# taz.de -- Debatte Sexualisierte Gewalt: Mehr als Hashtag-Justiz | |
> #MeToo ist überfällig und wichtig, aber wir müssen jetzt dringend darüber | |
> reden, was diese öffentliche Debatte mit unserem Zusammenleben macht. | |
Bild: Mit einem Skandal in Hollywood hat es angefangen – jetzt diskutiert auc… | |
Zunächst einmal: Zwei Journalistinnen haben für die New York Times „Die | |
Weinstein-Story“ bis in die Neunziger zurückverfolgt. Das Blatt rollte die | |
Affäre auf und ließ im Anschluss daran betroffene Frauen zu Wort kommen. | |
Mächtige, berühmte Frauen. Dank #MeToo konnten sich im Anschluss über die | |
sozialen Medien Frauen selbst das Wort erteilen. | |
Selten denkt man daran, dass dies über Plattformen geschieht, über die sich | |
junge weiße Männer wie Mark Zuckerberg bereichern und Macht gewinnen. So | |
wie die New York Times als medialer Inbegriff der weißen männlichen | |
Dominanz beschrieben werden könnte. Diese weißen älteren Männer haben das | |
jetzt, 2017, zugelassen. Weshalb wurde die Story nicht vorher gebracht? Und | |
warum musste ausgerechnet George Clooney die Frage stellen: Warum dauerte | |
das alles so lang? Wäre es nicht Aufgabe der Presse, solche Geschichten | |
aufzudecken? | |
Wann hat die Presse die Aufgabe, Vergewaltigungen und sexuelle Nötigung zu | |
einer Sache des öffentlichen Interesses zu erklären, und wann nicht? Ist | |
die Belästigung von Leyla Soundso in einem Dorf in Mitteldeutschland, die | |
einem gewalttätigen Chef ausgesetzt ist, für die Presse von derselben | |
Bedeutung? Und selbst wenn sich die Lokalpresse hinter Leyla Soundso | |
stellte, käme ihr in ihrem Ort dieselbe Solidarität entgegen, wie sie die | |
Welt nun den Reichen und Schönen entgegenbringt? | |
Müsste die Presse nicht Vorverurteilungen ausschließen? Und was geschieht | |
mit dem Missbrauch solcher Solidarität? Was tun mit unwahren | |
Beschuldigungen? Reicht ab jetzt ein Hashtag, um beispielsweise einem | |
unliebsamen Professor unlautere Absichten zu unterstellen? Wird er, wenn | |
unschuldig, diesen Vorwurf je wieder los? | |
Frauen müssen darin bestärkt werden, Missbrauch zu benennen und anzuklagen. | |
Gleichzeitig müssen wir alle darüber nachdenken, was diese Form der | |
Hashtagjustiz mit unserem Zusammenleben macht. Warum haben sich die | |
prominenten Frauen, die nun allesamt Harvey Weinsteins Praxis entlarven, | |
nicht mit einer Art Sammelklage an die US-Justiz gewandt? Es wäre doch ein | |
durchaus ehrenwertes Ziel, über diesen öffentlich diskutierten Extremfall | |
Wege zu finden, wie sich auch für ganz normale Frauen die Chancen erhöhen | |
ließen, ihr recht zu bekommen? | |
Bei all den Beschreibungen der Praxis Weinsteins konnte ich mich der Frage | |
nicht erwehren, weshalb diese Alphafrauen nicht gleich „Stopp!“ gesagt | |
haben. Ich beschuldige sie nicht. Ich möchte nur, dass diese Möglichkeit | |
zumindest vorstellbar ist, dass ein Frauenbild vermittelt wird, in dem die | |
Frau so einem Straftäter, ganz gleich wie mächtig, eine in die Fresse gibt. | |
Klar, wir können nicht alle Atomic Blonde sein. Und manchmal geht die | |
Gewalt zu weit, kommt zu unerwartet. Da ist dann dieser sprachlos machende | |
Schock in einem Moment des Übergriffs. | |
## Die eigene Geschichte erzählen ist Selbstermächtigung | |
Doch in vielen der Geschichten, die nun zu lesen waren, hatten die Frauen | |
noch die Wahl. Eine Wahl zu haben bedeutet auch, sich gegen bestimmte Dinge | |
