# taz.de -- Kolumne Ich meld mich: Der Traum des alten Rock'n'Rollers | |
> Bemerkenswert am Hotel Otrar in Almaty, Kasachstan, ist: In jedem Zimmer | |
> liegt eine Liste aus, die aufführt, was die Möbel und Gegenstände wert | |
> sind. | |
Bild: Das Fenster 2.800 Tenge? | |
Das Hotel Otrar in der Gogolstraße Nr. 73 in Almaty ist ein Monument großer | |
Zeiten. Es entstand in den 1970er Jahren, als die Sowjetunion noch | |
glorreich, die Weltrevolution unvermeidlich und die Völkerfreundschaft | |
zwischen Kasachen und Russen geradezu unverbrüchlich war. Gar nicht zu | |
reden von der Bruderliebe. Das weite Foyer mit dem glänzenden Marmorboden | |
spiegelt noch die einstige Pracht und Herrlichkeit. Das Restaurant hat die | |
Form einer großen Jurte, an deren Wänden sich farbenprächtige Szenen aus | |
dem Steppenleben reihen: Ein Tiger wird gejagt, ein Schwert geschmiedet, | |
ein Baby gebadet. | |
In der Leseecke dämmern Gummibäume und Grünlilien vor sich hin, die meisten | |
Zeitschriften stammen aus dem Jahr 2013, die Handarbeitsmagazine sind von | |
2010. Längst verwaist sind die Nischen am Ende der langen, langen Flure, in | |
denen einst falkenäugige und flammenzüngige Damen saßen und Tag und Nacht | |
über das moralische Wohl ihrer Schützlinge wachten (oder sich um die | |
Abwicklung der unmoralischen Wohltaten kümmerten). | |
Heute irren des Nachts die Geister verdienter Kader und Helden der Arbeit | |
durch die Gänge, fläzen sich in die Sessel und fragen sich, was da wohl vor | |
sich geht im hoteleigenen „Tai-Spa“. Leise hämen sie, dass es das zu ihrer | |
Zeit nicht gegeben hätte: beige Leder seufzen einer vergangenen Epoche | |
hinterher. | |
Bemerkenswert am Hotel Otrar aber ist eine andere Einrichtung: In jedem | |
Zimmer liegt eine Liste aus, die genau aufführt, mit wie viel kasachischen | |
Tenge (1.000 sind etwa 2,85 Euro) einzelne Möbel und Gegenstände zu Buche | |
schlagen, wenn man sie zerlegt, zerbricht, zerdeppert, zerreißt. Ein | |
Nachttischchen: 6.600 Tenge. Das Schuhregal: 7.740. Der Spiegel: 28.000. | |
Man weiß nicht, ob diese verdienstvolle Übersicht noch aus Rubelzeiten | |
stammt, als die Völkerfreundschaft unverbrüchlich war und die Bruderliebe | |
mit zahlreichen gebrannten Wässerchen in 100-Gramm-Portionen besiegelt | |
werden musste, woraufhin häufig das eine oder andere Möbelchen dem | |
Überschwang der Gefühle zum Opfer fiel. Oder ob sie erst später eingeführt | |
wurde, als Horden aus dem Westen einfielen und so mancher saftige Erdöldeal | |
feucht begossen werden wollte. | |
Was man dagegen weiß: Nie war es so klar kalkulierbar, seine Tage in der | |
einstigen Hauptstadt Kasachstans aufregend zu gestalten. Reicht dem | |
Besucher ein zerdepperter Kühlschrank (48.000, um seinen Ruf als | |
unzähmbarer Sex-and-Drugs-and-Rock-’n’-Roll-Veteran zu zementieren? Oder | |
muss auch noch der gläserne Ascher (1.700) an die Wand, das Badehandtuch | |
(7.000) in Flammen aufgehen und der Fernseher (50.000) runter auf die | |
Straße, damit der eigene Name an der Rezeption ein ehrfürchtiges Raunen | |
auslöst? | |
22 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
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