# taz.de -- Kampf gegen Alkoholsucht: Der kontrollierte Trinker | |
> Ein Architekt kämpft gegen seine Sucht. Doch auch in der Abstinenz | |
> bestimmt der Alkohol sein Leben. Jetzt trinkt er kontrolliert. Kann das | |
> klappen? | |
Bild: Oft benutzt Jürgen Rot einen anderen Weg, um nicht an einem Kiosk vorbei… | |
Der Wind fegt die Kastanienblätter vom Asphalt auf, die Sonne streift müde | |
über den Park. Aus der Kneipe an der Ecke fällt ein warmes Leuchten nach | |
draußen, fällt Jürgen Rot vor die Füße. Er hält inne. Soll er reingehen? | |
Drinnen ist es warm, drinnen sitzen Menschen am Tresen, die sind ehrlich, | |
die reden nicht über wichtige Projekte. In der Kneipe reden sie darüber, | |
wie es wirklich ist, das Leben. | |
Jürgen Rot, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, | |
atmet ein. Er könnte vielleicht ein, zwei Stunden dort bleiben, ein | |
bisschen aufwärmen, den Körper und das Herz. Er atmet aus. Sozialkontakt, | |
so nennt das der Kursleiter, Alkohol erleichtert den Sozialkontakt. Es ist | |
November 2012, ein kalter Herbsttag. Berlin ist damals, auch nach zwei | |
Jahren, immer noch neu für ihn, unübersichtlich, voller Menschen und | |
trotzdem leer. Zwei, drei Freunde hat er wohl, aber die Freundschaften zu | |
pflegen kostet Zeit, vor allem kostet es Kraft. | |
Drinnen, im warmen Licht, sitzen Kneipenfreunde – und Kneipenfreunde, das | |
weiß er auch, sind keine echten Freunde. Er atmet ein. Er würde mit dem | |
Bier Freizeit auf den Deckel gestellt bekommen und ein bisschen gute Laune. | |
Im Kurs haben sie besprochen, wie sie der Versuchung widerstehen. Die | |
Versuchung wegatmen, zum Beispiel, „nüchtern atmen“, so hat das der | |
Kursleiter genannt. Einatmen, ausatmen, und die Sehnsucht schrumpft wie ein | |
Luftballon. Rot atmet aus. Einmal noch, sagt er sich, einmal noch reingehen | |
in die Kneipe. Das Nüchtern-Atmen, das klappt nicht so richtig. | |
Der Kurs, den Rot in jenem Winter gut zwei Monate lang besucht, heißt | |
„Kontrolliertes Trinken“. Zehn Wochen jeweils eine Stunde dauert die | |
Präventionsmaßnahme bei Vista in Berlin-Neukölln. Danach soll er in der | |
Lage sein, seinen Alkoholkonsum zu kennen. Und ihn im Griff haben. Er soll | |
Strategien gelernt haben, die Lust zu überwinden. Soll wissen, mit wem er | |
trinkt und mit wem nicht. Was für Getränke ohne Alkohol ihm dieses | |
Entspannungsgefühl geben. Was er in seiner Freizeit macht, wenn er nicht in | |
die Kneipe geht. Er soll gelernt haben, hin und wieder mal einen trinken zu | |
können, Balance halten, das ist das Ziel. | |
Seit jenem Winter, vor fünf Jahren, zählt Rot Alkoholeinheiten wie andere | |
Kalorien. Er schreibt in ein Büchlein, wie viel er am Tag getrunken hat. | |
Und was. Rot trinkt „kontrolliert“, wie es unter Fachleuten genannt wird. | |
Es ist ein umstrittener Ansatz: Viele Experten haben lange Zeit das | |
reduzierte Trinken als Therapie für Alkoholabhängige abgelehnt. Die | |
Abstinenz galt als einziger Weg, dauerhaft trocken zu bleiben. Die Deutsche | |
Hauptstelle für Suchtfragen bezeichnete es vor einigen Jahren als | |
fahrlässig und gefährlich, wenn einem Alkoholiker suggeriert werde, er | |
könne kontrolliert trinken: Wer süchtig ist, hat keine Kontrolle. Joachim | |
Körkel, der das „kontrollierte Trinken“ in den 90er Jahren in Deutschland | |
