# taz.de -- Bildungsstreik und Uni-Proteste: Rütteln am Bildungssystem | |
> Die Missstände im Bildungssystem führten zur Politisierung der | |
> StudentInnen. Proteste folgten. Doch was haben sie tatsächlich gebracht? | |
Bild: Protest in Stuttgart gegen die Missstände an Schulen und Universitäten. | |
BERLIN taz | Unweit des Berliner Kurfürstendamms kam es im Protestherbst | |
2009 zu einer kurzen Diskussion zwischen Passanten und ein paar | |
Studierenden. Während ihre KommilitonInnen die Straße blockierten und | |
symbolisch eine Bank überfielen, diskutierten sie am Rand über Sinn und | |
Zweck ihrer Unternehmung. | |
Hier wurde mehr oder weniger theoretisch formuliert, was in der Bank | |
praktisch verhandelt wurde. Westberliner Passanten sahen sich erinnert an | |
Vorgängerproteste und beharrten darauf, dass sich doch die Zeiten geändert | |
hätten: "Ist doch nicht mehr 68!" Sicher, heute gehe es um etwas anderes, | |
protestierten die DemonstrantInnen und stimmten in den Chor ein: "Wir sind | |
hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!" | |
Davon abgesehen, dass die Deutsche Bank, die von den Studierenden | |
überfallen worden war, gar keine milliardenschweren Rettungspakete von | |
Staatsseite erhalten hatte, die man nun laut rufend mit "Wir zahlen nicht | |
für eure Krise" zurückverlangte, ist eine Reduzierung der Kritik auf die | |
Ökonomisierung des Bildungssektors plakativ und unausgegoren. Erst recht, | |
wenn man seine Kritik in einer Logik formuliert, deren Fundament ein | |
Bildungsbegriff ist, den man zu bekämpfen gedenkt. | |
Wenn Bildung "geklaut" werden kann, dann ist sie Ware, die in einer | |
Tauschlogik erwerbbar oder eben entwendbar ist. Statt derartige | |
Ungenauigkeiten zu reflektieren, forderten sie mit Slogans wie "Education | |
is not for sale", den Ausverkauf der Uni zu stoppen. | |
Der Widerstand gegen eine Auffassung des Hochschulstudiums, das seine | |
Gültigkeit erst durch das Ansammeln von Kreditpunkten erlangt, gegen die | |
Verschulung wie im Bachelor- und Masterstudium, die aufgrund der | |
Korsettlehrpläne keinen Raum für Selbstorganisation und Entfaltung eigener | |
Interessen lassen, ist dringend notwendig. Fraglich aber ist, ob er sich | |
mit seiner schablonenhaften Kritik eine gewichtige Stimme verschaffen kann. | |
Beifall scheint den Protesten aus dem letzten Jahr jedenfalls nicht zu | |
fehlen. Sogar Universitätspräsidenten und Politiker waren ganz aus dem | |
Häuschen angesichts der plötzlich so "politisierten" Studierenden. | |
Lediglich Bundeswissenschaftsministerin Annette Schavan (CDU) bezeichnete | |
die 2009er Proteste als "gestrig" und rief damit laute Kritik hervor, weil | |
die StudentInnen sich heute weder dem Diktat des Status quo unterwerfen, | |
noch mit der 68er Generation verwechselt werden wollen. Dabei ist eine | |
Verwechslungsgefahr gering, hatte die Studentenbewegung vor vierzig Jahren | |
der jetzigen doch voraus, dass sie die Missstände im Bildungssystem mit | |
einer Staatskritik verband, die aktuell nicht mehr zählt. | |
Statt zu begreifen, dass der Staat selbst die Entscheidung darüber fällt, | |
ob er die Finanzierung der Universität an Privatunternehmen auslagert, um | |
die Bildungskosten zu reduzieren, überfallen die StudentInnen lieber | |
symbolisch Banken und echauffieren sich über die Zunahme von | |
drittmittelfinanzierten Projekten. | |
Diese reduzierte Kritik wundert wenig. Den hochschulpolitischen Forderungen | |
mangelt es an gesellschaftlichem Bezug. Der Protest bleibt größtenteils auf | |
den Bildungssektor fokussiert. Nach zwei Monaten Streik hatten die Proteste | |
schließlich nicht mehr vorzuweisen, als die vage Zusage, das Bachelorsystem | |
auf eine Entschlackung hin zu prüfen, und die noch ominöseren Versprechen, | |
die Prüfungs- und Arbeitsbelastung im Studium zu reduzieren. | |
Dennoch: Die Protestierenden sind dieses Mal wesentlich besser organisiert | |
als in den großen Streiks der letzten Jahrzehnte. Und die Energie und | |
Ausdauer, mit der die Proteste organisiert werden, ist bewundernswert. Ihre | |
internationale Ausbreitung von Europa aus in die USA und sogar nach | |
