| # taz.de -- Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren: Zeit des Aufbruchs | |
| > Hamburgs Beitrag zum deutschen Kulturerbe, zur Welt gekommen am 9. | |
| > November 1967. Doch wie kam es dazu? Und wo ist die Energie von damals | |
| > hin? | |
| Bild: Einziehende Professoren in ihren Talaren: „Muff von tausend Jahren“. | |
| Hamburg taz | Vor 50 Jahren lag Hamburg keineswegs unter einer Decke aus | |
| Mehltau. Hier hatten wenige Jahre zuvor die Beatles auf St. Pauli | |
| debütiert, rund um das Millerntor war das Rotlichtviertel, in dem niemand | |
| aus den besseren Kreisen lebte. Hip war die Reeperbahn nicht, obwohl dort | |
| das Dorado der Hippies war, die gab es nämlich schon, sichtbar und oft zum | |
| Staunen des Publikums: Männer mit Blumen im Haar und mit Schmuck um den | |
| Hals. | |
| Am Wochenende vor jener Aktion, die Hamburg wenigstens landesweit berühmt | |
| machen sollte, hatte der HSV bei Eintracht Frankfurt 1:1 gespielt, Uwe | |
| Seeler war nicht in besonderer Torlaune, aber er servierte Abstauber Charly | |
| Dörfel den Ball zur kurzzeitigen Führung. | |
| Die Stadt lag noch im Nachkrieg, Trümmerberge waren längst beseitigt, aber | |
| die Baulücken, die die Bomben gerissen hatten, waren noch zu sehen. Es gab | |
| noch keinen Fernsehturm, der Schlachthof am Karolinenviertel war noch | |
| wirklich einer, und das Schanzenviertel war noch das | |
| proletarisch-kleinbürgerliche Wohnviertel, als dass es einst mal geplant | |
| wurde. Das Congress Centrum gab es auch noch nicht, dafür aber noch | |
| dampfgetriebene Loks, die den Bahnhof Dammtor passierten. Im Kino liefen | |
| Streifen wie „Helga“, leichter und gesetzlich zulässiger Erotikstoff, | |
| ebenso „Belle de jour“, Buñuels Klassiker mit Cathérine Deneuve. | |
| Die Moderne war in Hamburg längst angekommen: Nur die Universität sollte | |
| noch wie eine ständische Feudalgesellschaft funktionieren. Professoren | |
| waren buchstäblich allmächtige, sie entschieden allein, wen sie zur Prüfung | |
| zuließen und wen sie aussiebten. Die Bildungsreform, die in der | |
| Bundesrepublik seit den frühen Sechzigerjahren heftig debattiert wurde, | |
| erreichte die Universität: An der war schlecht studieren, es fehlte an | |
| Mitteln, es mangelte an so gut wie allem. | |
| Die Krönung aber waren die Professoren mit der Magnifizenz, dem Rektor an | |
| der Spitze, die sich wie Sprosse höchststehenden Adels ansprechen ließen. | |
| Und die sich Reformen verweigerten – und das taten sie bewusst, denn die | |
| hätten sie Privilegien gekostet: Jenes zum Beispiel, die Universität, 1919 | |
| als erste Universität der demokratischen Zeit der Weimarer Republik, wie | |
| eine Institution im Besitz zu halten, die sich dem bürgerlichen | |
| Elitebegriff verschrieben hatte: Die Massen an immer mehr Abiturienten, | |
| die akademische Grade erlangen wollten, die wehrten sie ab. | |
| Hamburg war keine der Universitätsstädte, in der die später so genannte | |
| Achtundsechzigerbewegung prominent wurde. Das waren Orte wie Westberlin | |
| oder Frankfurt am Main. Eine Aktion aber machte die Universität mit ihrem | |
| Hauptgebäude an der Edmund-Siemers-Allee über Nacht berühmt – über die | |
| Stadtgrenzen hinaus. | |