einführte, erhielt sogar Morddrohungen von Abstinenzlern. | |
## Kampf zwischen Wissenschaftlern, Ärzten und Therapeuten | |
Es ist ein verbissener Kampf zwischen Wissenschaftlern, Ärzten und | |
Therapeuten, der bis heute andauert. Noch gibt es kaum Zahlen, die etwas | |
über den tatsächlichen Erfolg der Therapie aussagen oder darüber, wie viele | |
kontrollierte Trinker es in Deutschland gibt. Aber mittlerweile gibt es | |
gute Erfahrungen mit dieser Methode, die Krankenkassen bezuschussen Anträge | |
auf Angebote, die Strategien des kontrollierten Trinkens vermitteln. | |
Alkohol bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch den zur Gruppe der | |
Alkohole gehörenden Äthylalkohol, der durch Vergärung von Zucker aus | |
unterschiedlichen Grundstoffen gewonnen wird und berauschende Wirkung hat. | |
Alkohol zählt zu den Suchtmitteln, deren Erwerb, Besitz und Handel legal | |
sind. (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V.) | |
Dabei ist Rot nie jemand gewesen, der die ganze Straße brauchte, um nach | |
Hause zu kommen, niemand, der von der einen Seite zur gegenüberliegenden | |
schwankt und zurück, zickzack, und mit etwas Glück in kein Auto läuft. Kein | |
schwerer Alkoholiker. Keiner, der zwei, drei Flaschen Schnaps am Tag | |
trinkt, „weglöscht“, wie er sagt. Keiner, dem die Hände zittern, wenn der | |
Pegel sinkt. Rot ist ein Long-Distance-Trinker, so nennt man ihn in | |
Fachkreisen. Er freut sich an dem Klang des Worts, wiederholt es, | |
Long-Distance, er findet, er passt, um zu umschreiben, dass er zwar gern | |
ein paar Gläser am Abend trinkt, aber mit Zeit dazwischen. Trotzdem, hatte | |
der Sozialarbeiter gesagt, er sollte das in den Griff bekommen. Das mit dem | |
Alkohol. Er sagte nicht „Problem“. | |
## Alkohol gehört dazu | |
Es ist ein schmaler Grat, auf dem Menschen wie Rot balancieren. Ab wann | |
wird Alkohol ein Problem? Das ist das Tückische an ihm: Er gehört dazu. Am | |
Geburtstag der Sekt. Das Feierabendbier. Beim Antritt im neuen Job auch ein | |
Gläschen Irgendwas. Lockert die Zunge, hebt die Stimmung. Wer schon mal ein | |
Problem mit Alkohol hatte, trinkt am besten überhaupt nichts mehr. So die | |
Überzeugung der meisten Suchtexperten. Ein Nippen könnte einen in schlechte | |
Gewohnheiten zurückfallen lassen. Ganz oder gar nicht. | |
Dass der Alkohol sein Problem sein könnte, hatte Jürgen Rot jahrelang nicht | |
auf dem Schirm. Vielmehr war das Bier sein Freund. Es taute ihm die Zunge | |
auf und das Herz, es erlaubte ihm, der sich lieber zurückzog, als lustig zu | |
sein, auch mal etwas zu sagen, wenn die anderen etwas erzählten. Es nahm | |
ihm die Beklemmung, in der Runde der Stille zu bleiben. Der Langweiler. Es | |
machte ihm das Gerede der anderen sympathischer. | |
Entsprechend den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation gilt: Ein | |
internistisch gesehen risikoarmer Alkoholkonsum bedeutet für Frauen | |
höchstens 20 g Alkohol am Tag, für Männer höchstens 30 bis 40 g (20 Gramm | |
Alkohol entsprechen 0,5 l Bier (5 %) oder 0,2 l Wein bzw. Sekt (12,5 %) | |
oder etwa drei einfachen Schnäpsen (40 %). | |
An einem Herbstnachmittag sitzt Jürgen Rot in einem Berlin-Mitte-Laden an | |
einem Holztisch und bestellt eine Tasse Kaffee, ohne Zucker, ohne Milch, | |
