| # taz.de -- Kino in Russland: Kulturkampf um Matilda | |
| > Der Film über eine Liebesaffäre des letzten Zaren Nikolaj II. hatte in | |
| > St. Petersburg Premiere. Da nützten auch Proteste der Orthodoxen nichts. | |
| Bild: „Der Film Matilda ist eine antirussische Provokation“: Protest vor de… | |
| Moskau taz | Ein paar orthodoxe Aktivisten hatten vor dem Mariinsky Theater | |
| in St. Petersburg Stellung bezogen. Die einen waren im Gebet versunken, die | |
| anderen hielten Porträts des ermordeten Zaren Nikolai II. in den Händen. | |
| Eine seltene Ruhe herrschte vor der Premiere des Matilda-Films des | |
| russischen Regisseurs Alexej Utschitjel. | |
| Der üppige Kostümfilm sorgte in Russland schon vor der Premiere für | |
| Aufregung. Seit Monaten rieben sich die Geister an „Matilda“, ohne den | |
| pompösen Kostümstreifen in voller Länge gesehen zu haben. | |
| Der Plot des Films ist die Liebesbeziehung zwischen dem letzten russischen | |
| Zaren Nikolai II. und der polnischen Ballerina Matilda Kschenssinskaja. | |
| Keine standesgemäße Beziehung, selbstverständlich. Nikolai trennt sich | |
| schließlich von der verführerischen Geliebten und kehrt zu seiner deutschen | |
| Gemahlin zurück, der Fürstin Alexandra Fjodorowna aus dem Hause | |
| Hessen-Darmstadt. | |
| Ein harmloser Streifen über Liebe, Tugend und Pflichtverständnis einer vor | |
| hundert Jahren untergegangenen Epoche. Der Regisseur verzichtet auf | |
| freizügige Liebesszenen. Alles ist sittsam, hochanständig, beinah ein | |
| Gegenentwurf zu den in Russland nicht überstrengen Sitten. Seit Monaten | |
| symbolisierte der Protest der orthodoxen Gläubigen einen Kulturkampf, der | |
| mit der Zeit immer militanter wurde. | |
| ## Verehrerin des Zaren | |
| Den Auftakt machte die Duma-Abgeordnete der Regierungspartei, Natalja | |
| Poklonskaja. Die zierliche Abgeordnete war schon vorher als Verehrerin | |
| Nikolais II. aufgefallen. Sie reichte 43 Eingaben bei den Behörden ein, um | |
| die Freigabe des Films zu verhindern. | |
| Für die 37-Jährige war es ein Frevel, dass der heiliggesprochene Nikolai | |
| eines außerehelichen Abenteuers auch nur verdächtigt werden konnte. Die | |
| Kanonisierung des Zaren nahm die russisch orthodoxe Kirche bereits 2000 | |
| vor. Anlass war die Ermordung durch die Bolschewiki 1918, die aus ihm einen | |
| Märtyrer machte. | |
| Natalja Poklonskaja war vor der widerrechtlichen Annexion der Krim durch | |
| Russland Generalstaatsanwältin der Halbinsel und stellte sich für die | |
| scheinbare Legalisierung des Anschlusses umgehend zur Verfügung. Auch | |
| Regisseur Utschitel unterzeichnete damals einen offenen Brief | |
| Kulturschaffender, die den Anschluss guthießen. Weiter reicht die | |
| Gemeinsamkeit mit der Deputierten nicht. | |
| Noch nie hätte er eine solche Angriffslust gesehen, meinte Utschitschel | |
| nach einer der Attacken. Eigentlich sei es keine Kinovorführung gewesen, | |
| eher die Präsentation eines „gesellschaftliches Phänomens“, sagte er nach | |
| der Premiere. | |
| ## Hass schüren | |
| Das Phänomen besteht aus dem Schüren von Hass. Auch eine militante | |
| Organisation orthodoxer Gotteskrieger klinkte sich im Sommer bereits ein. | |
| „Christlicher Staat – Heilige Rus“ nennt sich der Kreis, der bewusst auf | |
| den Namen des „Islamischen Staates“ anspielt. | |
| In das Studio des Regisseurs in Petersburg flogen Brandsätze. Ein | |
| orthodoxer Krieger lenkte einen mit Sprengstoff beladenen Wagen in ein | |
| Jekaterinburger Kino. Vor der Kanzlei des Moskauer Anwalts gingen Autos in | |
| Flammen auf. Die Sicherheitsbehörden reagierten nicht, auch die Kirche | |
| stellte sich taub. Der Klerus verurteilt Gewalt, verteidigt dennoch fromme | |
| Schläger. | |
| Kulturminister Wladimir Medinskij, ein antiwestlicher Kulturkämpfer, nahm | |
| den Film im September erstmals gegen die Deputierte in Schutz. Seither ist | |
| es etwas ruhiger geworden. Zwei Kinoketten nahmen inzwischen auch die | |
| Entscheidung zurück, den Film aus Sicherheitserwägungen nicht zu zeigen. | |
| Das zeigte sich auch am Premiere-Abend. Mehr als tausend geladene Gäste | |
| wagten sich ins Mariinsky Theater in Abendgarderobe, die im Ernstfall ein | |
| Handicap gewesen wäre. Es sah nicht so aus, als würden die Celebrities | |
| Gotteskrieger erwarten. Nikolai-Darsteller Lars Eidinger hatte dennoch die | |
| Teilnahme abgesagt, er fürchtete Übergriffe. | |
| ## Provokation für Putinianer | |
| Hass und Gewalt verselbständigen sich. Der Kreml machte sie nicht zur | |
| offiziellen Politik, duldete sie aber. Würde Präsident Wladimir Putin die | |
| Landsleute jetzt zur Vernunft aufrufen, setzte er sich dem Verdacht aus, | |
| einen liberaleren Kurswechsel einleiten zu wollen. Kurz vor den | |
| Präsidentschaftswahlen wäre das selbst für eingefleischte Putinianer eine | |
| Provokation. | |
| Beobachter vermuten hinter der Auseinandersetzung um den Film zwei | |
| Kreml-Parteien. Auf der einen Seite stehen Sicherheitsapparate und Klerus, | |
| zu dem auch Putins Beichtvater Bischof Tichon Schewkunow gehört. Sie | |
| propagiert Autoritarismus pur. | |
| Dem stehen Parteigänger des Präsidialamtschefs Sergej Kirijenko gegenüber. | |
| Sie könnten einen „aufgeklärten Autoritarismus“ befürworten, um die | |
| überfällige Modernisierung doch noch in Angriff zu nehmen. Es geht um die | |
| Ausrichtung des Landes, nicht um die bildhübsche Matilda. | |
| 24 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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