# taz.de -- Nachwuchssorgen beim Eisschnelllauf: Eiserne Zeiten | |
> Dem Deutschen Eisschnelllauf fehlt es an jungen Talenten. Der Verband | |
> macht deshalb Druck. Zu viel, meint Trainer Robert Lehmann. | |
Bild: Der Nachwuchs muss sich beeilen | |
Erfurt taz | Jenny Wolf sitzt ganz allein auf der Gegentribüne. Sie schaut | |
sich die Schlittschuhläufer aus der Distanz an. Für die ehemalige | |
Weltklasse-Sprinterin ist dieser Wettkampf, der deutsche Juniorencup in der | |
Erfurter Eisschnelllaufhalle, ein Pflichttermin, denn Wolf, 38, ist | |
„Nachwuchstrainerin mit Scoutingfunktion“, wie sie sagt. Das ist kein | |
leichter Job. Der deutsche Nachwuchs schwächelt nämlich. Er droht, den | |
Anschluss an die internationale Spitze zu verlieren. | |
Ganz oben gibt es eigentlich nur die ewige Kurvenläuferin Claudia | |
Pechstein, eine Veteranin von 45 Jahren, dazu Sprinter Nico Ihle und | |
Langstreckler Patrick Beckert. Und dann? Tja. „Die Breite fehlt“, sagt | |
Jenny Wolf, „aber eigentlich fehlt es überall, es ist sehr komplex.“ | |
Um die Probleme in der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG), die | |
seit Jahren unter einem Mitgliederschwund leidet, zu lösen, hantieren sie | |
mit sperrigen Begriffen wie „standortorientierte Zielplanung“ oder | |
„Rahmentrainingskonzeption“. Im Grunde geht es darum, dass alles schnell | |
viel besser werden muss, vor allem in der Talentförderung. „Im Verband hat | |
man bestimmte Dinge laufen lassen, weil man erfolgreich war, doch jetzt | |
muss ein Umdenken stattfinden, ein Kulturwandel“, sagt Wolf und notiert | |
sich die Zeit einer Nachwuchssprinterin auf einem Zettel. | |
Jenny Wolf reist durch Deutschland von Stützpunkt zu Stützpunkt und schaut | |
sich schon Siebenjährige an, ob die vielleicht taugen zum Leistungssport. | |
Und sie macht Druck, zusammen mit dem Nachwuchsbundestrainer Baumann und | |
Coach Coopmans, der ein Auge auf die Technik haben soll, also das | |
ästhetisch anspruchsvolle und vor allem schnelle Laufen in Erfurt, Inzell | |
oder Berlin. „Es musste sich etwas ändern, so konnte es nicht weitergehen“, | |
sagt er. „Das wird jetzt ein langfristiger Prozess, das dauert sicherlich | |
seine Zeit, bis er greift.“ Sie alle sprechen von Defiziten, die sich über | |
die Jahre angehäuft haben und von Trainern, die nicht immer über das nötige | |
Knowhow verfügen, um das Maximale aus ihren Eleven herauszuholen. | |
## Harte Auswahlkriterien | |
Es wurde wohl viel gewurschtelt und verwaltet, jetzt soll die Kaderschmiede | |
wieder befeuert werden, zum Beispiel mit harten Normzeiten, die junge | |
Schlittschuhläufer erreichen müssen, um Mitglied in den Kadern zu werden, | |
also im Kreis der Vielversprechenden. „Man muss ja irgendwo anfangen, an | |
der Schraube zu drehen“, rechtfertigt sich Wolf, die eigentlich gar nicht | |
der Typ ist für diese Art der stupenden Leistungsoptimierung. Die Schraube | |
hat sie im Sinne einer harten Auslese recht extrem angezogen, denn es ist | |
nun verdammt schwer, überhaupt in die Kader zu kommen. Im Vorjahr waren | |
zwölf Sportler im C-Kader (18–19 Jahre), heuer sind es nur noch vier. | |
Noch krasser sieht es im D/C-Kader (16–17 Jahre) aus. Da durften im | |