nur Filterkaffee, schwarz. Die Sonne scheint, Blumen stehen auf dem Tisch. | |
Eine Tasse Kaffee, das sind 35 Prozent Kohlenhydrate, 7,5 Prozent Proteine, | |
4 Prozent Mineralstoffe, 1,3 Prozent Koffein, 4 Kalorien, 0 | |
Alkoholeinheiten. Er schiebt den Aschenbecher zur Seite. Die Zigaretten hat | |
er in der Wohnung gelassen. | |
Es ist nach fünf, Rot hätte auch ein Bier bestellen können, 0,5 l. 10 Gramm | |
Kohlenhydrate, Vitamine, 20 Gramm Reinalkohol. In dieser Woche liegt er | |
sogar unter seinem Soll. Eine Vorzeigewoche. Am Tag davor hat er ein Bier | |
in seinem Trinktagebuch vermerkt, 20 Gramm. Das sind eine halbe | |
Standardeinheit Alkohol, die die Weltgesundheitsorganisation festlegt. | |
Zwei kleine Glas Bier am Tag, das wäre für die WHO für einen Mann in | |
Deutschland je Tag in Ordnung, alles was darüber liegt, problematisch. | |
Rot hätte heute also noch gut Luft nach oben, keine Ausreißer in seiner | |
Tabelle. Aber die Reporterin ist ein Kontakt ohne Alkohol. Das ist eine der | |
Strategien, die ihm die Präventionsmaßnahme „Kontrolliertes Trinken“ | |
vermittelt hat, um den Alkoholkonsum zu verändern: Bekannte, mit denen man | |
gern ein, zwei, mehr Gläser trinkt, erst mal meiden. | |
Der Kontakt mit der Reporterin ist neu, also kann er mit alkoholfreien | |
Assoziationen besetzt werden. Es braucht kein Bier aus Gewohnheit, aus | |
alter Verbundenheit oder für die Geselligkeit. Am Abend kann sich Rot einen | |
Haken machen in sein Trinktagebuch: Abstinent-Tag. Wenn er auch diese Woche | |
unter dem Limit bleibt, das er sich gesetzt hat, darf er sich belohnen am | |
Ende der Woche. So hat er es damals in dem Kurs gelernt. Es sind banale | |
Dinge. Ein Hemd kaufen. Ein Konzert besuchen. Für Rot sind sie ein Erfolg. | |
„Jeder Schwerstabhängige war mal weniger abhängig, jeder Abhängige einmal | |
Gelegenheitstrinker. Das kann man auch rückwärts sehen. Unsere Erfolgsquote | |
ist so gut wie die der abstinenzorientierten Suchthilfe. Die Hälfte der | |
Teilnehmer reduzieren ihren Alkoholkonsum um mehr als die Hälfte.“ (Andreas | |
Latzel von Vista, Berlin-Neukölln) | |
Am Nachbartisch zahlen drei Männer ihren Wein. Als sie aufstehen, setzen | |
sich zwei junge Frauen und bestellen auf Englisch zwei Aperol Spritz. Rot | |
zieht einen seiner Ordner aus dem Rucksack. Säuberlich hat er die | |
DIN-A4-Seiten abgelegt, mit denen er das kontrollierte Trinken gelernt hat, | |
Ecke auf Ecke, millimetergenau. Rot hat während des Kurses vor fünf Jahren | |
mit dem Buch angefangen. Bis heute überwacht er seinen Konsum. Es gibt ihm | |
die Sicherheit, nicht in alte Gewohnheiten zurückzufallen. Er schlägt eine | |
Seite im Ordner auf. Mit Bleistift hat er das notiert, was das Bier zu | |
seinem Freund macht: Leichteres Ausfaden aus dem Tag. Auszeiten, die das | |
Leben erträglicher machen. Reizschutz. Urlaub von mir selbst. | |
Schwer zu sagen, wann der Freund zum Problem geworden ist. Rot schweigt | |
eine Weile und nippt am Kaffee. Nicht nur beim Bier hat er sich ein | |
langsames Trinken angewöhnt. Es bleibt bei dieser einen Tasse an diesem | |
Nachmittag, während er die vergangenen zwei Jahrzehnte in Gedanken | |
zurückspult. | |
## Sich im Rausch verlieren | |
Da war sein Architekturstudium. Rot lebt in einer norddeutschen Stadt, die | |