| Für den Vormittag war im Audimax an der Schlüterstraße, architektonisch ein | |
| Juwel, durch die Glasfenster zum Campus hell einladend, die Feierstunde zum | |
| Rektorwechsel terminiert. Professoren zogen sich hierfür Talare an – | |
| textile Monstren, schwer schwingend des Stoffes wegen, die so etwas wie | |
| professorale, jedenfalls zum akademischen Fußvolk Distanz anzeigende Würde | |
| verströmen sollten. | |
| Zwei Studenten, der eine später Staatsrat in Hamburg, der andere | |
| Landesvorsitzender der SPD in Bremen, Gert Hinnerk Behlmer und Detlev | |
| Albers, waren damals bis vor Kurzem die Köpfe des Asta gewesen und hatten | |
| sich unentwegt für bessere und vor allem demokratische Studienbedingungen | |
| eingesetzt. | |
| Höflich und verbindlich im Ton. Und ohne Erfolg, die Professorenschaft | |
| wehrte ihre Wünsche ab. Beide, weit entfernt, als sozialistische Umstürzler | |
| sich zu verstehen, waren Sozialdemokraten – und mussten nun andere Mittel | |
| ergreifen: Behlmer und Albers wollten die Feier des Rektorwechsels für | |
| einen wenigstens universitätsöffentlichen Protest nutzen. Akkurat machten | |
| sie ein Transparent, das sie vor den Professoren in ihren seltsamen | |
| Gewändern in das Audimax zu tragen beabsichtigten. | |
| Woher aber rührt die Parole, die Aufschrift des Banners? Der Hamburger | |
| Historiker Rainer Nicolaysen zitiert in seinem Aufsatz „Ein Hamburger | |
| Studentenprotest trifft den Nerv der Ordinarienuniversität“ Behlmer mit der | |
| Aussage, die Parole sei durch ein Bauzaun-Graffito inspiriert gewesen: „Es | |
| mieft an der Universität, und das seit 100 Jahren“, so überliefert es der | |
| spätere Staatsrat. | |
| Er habe die zwei Zeilen nur etwas knackiger, drastischer formuliert: „Unter | |
| den Talaren / Muff von 1000 Jahren“. Tags zuvor hatten beide den Stoff – | |
| ein Stück aufgehobener Trauerflor von der Beerdigung des im Juni dieses | |
| Jahres in Westberlin ermordeten Studenten Benno Ohnesorg – mit Leukoplast | |
| beklebt und so gefaltet, dass er ohne Aufsehen unter den Anzug beim Gang | |
| ins Audimax mitgebracht werden konnte. | |
| Der Rest ist Geschichte: Albers und Behlmer und ihre Freunde aus den | |
| Asta-Zirkeln landeten mit ihrer Geste einen Volltreffer; die meisten | |
| Professoren empörten sich standesgemäß, sie empfanden, so Rainer | |
| Nicolaysen, diesen „Coup“ als „Majestätsbeleidigung“ – und konnten d… | |
| Zeitläuften doch nichts entgegensetzen. Ihre Zeit war abgelaufen: Sie | |
| hätten an diesem Tag spätestens erkennen können, dass die Ära ihrer | |
| Feudalität ihre Zukunft hinter sich hatte. | |
| Die Feier wurde im Übrigen nach diesem das gefüllte Audimax | |
| elektrisierenden Opener fortgesetzt – und nicht abgebrochen oder gar | |
| offiziell verfrüht für beendet erklärt: Die Rektoratsfeier ging einige | |
| Stunden weiter – nur dass es nun an der gewissen Feststimmung gebrach. | |
| Werner Ehrlicher, der neue Rektor, ein Volkswirt, hielt, wie üblich, einen | |
| Vortrag über die wirtschaftliche Rezession des Jahres 1966/67 – ein, so | |
| zitiert es Nicolaysen aus dem Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt vom 19. | |
| November des Jahres, „aufreizend nüchternes“ Referat. | |
