# taz.de -- Kolumne „Teilnehmende Beobachtung“: Auf großer Fahrt zum Bürg… | |
> Es begann damit, die Wohnung umzumelden und endete an Dagmars | |
> Sprelacart-Schreibtisch. Mit dem Bürgeramt würde unsere Kolumnistin | |
> wieder verreisen. | |
Bild: „Deeees-paaaa-cito“ singen Luis Fonsi (links) und Daddy Yankee auch i… | |
Wussten Sie, dass die Bürgerämter auch Erlebnistouren veranstalten? Es | |
begann mit dem Vorhaben, die nicht mehr ganz frisch bezogene Wohnung | |
umzumelden. Bei meinem letzten Bürgeramtsbesuch vor drei Jahren war es noch | |
üblich gewesen, sich in den frühen Morgenstunden in die Schlange vor der | |
Eingangstür einzureihen, um dann im Sturmlauf zum Wartemarkenspender zu | |
rennen. Inzwischen hat der Senat die Online-Terminvergabe etabliert. | |
Der Blick in den Onlinekalender zeigte sehr viele rote Kästchen, aber auch | |
ein paar blaue. Das waren die freien Termine, alle in ein paar Wochen und | |
weit weg, im Bürgeramt Helle Mitte in Marzahn oder im Bürgerbüro | |
Wasserstadt in Spandau. Seufzend klickten wir auf „Wohnung ummelden“, | |
reservierten einen Termin Ende Oktober und rätselten nun, ob wir während | |
dieser wertvollen Minuten zu zweit vorsprechen dürften. | |
Die Dame am Bürgertelefon klärte auf: „Wenn Se zu zweit sind, bräuchten Se | |
eigentlich zwei Termine“. Noch bevor ich in den Hörer maulen konnte, schob | |
sie hinterher: „Ick rate Ihnen jetzt mal wat: Rufen Se morgen früh Punkt | |
acht Uhr wieder an und fragen Se nach einem Doppeltermin am gleichen Tag.“ | |
Erwartungsvoll stellte ich den Wecker. Um 8:04 Uhr am nächsten Morgen | |
wählte ich die 115. Schon um 8:09 Uhr war alles gelaufen – unser | |
Doppeltermin um 12 Uhr im Bürgeramt Heiligensee stand. | |
Allein die Anreise war ein Erlebnis. Vom Bus aus hatten wir einen schönen | |
Blick auf den Tegeler See. Wir fuhren durch den Tegeler Forst und sahen | |
auch die Alte Waldschänke, das nach eigenen Angaben älteste Wirtshaus | |
Berlins. An einem Waldstück unweit eines Toreingangs mit Uhrturm hielt der | |
Bus. Hier, im Ausbildungszentrum der Berliner Hundestaffel, war unser | |
Bürgeramt. | |
Drinnen liefen wir über sandfarben gekachelte Flure, bestaunten die | |
meterlangen Wandzeitungen, die zur Fahndung ausgeschriebene Verbrecher und | |
„Sachbearbeiter/in für personelle Angelegenheiten“ suchten. In einer | |
Dienststube aßen dickbäuchige Polizisten belegte Stullen. Der Warteraum mit | |
Fischgrätparkett war leer. Kaum hatten wir Platz genommen, blinkte auf dem | |
digitalen Display unsere Vorgangsnummer „178436“. | |
## Immer schön despacito | |
Punkt 12 Uhr empfing uns Sachbearbeiterin Dagmar, wie wir von der Kollegin | |
hörten, an Platz drei, einem Sprelacart-Schreibtisch, den neben | |
Stempelkissen und Computer eine aus Papier gebastelte Meerjungfrau und eine | |
tönerne Schildkröte zierte. Und auch sonst verbreitete die Amtsstube mit | |
ihren Kreuzfenstern, mit Grünpflanzen und Kaffeetassen eine heimelige | |
Wohnzimmeratmosphäre. „Deeees-paaaa- cito“ klang der Latino-Sommerhit aus | |
einem Kofferradio. „Despacito“, also ganz gemächlich erfragte auch Dagmar | |
mit ihren blonden, vom Färben krausen Haaren unsere neue Adresse, notierte | |
in Schönschrift das genaue Datum des Umzugs sowie die Gründe für das | |
verspätete Ummelden, wobei sie den ersten Absatz durchstrich und in sich | |
versunken noch einmal ansetzte. | |
Eine gefühlte Ewigkeit später löste sie mit ihren lilafarbenen | |
Glitzernägeln die neuen Adressaufkleber vom Papier und klebte sie auf | |
unsere Ausweise. Wir waren umgemeldet. Und verblüfft – auch über das | |
Geschehen an Platz vier neben uns. Nachdem die 88-jährige Dame aus | |
Konradshöhe von ihren kranken Beinen berichtet hatte, war Herr Heinrich an | |
der Reihe, um seinen neuen Personalausweis abzuholen. Als seine | |
Sachbearbeiterin ihn nach einer sechsstelligen Pinnummer fragte, um die | |
Online-Ausweisfunktion zu aktivieren, antwortete Herr Heinrich laut: „Aber | |
nicht verraten: 123456. Wissen Se, ick habe keen Internet.“ | |
Voller Eindrücke traten wir die Rückfahrt an. Mit dem Bürgeramt würden wir | |
wieder verreisen, egal wohin. | |
15 Oct 2017 | |
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