er nicht in der Öffentlichkeit nennen will. Er will keine Probleme auf der | |
Arbeit, keine Blicke. Damals, in Norddeutschland, kurz vor Projektabgabe, | |
ein paar Tage bevor Rot den letzten Strich gemacht hat, kommt ein | |
Kommilitone vorbei. Der ist immer schneller als er. Der ist lustig, ein | |
origineller Typ, der reißt einen mit mit seiner Begeisterung. Rot geht mit | |
raus, feiern. Man hat was fast geschafft, dann lässt man es krachen. Rot | |
ist Ende 20. Er schläft einen Tag durch, und damit ist die Sache vorbei. | |
Das wiederholt sich immer mal wieder. Bis auf ein einziges Mal gelingen Rot | |
seine Abgaben trotzdem pünktlich. | |
Nur einmal, das muss noch während des Studiums gewesen sein, ganz genau | |
kann er es heute nicht mehr sagen, flackert in ihm das Gefühl auf, wie es | |
wäre, sich im Alkohol zu verlieren. Das war nach einem Auftritt mit der | |
Band. Rot spielt Saxofon, zehn Leute, ein paar Profis, ein paar Amateure. | |
Sie covern Songs, Rock, Pop, Soul. In der Band ist ordentlich Schwung drin, | |
kennt man ja, den Witz: ein Musiker geht an einer Kneipe vorbei. Jürgen Rot | |
lacht, ein leises feines Lachen. In dieser Zeit treten sie einmal an zwei | |
Abenden hintereinander auf. Sie proben am Samstagnachmittag, die anderen | |
trinken zum Aufwärmen, Rot trinkt gegen das Lampenfieber. Es ist heiß, das | |
Publikum johlt und feiert, der Adrenalinspiegel steigt, und nach dem | |
Adrenalin kommt die Euphorie, die anhält, als sie die Bühne verlassen. Auf | |
der Bühne ließen sie sich feiern, hinter der Bühne feiern sie sich. | |
Intensiv, sagt er. | |
Jürgen Rot trinkt Bier, nichts weiter, nichts Hartes, vielleicht ein, zwei | |
Tequila, aber der Rausch hält bis zum nächsten Auftritt an und danach noch. | |
Ein halliger Tunnel. Es ist anders als die Male davor, das ist Neuland, | |
denkt er, als der Rausch abebbt, als wieder Licht im Tunnel auftaucht. So | |
muss es sein, wenn man die Bodenhaftung verliert, sagt Rot, wenn man auf | |
Droge ist. Das wiederholt sich nicht. Denkt er damals. | |
Um den in einem halben Liter Bier enthaltenen Alkohol vollständig | |
abzubauen, braucht ein 80-kg-Mann circa 2 Stunden, eine 55-kg-Frau circa | |
3,5 Stunden. Der Abbau ist nicht von der Alkoholkonzentration abhängig, | |
sondern liegt konstant bei etwa 0,15 Promille pro Stunde, wobei | |
individuelle Abweichungen bis zu 30 % möglich sind. | |
Ein Long-Distance-Trinker mit einer Trinkgeschwindigkeit von einem kleinen | |
Glas Bier pro Stunde steigert seinen Pegel langsam, bei 1,2 Promille bleibt | |
der Pegel stabil. | |
Wenn Jürgen Rot erzählt, lächelt er viel, aber das Gespräch wühlt ihn auf, | |
das merkt man, sein Innerstes vibriert. Er ist Anfang 50, ein Mann mit | |
einem gepflegten Bart, sorgfältig gekleidet. Auch bei seiner Kleidung ist | |
ihm Kontrolle wichtig. Er findet es wichtig, offen mit dem Thema Alkohol | |
umzugehen. Er hat viele Menschen getroffen, die mehr trinken, als ihnen | |
guttäte, aber die sich schämen, es einzugestehen. Seine Geschichte könnte | |
stellvertretend für viele Lebensgeschichten stehen, sagte er, Leben, in | |
denen nicht alles glatt läuft und alles glänzt und die trotzdem aber echt | |
sind. | |
Er legt den Kopf zur Seite, zieht den Reißverschluss seiner Strickjacke | |
