodox. Nur weiß das heute niemand mehr.“ Er sagt: „Wer heute in den USA
jüdische Theologie studiert, der sagt: ‚Ah, Hamburg – die Wiege des
Reformjudentums!‘.“ Auch das sei in Hamburg kaum bekannt und doch
eigentlich etwas, worauf die Stadt stolz sein könne.
Wir betreten einen Innenhof in der Poolstraße. Eine Kfz-Werkstatt findet
sich hier, untergebracht in den Resten des zweiten Tempels der Hamburger
Liberalen. 1842 war er eingeweiht worden, nachdem der erste zu klein
geworden war. Wolfgang Georgy kann sich gut vorstellen, ihn eines Tages
wieder aufbauen zu lassen. „Noch besser wäre natürlich der ehemalige Tempel
in der Oberstraße, den man im Vergleich zu hier recht einfach wieder
zurückbauen könnte“, sagt er.
Die Oberstraße, das ist wiederum eine kleine Querstraße im Hamburger
Grindelviertel, gesäumt von soliden bis prächtigen Stadtvillen. Hier war
von 1931 an bis zum Jahr 1938 der dritte Tempel der Liberalen. Nach dem
Ende des NS-Regimes wurde das Gebäude dem Norddeutschen Rundfunk verkauft,
der es zu einem Tonstudio und gleichzeitigem Konzertsaal umbauen ließ,
sodass bis heute Konzerte und auch Lesungen live übertragen wie
aufgezeichnet werden können. „Wir haben angefragt, ob wir nicht einzelne
Räume auf ständiger Basis nutzen könnten“, sagt Wolfgang Georgy. Man war
nicht interessiert.
## Die Liberalen werden gerade wieder „mündig“
Und so sucht die Liberale Jüdische Gemeide in Hamburg weiter nach einer
eigenen Synagoge. Georgy hat da einen Vergleich parat: „Wir befinden uns im
13 Jahr unserer Wiedergründung und wie Sie sicherlich wissen, feiert der
jüdische Junge mit 13 Jahren seine Bar Mitzwa: Er wird dann
religionsmündig, er liest eine Passagen aus der Schriftrolle vor und wird
mit allen Rechten und Pflichten in die Gemeinde aufgenommen.“ In dieser
Lebensphase sieht er auch seine Gemeinde.
Er persönlich hat eine eigene Geschichte, die wiederum zur Geschichte des
liberalen Judentums zu passen scheint: „Ich habe erst erfahren, dass ich
Jude bin, als ich schon Student war. Ich konnte also ganz von vorne
anfangen und frei überlegen, wo ich hingehöre.“ Er will jetzt seine
Familiengeschichte nicht zu sehr vertiefen – aber eine Ahnung, dass da
etwas ist, hätte er schon immer gehabt. Er sagt: „Ich weiß nicht, ob ich
mich da jetzt in etwas hineinsteigere, aber ich hatte schon immer eine
gewisse Affinität zum Judentum, was damals natürlich manche Leute entsetzt
hat.“
Überhaupt ist Religion eine Konstante in seinem Leben (neben der Musik –
Georgy, 68, ist Musikwissenschaftler und Dirigent): „Ich habe zum Beispiel
sieben Jahre im Kirchenchor gesungen und hätte den gesamten Gottesdienst
mit Pastor nachmachen können.“ Nun aber vertieft er sich in die jüdischen
Quellen: „Das war es dann, da kommt man dann nicht mehr von los.“
Lange betrachtete Georgy die jüdische Szene Deutschlands quasi vom
Spielfeldrand aus. Als sogenannter Vaterjude – sein Vater ist Jude, nicht
seine Mutter – ist die Orthodoxie ihrerseits an ihm nur mäßig interessiert.
Er wird hellhörig, als die jüdische Szene ab Anfang der 1990er-Jahre
durcheinandergewirbelt wird: Die so genannten Kontingentflüchtlinge kommen,
vornehmlich aus der ehemaligen Sowjetunion.