| Der Sturm, der nach dieser Aktion öffentlich wurde, war nachhaltig. | |
| Keineswegs aber war die Aktion eingebettet in irgendein Schema zur | |
| Aufarbeitung des Nationalsozialismus. „Mit der Anspielung auf das | |
| ‚Tausendjährige Reich‘ wollten die studentischen Aktivisten die Rolle der | |
| Universität im Nationalsozialismus im Allgemeinen und die NS-Vergangenheit | |
| bestimmter Professoren im Besonderen anprangern“, so in jeder Hinsicht | |
| irrig Wolfgang Kraushaar, Chronist der Achtundsechziger, jüngst wieder in | |
| der aktuellen Ausgabe des Mittelweg, Periodikum aus dem Hamburger Institut | |
| für Sozialforschung. | |
| Tatsächlich geht es aus den – protokollierten – Sitzungen der Gremien von | |
| Professoren und Studenten nicht mal in einer Nebenbemerkung hervor, dass | |
| das Publikum, die Kritisierten wie die Kritiker, irgendeinen Hintersinn in | |
| Sachen Nazi im Blick hatten. Auch wenn Gert Hinnerk Behlmer aktuell sagt, | |
| „die Anspielung auf das ‚Tausendjährige Reich‘ (…) war von mir gewollt, | |
| allerdings damals kaum beachtet“, verweist das vor allem auf die | |
| menschliche Fähigkeit, Dinge, an denen sie selbst beteiligt waren, erst | |
| nachträglich mit spezifischen Bedeutungen zu fluten: Zu sagen, dass es | |
| damals schon um Nazidinge ging, kommt einfach gut an! | |
| Nebenbei: Den in der Erregung des Vormittags im Audimax vom | |
| Islamwissenschaftler Bertold Spuler geäußerte Satz „Ihr gehört alle ins KZ… | |
| wurde nicht von allen der an der Aktion Beteiligten gehört – obendrein | |
| musster Spuler sich für diesen Spruch mit einem Verweis förmlich durch die | |
| Behörde bestrafen lassen. An den 9. November 1938, die Reichspogromnacht | |
| gegen die noch nicht geflohenen jüdischer Bürger*innen Deutschlands, | |
| gedachte an diesem Tag universitär offiziell niemand. | |
| Das ergibt auch historisch einen Sinn – denn die Idee, die | |
| Achtundsechzigerbewegung habe sich ganz besonders und erstmals in der | |
| Nachkriegszeit überhaupt mit der Nazizeit kritisch beschäftigt, gehört zu | |
| den gern kolportierten Folkloren dieser Bewegung und ihrer Protokollanten. | |
| Nein, diese Debatten hatten sozialliberale Intellektuelle wie der | |
| Frankfurfer Oberstaatstanwalt Fritz Bauer, der Hamburger Jurist Herbert | |
| Jäger und andere lange vor den Endsechzigerjahren begonnen: Sie waren alle | |
| nicht Teil dieser Studentenbewegung. Die von den Studentenvertretern wie | |
| Albers und Behlmer bitter monierten Missstände der Ordinarienuniversität | |
| waren ja ohnehin nicht 1933 geboren worden – es waren Relikte aus | |
| altbürgerlichen Zeiten vor 1933. | |
| Die Aktion im Audimax blieb in anderer Hinsicht nicht folgenlos: Der Marsch | |
| durch die Institutionen, die sich gerade junge Sozialdemokraten aufs Panier | |
| geschrieben hatten, fruchtete. Ende der Sechzigerjahre trat ein neues | |
| Hamburger Universitätsgesetz in Kraft, die Professorentyrannei hatte ein | |
| Ende. Zum neuen Präsidenten wurde Peter Fischer-Appelt gewählt, ein | |
| Theologe im Range eines wissenschaftlichen Angestellten – gewählt gegen | |
| fast alle Stimmen der Professoren. | |
| Das Transparent ist zum Hamburger, zum deutschen Kulturerbe geworden: ein | |
| wichtiger und populärer Beitrag aus Hamburg, der die Modernisierung des | |