etwas höher. Alkohol, sagt er, das müsse man sich auch eingestehen, hat ja | |
auch ein paar gute Seiten, um die es schade ist, wenn man es übertreibt. | |
Das leichtere Ausfaden aus dem Tag, die Gelassenheit, die sich schon nach | |
den ersten Schlucken Bier ausdehnt. Aber es sei auch schade um sie, wenn | |
man ganz auf den Alkohol verzichtet. | |
Es ist wie mit der Henne und dem Ei, wer kann schon mit Sicherheit sagen, | |
was zuerst da war, das Problem oder der Alkohol. Wann ist aus dem Bier, | |
seinem Freund, ein Problem geworden? Wann aus dem Vergnügen Gewohnheit, aus | |
Gewohnheit Missbrauch, aus dem Missbrauch die Sucht? | |
Wann begann das, was Rot gern mit dem Untergang auf einem Dampfer | |
vergleicht? Zuerst gleitet der Dampfer auf sein Ziel zu. Dann rumpelt es. | |
Wasser läuft ein, das Schiff neigt sich zur Seite. Er steigt ins | |
Rettungsboot. Das Rettungsboot leckt, er legt die Schwimmweste an, treibt | |
auf dem Wasser. Die Schwimmweste saugt sich voll. Eine Weile noch rudert er | |
mit den Armen, um an der Oberfläche zu bleiben. Dann taucht er ab. | |
## Keine halben Sachen | |
Der Dampfer muss schon Schlagseite bekommen haben, als seine Freundin ihn | |
bittet auszuziehen. Sie hat eine achtjährige Tochter und findet, es schade | |
ihrer Beziehung zum Kind, wenn im Haushalt ein Mann lebe, der nicht der | |
Vater sei. Jürgen Rot kann es heute, im Rückblick, sieben Jahre nach der | |
Trennung, immer noch nicht ganz nachvollziehen, was damals in ihr | |
vorgegangen sein mag. Rot jedenfalls zieht aus. Sie will, dass sie ein Paar | |
bleiben, aber er mag keine halben Sachen. Im Leben geht es vorwärts, sagt | |
er, und wieder in getrennten Wohnungen zu leben ist ein Schritt zurück. Er | |
trennt sich von ihr. | |
Alkohol kann eine psychische und körperliche Abhängigkeit erzeugen. Sein | |
besonderes Gefährdungspotenzial besteht darin, dass Alkohol praktisch | |
unbeschränkt verfügbar ist. Infolgedessen ist sein Konsum extrem weit | |
verbreitet und erfolgt in großen Bevölkerungsgruppen regelmäßig. In | |
erheblichem Maße ist ein „schädlicher Gebrauch“ bzw. „Missbrauch“ –… | |
ein die Gesundheit schädigendes Konsumverhalten – zu beobachten. (Deutsche | |
Hauptstelle für Suchtfragen e. V.) | |
Die Frauen am Nebentisch bestellen die zweite Runde Aperol, die eine | |
erzählt von einer der vergangenen Nächte, irgendeine Liebesgeschichte, | |
offenbar nicht zufriedenstellend. Jürgen Rot sitzt vor seinem Kaffee und | |
schweigt. Er versucht, die Ereignisse in seiner Erinnerung in eine | |
Reihenfolge zu bringen. Schwer zu sagen, was vor der Trennung kam, was | |
danach. War das schon die Zeit, als er nachts manchmal in der Stadt blieb | |
und im Auto übernachtete? | |
Genau weiß er nur, dass er, wenn er getrunken hat, auch nur wenig, nicht | |
fuhr, er ließ das Auto stehen. Um Geld zu sparen, schlief er im Auto. | |
Damals arbeitete er selbstständig als Architekt. Es läuft gut, wenn man die | |
Aufträge zählt, die er bekommt, aber weniger gut, wenn es ums Geld geht. | |
Das hat er nicht so im Griff, dafür ist er nicht der Typ. | |
Vielleicht ist Jürgen Rots Problem, dass er schon immer ein nachdenklicher | |
Mensch war. Der das, was in den anderen vorgehen mag, schon mitdenkt, bevor | |
sie es überhaupt aussprechen. Der Alkohol machte ihn weniger empfänglich | |