vergangenen Winter noch 21 Athleten mitmachen, jetzt sind es zwei. | |
Rausfliegen kann man jetzt schon beim „zentralen Athletik-Wettkampf“, bei | |
dem man keine Klapp-Schlittschuhe an den Füßen hat, sondern ganz normale | |
Sportschuhe. | |
„Die cutten alles weg“, ärgert sich Robert Lehmann, „ja, die schneiden | |
wirklich alles weg.“ Lehmann ist Nachwuchstrainer in | |
Berlin-Hohenschönhausen. Er kennt jede Faser des deutschen Eisschnelllaufs. | |
Als ehemaliger Athlet hat er drei Olympische Winterspiele miterlebt, und | |
schon 2003 hat der heute 33-Jährige Medaillen bei der | |
Junioren-Weltmeisterschaft gewonnen. „Man muss den jungen Sportlern die | |
Möglichkeit und die Zeit geben, sich zu entwickeln. Nach den heutigen | |
Maßstäben wäre ich nie im Weltcup gelaufen und im Juniorenbereich niemals | |
Kader gewesen. Es ist ja heutzutage leichter, zu Olympia zu kommen als im | |
Nachwuchsbereich in den Kader“, sagt er. Es geht ihm vor allem um | |
„Entwicklungsräume“, um die Wertschätzung von Athleten, die vielleicht no… | |
nicht ganz so weit sind, wie sich das die (über)ehrgeizige DESG-Spitze | |
wünscht. | |
## Marschplan mit vier Säulen | |
„Und es geht auch um kommunikative Skills. Wer 18 oder 19 ist, dem kann man | |
doch nicht einfach sagen: Tschüss, Danke, das war’s jetzt“, findet Lehmann. | |
Man habe über Jahre Sportler aus dem Juniorenbereich nicht weitergeführt: | |
„Die hat man sich selbst überlassen, aber wenn ich das fünfte Rad am Wagen | |
in der Seniorengruppe bin, dann wird das nichts, dann springen die ab.“ So | |
habe der Verband viele „intelligente und gute“ Läufer verloren. Hinzu | |
komme, dass viele Trainer „so ein bisschen machten, was sie wollten“. | |
Das Vier-Säulen-Konzept der DESG (Arbeit an Physis, Psyche, Taktik und | |
Technik) findet er freilich gut, denn er weiß ja aus eigener Erfahrung, wie | |
es ist, wenn die Leistung kein solides Fundament hat. „Ich war physisch | |
super, aber psychisch, taktisch und technisch nicht bei 100 Prozent. Wenn | |
du keinen Marschplan hast, verlierst du die Kontrolle über dein Rennen, und | |
das ist mir leider oft passiert.“ Das soll nun anders werden bei den | |
deutschen Talenten, ob sie nun Lea-Sophie Scholz, Jeremias Marx, Max Reder, | |
Ole Jeske oder Lukas Mann heißen. | |
Oder Victoria Stirnemann. Das ist die Tochter von Gunda-Niemann Stirnemann, | |
51, der Schlittschuh-Legende aus Thüringen. Victoria tritt auch beim | |
Erfurter Juniorencup an. 500 Meter läuft die 15-Jährige in 42,03 Sekunden. | |
Das reicht zum Sieg. Das Gefühl des Siegens kennt sie schon ganz gut. Beim | |
Vikingrace, so etwas wie eine Europameisterschaft für 11- bis 16-jährigen | |
Talente, hat sie im Frühjahr den Mehrkampf gewonnen. Das liegt | |
wahrscheinlich an der „Begeisterung“ für den Sport, die ihr die Mutter | |
vermittelt hat, denn darum gehe es doch, sagt die dreimalige | |
Olympiasiegerin, die in Interviews immer so klingt, als lese sie aus einem | |
Poesiealbum vor. „Alle sollen merken, dass sie willkommen sind, alle sollen | |
sich gut aufgehoben fühlen“, sagt sie zur taz. Tja, wenn das im deutschen | |
Eisschnelllauf so einfach wäre. | |
14 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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