zu entscheiden. Wenn Weinstein an der Macht ist und ich dieser Macht keinen | |
Einfluss über mich gestatten möchte, dann muss ich zunächst mit den | |
möglichen Konsequenzen leben. | |
Die Schauspielerin Lupita Nyong’o, bekannt durch „12 Years a Slave“, hat | |
sich gegen Weinstein gewehrt und es später bis zum Oscar geschafft – ohne | |
je wieder mit ihm zusammenzuarbeiten. Es geht. Wir sehen zu viele Bilder | |
von wehrlosen Frauen. Es gibt viele Archetypen des Weiblichen. Vielleicht | |
haben Frauen sich zu oft als Opfer dargestellt gesehen, um in solchen | |
Momenten anderes Verhalten abrufen zu können. | |
#MeToo ist deswegen so stark, weil es aus der Tradition des „I confess …“ | |
kommt. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum wird in den USA die | |
Geschichte eines Menschen als Wahrheit an sich gewürdigt, die | |
Selbstermächtigung und Kraft, wieder die eigene Geschichte zu erzählen, | |
ganz gleich, was einen sprachlos gemacht hat. Obwohl Deutschland Luthers | |
fünfhundert Jahre altes „Hier stehe ich und kann nicht anders“ feiert, hä… | |
man das heute hierzulande kaum aus. | |
Die meisten reagieren mit: „Warum stehst du hier? Du kannst auch anders!“ | |
Vor allem kannst du den Mund halten, wenn du uns mit unangenehmen | |
Wahrheiten konfrontierst. Daran leidet die Übersetzung des Phänomens nach | |
Deutschland, wo nun Männer mit #HeToo kommen. Oder Männer gefragt werden, | |
wann sie übergriffig waren. Die Stärke der #MeToo-Bewegung ist, dass Frauen | |
aufstehen und sagen: „Ich rede.“ | |
## Mangelnde Solidarität unter Frauen | |
Diese Debatte, die als Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung der Frau | |
gedacht ist, sollte keine alten Gräben aufreißen. Im Gegenteil. Viele | |
Männer heutzutage wissen, dass sie auch Töchter haben. Viele Männer sind so | |
weit, dass sie eine gleichberechtigte Partnerin lieben und nicht eine treue | |
Ehefrau haben und Geliebte, die man absägen kann, wenn sie zu viel fordern. | |
Viele Männer arbeiten inzwischen mit Frauen auf Augenhöhe und sind | |
wertvolle Kollegen. Viele Männer sind großartige Chefs und bieten | |
emanzipierten Frauen Stellen. Oder sie arbeiten für eine Frau. Viele Männer | |
sind selbst Opfer sexuellen Missbrauchs. All diese Männer müssen und können | |
wir als Partner sehen. | |
Die meisten Fälle, die unter #MeToo bekannt wurden, fanden in beruflichen | |
Kontexten statt. Kontexte also, in denen die Macht oft bei Männern liegt | |
und unter Frauen wenig Solidarität herrscht. Mangelnde Solidarität unter | |
Frauen, die Erfolg haben, ist ein Grund, weshalb Männer an der Macht es oft | |
so leicht haben, den Kuchen unter sich aufzuteilen. Auch dahingehend ist | |
#MeToo vielleicht der Anfang von etwas Besserem. Das wird es jedoch nur | |
sein, wenn wir differenzieren lernen. | |
Es gibt eine Sphäre zwischen Mann und Frau, zwischen Menschen, gleich | |
welcher sexuellen Orientierung, die geheimnisvoll ist, in der beide, frei | |
nach Büchner, „Dünnhäuter“ sind. Diese Debatte über sexuelle | |
Selbstbestimmung sollte jetzt nicht wie eine Walze über all jene Momente | |
rollen, in denen auch Erotik oder sexuelle Anziehung ihren Platz haben. Sie | |
verlangt von Männern mehr Feingefühl und Selbstbewusstheit. Von uns Frauen | |
verlangt sie das auch. | |
9 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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