dafür, was in den anderen vorgehen mochte, und erleichterte damit | |
paradoxerweise auch die Kommunikation. | |
In diesen Monaten häufen sich die Missverständnisse. Heute lässt sich nicht | |
mehr nachprüfen, was genau schiefgeht damals, wo Fehler gemacht werden und | |
auf welcher Seite und an dessen Ende Jürgen Rots Insolvenz steht: Er | |
schreibt einen Bauantrag, aber der Bauherr zieht zurück. Er geht in | |
Vorleistung, aber ein Bauherr zahlt nicht. Einem anderen schreibt er ein | |
Gutachten über die Energieeffizienz seines Hauses. Der akzeptiert das | |
Gutachten nicht. Jürgen Rot schreibt ihm einen freundlichen Brief. Dann | |
noch einen. Dann nimmt er seine Kraft zusammen und macht einen Termin mit | |
ihm, nach Feierabend. Ein Besuch zu Hause, das wird helfen. Ein Gespräch. | |
Der Besuch beim Kunden hilft nicht. Fünf Stunden sitzt Jürgen Rot an jenem | |
Abend dem Mann gegenüber, der will, das Rot das Energiegutachten ändert, | |
damit sein Haus besser dasteht, als es ist. Jürgen Rot erklärt, hört zu. Am | |
Ende hört er nur noch zu. Er spürt, wie er innerlich zusammenfällt. Er sagt | |
dem Kunden etwas zu, was er nicht einhalten kann. Ein paar Tage später | |
meldet er den Betrugsversuch beim Amt, aber da ist es für ihn selbst zu | |
spät. | |
Positive Auswirkungen des Alkoholkonsums. | |
Man verändert sein Verhalten im Regelfall nur dann, wenn man sich von der | |
Veränderung mehr Vorteile als Nachteile verspricht. Es gilt deshalb, genau | |
zu prüfen, welches die guten und die schlechten Seiten des Alkoholtrinkens | |
sind. Diese liegen nicht immer auf der Hand. | |
(Aus dem Kurs „Kontrolliertes Trinken“ von Vista) | |
Dann wird es verschwommen auf seinem Erinnerungsband, bis auf wenige | |
Stellen: Der Moment, als er nach dem Auftritt mit den Bandkollegen | |
weiterzog und das Geld noch für das nächste Bier reichte. Die Stunden an | |
dem Ort, an dem die Menschen am ehrlichsten waren. Die Kneipe in seinem | |
Viertel, die noch offen war, als die anderen schließen, hieß „Endstation“. | |
Es ist Frühjahr 2010, als ein Freund ihn in die Psychiatrie begleitet, | |
Akutaufnahme. Jürgen Rot erzählt in der Notaufnahme von einem | |
Suizidversuch. Der Freund sitzt neben ihm, bestätigt dem Arzt das, was Rot | |
erzählt. Die Plätze in der Psychiatrie sind rar. Wenn man in eine | |
Geschlossene will, dann muss auch was Ernstes vorgefallen sein. Es war | |
nicht das erste Mal, dass er hier saß. Damals hatten sie ihn schon einmal | |
wieder weggeschickt. Jetzt hat Rot keine Kraft mehr. Winterstimmung. | |
Ab einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille ist es in Deutschland | |
gesetzlich verboten, ein Kraftfahrzeug zu führen. Eine erneute Überprüfung | |
der Fahreignung ist ab einer Konzentration von 1,6 Promille vorgeschrieben. | |
Bei 4 bis 5 Promille stirbt im Normalfall ein erwachsener Mensch durch | |
Atemlähmung und Kreislaufversagen. | |
Es ist Abend geworden, draußen dämmert es. Die Aperol-Gläser der Frauen am | |
Nebentisch sind leer, das Eis geschmolzen, in Rots Tasse trocknet der | |
Kaffee auf dem Boden. Er legt sein Trinktagebuch auf den Tisch. Weißes, | |
glattes Papier, eng beschrieben. Er notiert in Tabellen SOLL-Wert und | |
IST-Werte. Mit dem SOLL legt er seine Messlatte fest. In dieser Woche 18 | |