Usbekistan hätte das Potenzial zu einer fundamentaleren Veränderung gehabt. | |
Doch ein noch so verzweifeltes Rütteln am Bildungssystem hilft nicht, wenn | |
vergessen bleibt, dass es seine Verankerung im Staat hat und er der | |
Adressat für jede Kritik sein müsste. Ohne eine theoretische Grundlage | |
bleibt jede Praxis vergeblich. Das sollten die Studierenden am besten | |
wissen. | |
Umso viel versprechender scheint eine Buchreihe zu sein, die ein | |
Studierendenkollektiv aus München im diaphanes-Verlag publiziert. Der | |
Verlag folgt einem Trend, der sich auch in anderen einschlägigen | |
Theorieverlagen zeigt. So gab der Verlag Turia + Kant eine Sammlung mit | |
Aufsätzen zum Bildungsstreik heraus. In Kürze erscheint Stefan Heidenreichs | |
"Über Universität" im Merve-Verlag. | |
Kann der theoretische Rückstand durch eine Aufarbeitung also aufgeholt | |
werden? "Die Geisteswissenschaften haben auch noch andere Möglichkeiten als | |
der restliche Studentenprotest, sich zu positionieren und zu artikulieren", | |
erklären die HerausgeberInnen der Buchreihe "Unbedingte Universitäten". | |
Die Reihe umfasst bisher die Bände "Was passiert? Stellungnahmen zur Lage | |
der Universität", mit den Forderungskatalogen und Aufsätzen aus einem | |
internationalen Kontext. Im zweiten Band, "Was ist Universität? Texte und | |
Positionen zu einer Idee", sind Aufsätze versammelt unter anderem von | |
Humboldt, Foucault, Adorno, Derrida, Rancière, die die Lage der Uni immer | |
auch in ihrer gesellschaftlichen Funktion reflektieren. | |
Das Münchner Kollektiv sieht sich zwar als Teil des Bildungsstreiks, | |
entstand aber aus dem Bedürfnis, neben den praxisorientierten Protesten | |
einen Raum für Reflexion und theoretische Auseinandersetzung zu schaffen. | |
So unterziehen die HerausgeberInnen etwa die Sprachlichkeit der Proteste | |
einer Kritik. "Das Plenum hat eine Sprache entwickelt, angefangen bei den | |
Händezeichen, die eine effiziente Diskussionsform ermöglichen sollten, bis | |
zu gender-korrektem Sprechen oder so 68er Slogans, das befremdet hat." | |
In einem Seminar der geisteswissenschaflichen Fakultät entstand die Idee, | |
eine Buchreihe über die Proteste zu veröffentlichen. "Wir haben Texte | |
zusammengetragen, die in ihrer Performativität und Taktik deutlich zeigen, | |
dass die Opposition zwischen Theorie und Praxis aufgelöst werden kann." | |
Was hier gegenüber den unverhältnismäßig praxisorientierten | |
StudentInnenprotesten auf den ersten Blick progressiv wirkt, ist aber doch | |
nicht der Weisheit letzter Schluss. Selbst wenn das StudentInnenkollektiv | |
in seiner Buchreihe Theorie und Praxis zusammenführen möchte, scheint es | |
auch den theoretischen Bogen von einer Kritik an der Uni zu einer | |
Gesellschaftkritik nicht zu vollziehen. | |
Das Kollektiv beschneidet seine Kritikfähigkeit um das notwendige Moment, | |
wenn es sagt, dass "es ihm nicht um eine Politisierung geht und dass der | |
Sozialismus eingeführt werden soll. Sondern es geht darum, sich zu fragen, | |
wie man studiert und das in seiner eigenen Logik rechtfertigt." | |
Und so verstrickt sich diese Logik auch in Widersprüche: "Wir sind immer | |
noch überzeugt, dass die Universität, so bedingt sie sein möge, sich selbst | |
die Möglichkeit offen halten muss, so zu tun, als ob sie unbedingt wäre." | |
Es hilft allerdings auch nicht, sich trotz der realen Abhängigkeiten der | |
Illusion hinzugeben, die Universität sei frei. Falls eine theoretische | |
Auseinandersetzung mit dem Aufbegehren begonnen haben sollte, steht sie | |
noch am Anfang. | |
Kritik an den Mechanismen, die in den Streiks allein auf die Hochschule | |
bezogen wurde, wird so lange wirkungslos bleiben, wie Studenten sich ihrer | |
Möglichkeiten selbst verweigern. Stattdessen werden sie vereinnahmt von den | |
üblichen Verdächtigen, woraus sich nur ein Ausweg ergibt: Die Proteste | |
müssen sich radikalisieren und ausweiten, theoretisch wie praktisch. | |
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22 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
Philipp Goll | |
Zoé Sona | |
## TAGS | |
Universität Hamburg | |
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