„Wenn diese Menschen auf dem Formular bei Religionszugehörigkeit ‚jüdisch…
ankreuzten, wurden sie den entsprechenden orthodoxen Gemeinden der Städte
und Kreise zugeteilt, in denen sie leben sollten, auch wenn sie meist
jüdisch liberal waren“, sagt er. „Das waren oft Menschen, die nun nicht
danach lechzten, tief religiös zu werden, aber sie verband ein großes
Gemeinschaftsgefühl.“ Entsprechend knirschte es bald in den orthodoxen
Gemeinden. Auch in Hamburg. 2004 entstand die Liberale Jüdische Gemeinde –
im Clinch mit der Orthodoxie. Und Wolfgang Georgy mischte sich ein.
300 sogenannte richtige Mitglieder hat die Gemeinde: Das sind Juden mit
jüdischer Mutter. Dazu kommen etwa 200 Freundeskreismitglieder, darunter
die, die lediglich einen jüdischen Vater vorweisen können, plus allgemeine
Unterstützer. So ist alles erst mal in Ordnung – wäre da nicht das Geld,
das man braucht, um etwa einen Vollzeit-Rabbiner zu finanzieren. Hamburgs
liberale Juden haben derzeit nur einen Rabbiner auf einer
Zwei-Drittel-Stelle.
## Streit um den städtischen Zuschuss
Bisher ist das mit dem Geld so geregelt: Die Stadt Hamburg zahlt seit 2007
der zahlenmäßig größeren Orthodoxen Jüdischen Gemeinde einen jährlichen
Zuschuss von gut 875.000 Euro. Etwa 100.000 Euro erhält die Jüdische
Schule. Von dem, was bleibt, bekommen die Liberalen von den Orthodoxen
einen Teil in Vierteljahresraten weiter überwiesen. Ganz am Anfang
erhielten sie zehn Prozent. Zwischendurch wurde ihr der Satz unvermittelt
auf fünf Prozent halbiert – die Liberalen zogen vors Hamburger
Verwaltungsgericht.
In Kürze sollen sie neun Prozent bekommen. Gern würde man separat mit der
Stadt verhandeln und als zweite, vor allem gleichberechtigte Gemeinde
anerkannt werden. Man hofft auf ein entsprechendes Signal des Senats.
Wolfgang Georgy holt einmal tief Luft: „Es ist alles etwas schwierig, aber
das sind wir ja gewohnt.“
Und um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: Es gibt neben den
orthodoxen Gemeinden, die in der Regel dem Zentralrat der deutschen Juden
zugeordnet sind, noch die Union progressiver Juden in Deutschland, die sich
als Sammelbecken der liberalen Strömung versteht. Und die sich gern die
Hamburger liberalen Juden einverleiben würde – was dort auf wenig
Begeisterung stößt.
Und es gibt neuerdings innerhalb der orthodoxen Gemeinde Hamburgs eine Art
kleine Untergruppe, die den liberalen Gebetsritus praktizieren, aber in der
orthodoxen Gemeinde verbleiben will – nicht ganz überraschend besteht sie
teilweise aus enttäuschten Ex-Mitgliedern der Liberalen. Das hat Folgen:
Konnten die Liberalen ab 2011 eine ehemalige Turnhalle auf dem Gelände der
Israelitischen Töchterschule im Hamburger Karolinenviertel jeden Freitag
für ihren Gottesdienst nutzen, müssen sie nun jeden zweiten Freitag
weichen.
Hausherr ist die Hamburger Schulbehörde, die sich aus dem Streit
herauszuhalten versucht, was den Streit natürlich nicht löst. „Vor diesem
Hintergrund müssen wir immer die fröhlichen, lustigen Juden spielen, die
wir ja auch sind“, sagt Georgy. Er sagt: „Eigentlich ist jeder gegen jeden,
und da ist es gut, wenn man seinen Kopf über Wasser hält; wenn man einfach
sein Ding macht, auch wenn die anderen schäumen.“ Und er lacht noch mal,
blickt in den grauen Dezemberhimmel und sagt: „Bisher sind wir ganz gut
durchgekommen.“
10 Dec 2017
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Hamburg
Judentum
Lesestück Interview
Judentum
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