Alkoholeinheiten, das sind 9 Liter Bier, höchstens 5 Alkoholeinheiten pro | |
Tag, zwei Abstinenztage. Das ist viel, gemessen an dem, was die WHO | |
festsetzt, aber nach dem System von Joachim Körkel ist das Ziel, das | |
selbstgesteckte Level zu unterschreiten, um Erfolg zu haben. Andere führen | |
monatlich Buch, Jürgen Rot bleibt bei der Woche, da hat er einen besseren | |
Überblick. | |
Vor zwei Wochen hat er zu einem Flammkuchen 0,4 Liter Sekt getrunken. Er | |
kauft sich lieber die Piccolos, obwohl sie teurer sind als eine Flasche. | |
Aber die große Flasche steht dann im Kühlschrank. Sie wartet, halb leer, | |
lockt. Die Piccolos lassen sich besser kontrollieren. In sein Trinktagebuch | |
notiert er: allein zu Hause. Es macht einen Unterschied, ob er alleine | |
trinkt oder in Gesellschaft. Aber dieser Abend war ein Genussabend. Dann | |
geht das schon mal. | |
Ich verändere die Art und Weise, wie ich Alkohol trinke, und zwar | |
folgendermaßen (Zutreffendes bitte ankreuzen): | |
Ich verdünne die alkoholischen Getränke (um eine niedrigere | |
Alkoholkonzentration zu erreichen). | |
Ich trinke langsam, nippe nur. | |
Ich trinke keinen Alkohol, um meinen Durst zu löschen. | |
Ich gestatte mir pro Stunde nur ein alkoholisches Getränk. | |
Ich entferne Alkohol aus dem Haus oder bringe ihn außer Sichtweite. | |
(Aus dem Kurs „Kontrolliertes Trinken“ von Vista) | |
Damals in der Psychiatrie war der Alkohol kein großes Thema. Die Ärzte | |
sprachen von Depressionen, von Burnout. Erst später, als ihn ein | |
Sozialpädagoge in den Alltag begleitet, stellt der Pädagoge Fragen. Er | |
beobachtet. Er schlägt Jürgen Rot vor, in eine Suchtklinik zu gehen. Rot | |
folgt dem Rat. Er will sein Leben aufräumen, er will neu starten, und wenn | |
er etwas tut, dann tut er es ganz. In der Klinik liest er Bücher über | |
Alkohol. Er besucht alle Therapieangeboten, einen Psychologen, nimmt | |
Angebote einer Psycholozialbetreuung war, besucht eine Gruppe der anonymen | |
Alkoholiker. Er wird zum Abstinenzler, „hauptberuflich“ so sagt er es. | |
Einer, der sich vor allem damit beschäftigt, keinen Alkohol zu trinken. | |
Generell nützliche Strategien und Strategien für soziale | |
Gefährdungssituationen: | |
Ich lege mir einen Vorrat nichtalkoholischer Lieblingsgetränke zu. | |
Ich meide Kontakt zu Personen, die mich in Versuchung bringen, mehr Alkohol | |
zu trinken, als ich möchte. | |
Ich nutze meine Zeit für etwas anderes, als Alkohol zu trinken. | |
(Aus dem Kurs „Kontrolliertes Trinken“ von Vista) | |
Seit sechs Jahren wohnt Jürgen Rot in Berlin-Mitte, ein Zimmer, kleine | |
Pantryküche, zwei Herdplatten. Der Anfang in der neuen Stadt ist schwer. Er | |
stößt auf einen Gastvortrag von Joachim Körkel. Körkel spricht über | |
Strategien, den Alkoholkonsum unter Kontrolle zu halten, ohne abstinent zu | |
leben. Er spricht über „kontrolliertes Trinken“, eine Methode, die aus dem | |
Umgang mit harten Drogen kommt. Wer nicht von hundert auf null runterkommt, | |
versucht es schrittweise. Die Abhängigkeitsspirale, nur rückwärts gedacht. | |
Rot hört davon das erste Mal. Er ist fasziniert. | |
Am Abend nach dem Vortrag von Joachim Körkel setzt er sich in den Kreis mit | |
den anderen Abstinenzlern, seit gut einem Jahr ist jeden Dienstag das Thema | |