| Landes markant zu versprechen kündete. Es liegt kostbar und wertgeschätzt | |
| im Staatsarchiv verwahrt. | |
| Podiumsdiskussion mit Geschichtsprofessor Rainer Nicolaysen, | |
| Ex-Bannerträger Gert Hinnerk Behlmer, Helga Kutz-Bauer, der | |
| Asta-Vorsitzenden des Sommersemesters 1967, sowie der aktuellen | |
| Asta-Vorsitzenden Franziska Hildebrandt: 9. 11. 2017, 18 Uhr, Audimax der | |
| Universität | |
| Mehr über die Studentenproteste in Hamburg lesen Sie im Nord-Teil der | |
| aktuellen Ausgabe der taz.am wochenende oder im [1][E-Paper]. | |
| 3 Nov 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /e-kiosk/!114771/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
| ## TAGS | |
| Universität Hamburg | |
| Studentenproteste | |
| Modernisierung | |
| Fritz Bauer | |
| Studentenproteste | |
| Universität Hamburg | |
| Schwerpunkt 1968 | |
| Südafrika | |
| Chile | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommentar Todestag des Staatsanwalts: Fritz Bauer war der bessere 68er | |
| Vor 50 Jahren starb der legendäre Staatsanwalt Fritz Bauer. Zu Unrecht | |
| wurde er nicht so sehr verehrt, wie die 68er-Ikonen Dutschke und Langhans. | |
| „Muff“-Proteste im Jahr 1967: Subversiv für Demokratisierung | |
| Vor 50 Jahren entrollten Hamburger Studenten ein Banner mit der Aufschrift: | |
| „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“. Was war da genau los? | |
| Asta-Vorsitzende über heutigen Uni-Muff: „Vom Protest der 68er lernen“ | |
| Vor genau 50 Jahren entstand an der Uni Hamburg das berühmteste Foto der | |
| Studentenbewegung. Was die Aktion von damals für Studierende heute | |
| bedeutet. | |
| Ortstermin im Originalen „Muff“-Talar: „Die dachten, das sei ein Requisit… | |
| In der Arbeitsstelle Hamburger Universitätsgeschichte findet sich noch | |
| einer der Talare von vor 50 Jahren. Ein Besuch | |
| Studentenprotest in Südafrika: Straßenschlacht statt Seminar | |
| Unruhen an den Universitäten weiten sich aus. Die Regierung will die | |
| Studiengebühren erhöhen. Studenten fordern ihre Abschaffung. | |
| Studentenprotest in Chile: 102 Demonstranten festgenommen | |
| In Chile protestieren 100.000 Studenten gegen die Privatisierung der | |
| Universitäten. Innenminister Andres Chadwick nennt sie „Kriminelle und | |
| Extremisten“. | |
| Streit der Woche: War früher alles besser? | |
| Hach, früher. Da moderierte Gottschalk noch „Wetten, dass...?“. Da waren | |
| Studenten noch Revoluzzer. Da war der Urlaub noch mailfrei. Hach, früher. | |
| Studentenprotest in Italien: Gegen Showgirls im Parlament | |
| Die Studenten in Rom demonstrierten erneut gegen die Universitätsreform, | |
| mieden dieses Mal aber die "Rote Zone". Zwischenfälle gab es dafür in | |
| Palermo und Mailand. | |
| Proteste in Großbritannien: Sparprogramm bringt Studenten in Rage | |
| Sie wollten gegen die Erhöhung der Studiengebühren protestieren und fanden | |
| sich zur bisher größten Demonstration gegen die neue Regierung zusammen. | |
| Dann eskalierte die Situation. | |
| Bildungsstreik und Uni-Proteste: Rütteln am Bildungssystem | |
| Die Missstände im Bildungssystem führten zur Politisierung der | |
| StudentInnen. Proteste folgten. Doch was haben sie tatsächlich gebracht? |