der Alkohol, den keiner trinkt. An jenem Abend fürchtet ein Mann sich vor | |
seinem anstehenden Urlaub, weil er bisher Urlaub mit Trinken verbunden hat. | |
Eine Punkerin, viel Metall am Körper, antwortet, wie sie letztens ihren | |
Suchtdruck ausgetrickst hat. Der Moderator der Gruppe beichtet, dass er in | |
einem Lokal noch immer die Bierpreise studiert, nach Jahren Abstinenz. Als | |
Rot an der Reihe ist, erzählt er von Körkels Vortrag, vom anderen Weg, mit | |
Alkohol umzugehen, von einem vielleicht leichteren, | |
gesellschaftstauglicheren. | |
Der Mann mit der Angst vor dem Urlaub fällt ihm ins Wort. „Gibt’s nicht!“ | |
Ein anderer ruft: „Das geht nicht.“ | |
Am Ende der Stunde hält der Moderator der Runde Jürgen Rot zurück. Noch | |
bevor er sich für den Kurs „Kontrolliertes Trinken“ in Neukölln angemeldet | |
hat, bittet ihn der Moderator, nicht wiederzukommen. Wenn man abstinent | |
lebt, dann lebt man abstinent. Grautöne gibt es nicht. | |
„Kontrolliert trinken, das ist Ketzertum in der Welt der Abstinenzler“, | |
sagt er. Von da an ist Rot ein Ketzer. | |
## Das Maximalziel | |
Das erste Bier nach Monaten der Abstinenz trinkt er zusammen mit einem | |
Freund, es fühlt sich an, als würde er etwas Verbotenes tun. Aber es fühlt | |
sich auch nach Freiheit an. | |
Das Maximalziel, das sagt er heute, die Abstinenz, hat er nicht erreicht, | |
aber die Mischkalkulation, das kontrollierte Trinken, hat sich für ihn als | |
tragfähig bewiesen. Jeden Abend setzt Rot seine Häkchen in seinem | |
Trinktagebuch, jede Woche überprüft er die Anzahl der Abstinenztage, jeden | |
Monat zeichnet er ein Diagramm, damit er ablesen kann, ob sich sein Konsum | |
verändert. Nach der Arbeit geht er weder in die Kneipe noch in eine | |
Selbsthilfegruppe. Jetzt hat er Zeit für etwas anderes, er malt wieder, | |
jeden Dienstagnachmittag von zwei bis halb fünf. Derzeit entsteht ein | |
Gemälde, das sich von den Linien und Rastern löst, die ihn monatelang nicht | |
losgelassen haben. Heute zieht er ein Rollmesser durch Acrylfarbe und fährt | |
mit einem Schwung über das Papier. Nicht er kontrolliert die Linie, die | |
Linie führt ihn. | |
Nur die Kneipe an der Ecke, die ging Rot lange nicht aus dem Kopf. Sie | |
hätte ein Ort werden können, in dem er die Zeit anhalten könnte, wie | |
damals, an der Nordsee, die „Endstation“. Sie lag nicht zwingend auf dem | |
Weg vom Kurs nach Hause. Aber er fand immer einen Grund, doch an ihr | |
vorbeizugehen. Ist es nicht schöner, durch den Park zu spazieren als an der | |
Straße entlang? Im Park setzte er sich auf eine Bank, betrachtete seine | |
Schuhspitzen. Wartete, spürte nach, wie groß der Sog war, der Sehnsucht | |
nachzugeben. Er atmete ein. Nüchtern atmen, das hat schon oft nicht | |
funktioniert. | |
Er atmete ein. Er könnte ja bis zur nächsten Straßenecke gehen und dann | |
immer noch umdrehen, wenn er es wollte. | |
Er stand auf, ging am Leuchten vorbei, das aus den Fenstern fiel, erreichte | |
die nächste Ecke. Atmete aus. Wenn Rot zur Post geht, zum Supermarkt, ins | |
Büro, hat er schon immer einen anderen Weg zurück genommen, das ist ein | |
Prinzip. Umdrehen, das kommt nicht in Frage, niemals. | |
9 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Carolin Pirich | |
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