| # taz.de -- taz-Serie Angezapft: Im Cafè Morena: Blutverdünner auf die Demokr… | |
| > Am Tresen, am Stammtisch und in der letzten Kneipenecke wird über die | |
| > Wahl am 24. September diskutiert. Die taz hört zu. Diesmal im Wedding. | |
| Bild: Bei Vormittagsbier, Wodka und Kippchen diskutiert es sich gut über die D… | |
| Ein Weddinger Vormittag, unweit der Müllerstraße. Herrlichster | |
| Sonnenschein. Der türkische Herrenfriseur hat den Wäscheständer mit den | |
| nassen Handtüchern zum Trocknen auf dem Bürgersteig gestellt, im Bäcker | |
| gegenüber frühstücken ein paar unausgeschlafene Gesichter. Im Café Morena | |
| steht dichter Zigarettenqualm. | |
| Wolle, Wirt im Ruhestand, und Stammgast Paule trinken ihr Vormittagsbier in | |
| der noch leeren Kneipe, die früher einmal Etablissement und Arbeiterkneipe | |
| war und jetzt Wohnzimmer ist. Der massive Aschenbecher auf ihrem Stammtisch | |
| trägt schon ein gutes Dutzend ausgedrückter Kippen. | |
| Daneben legt Wolle mit Schwung seinen SPD-Mitgliedsausweis, der Daumen | |
| bleibt auf der roten Plastikkarte liegen: „Ick wähl die SPD.“ Gleich „als | |
| Erstes“ wird er am Sonntagmorgen an die Wahlurne gehen, „denn gehste nicht | |
| wählen, kannste nicht meckern“. | |
| Walter, der ein paar Meter weiter allein am Tresen sitzt, nickt dreimal. | |
| Darauf erst mal einen Wodka, äh „Blutverdünner“, wie sie hier sagen: | |
| anstoßen auf die Demokratie. | |
| Paule findet Wählen ziemlich kompliziert: „Das sind so viele Zettel“, sagt | |
| er. Zwei Stimmen und das Kreuz für oder gegen den Flughafen Tegel. „Tegel | |
| muss erhalten bleiben“, schallt es jetzt durch die Kneipe. Geballte | |
| Einigkeit, weil: „sonst die Mieten im Kiez steigen“, (Paule), „Schönefeld | |
| so weit draußen ist“ (Wolle), „sich 30 Jahre lang auch keiner daran gestö… | |
| hat“ (Walter). | |
| Paule zündet sich die nächste West-Zigarette an: „Ich finde, Merkel ist zu | |
| lange am Hebel“, sagt er leise. Er, der Ostberliner Mittfünfziger mit zwei | |
| gescheiterten Fluchtversuchen, damals, als die Mauer noch stand, über die | |
| Tschechoslowakei, möchte gern arbeiten „als Pförtner oder so“. Nachdem ihn | |
| das Jobcenter als erwerbsunfähig berentet hat, hat er keine Chance mehr. | |
| Sein Kreuzchen gibt er der Linken, weil er hofft, dass sie sich für „sein | |
| Recht auf Arbeit“ starkmacht. Er nimmt einen Schluck Bier aus der Flasche. | |
| Nun aber möchte Paule die Journalistin mal etwas fragen: „Wat wählen Sie | |
| denn?“ Ihre Antwort bringt die Herren endgültig in Fahrt. Ja, das Klima sei | |
| ihnen auch wichtig, schimpfen sie durch die dicke Luft. Aber die Grünen, | |
| nee: „Die wollen ein Verfallsdatum auf Salz und Zigaretten drucken“, | |
| meckert Wolle. „Die schränken unsere Freiheit ein“, wettert Paule. „Jetzt | |
| sollen die Dieselbusse noch umgerüstet werden“, Walter schüttelt den Kopf, | |
| „und die Bürger müssen dann die teuren BVG-Tickets zahlen.“ Allgemeines | |
| Abwinken. | |
| Die Stimmung hat ihren Tiefpunkt erreicht. „Warum müssen wir in Deutschland | |
| eigentlich überall die Vorreiter sein?“, fragt Walter in die Kneipe. Wählen | |
| will er die CDU, „denn wir haben keine bessere Kanzlerin“. Paule stöhnt: | |
| „Die hat viele Fehler gemacht“, ruft er. | |
| Wolle stellt fest: „Wer viel arbeitet, macht viele Fehler.“ Merkel habe die | |
| persönlichen Kontakte ins Ausland. Dem Kanzlerkandidaten seiner SPD fehle | |
| leider „der Arsch in der Hose“. „Schröder hatte wenigstens das Aussehen.… | |
| Was aber allen Parteien fehle, sei das Gehör für die jungen Menschen. „Die | |
| müssen doch mit all dem zurechtkommen“ sagt der 80-Jährige, „um uns geht … | |
| doch gar nicht mehr.“ Auch Walter möchte, dass „die Kinder etwas werden“. | |
| Und Paule fällt ein, dass allein in Moabit fünf Jugendclubs geschlossen | |
| wurden. Der zweite „Blutverdünner“ wird gereicht: diesmal auf die gute | |
| Laune. | |
| Den Wahlabend wird Wolle auf der SPD-Wahlparty verbringen, Walter in der | |
| Kneipe und Paule vor dem Fernseher, er guckt so gern Horrorfilme. | |
| Hoffentlich nicht den mit Beatrix von Storch. | |
| 23 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Boek | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Bürgeramt | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne „Teilnehmende Beobachtung“: Auf großer Fahrt zum Bürgeramt | |
| Es begann damit, die Wohnung umzumelden und endete an Dagmars | |
| Sprelacart-Schreibtisch. Mit dem Bürgeramt würde unsere Kolumnistin wieder | |
| verreisen. | |
| Der Wahltag in Berlin: Gefühlt ist richtig was los | |
| Der Marathon bestimmt die Szenerie am Wahlmorgen. Trotz der vielen | |
| Sperrungen liegt die Wahlbeteiligung leicht höher als 2013. Demo gegen AfD | |
| angemeldet. | |
| taz-Serie Angezapft (2): Im Metzer Eck: Ärger über die Generation Merkel | |
| Am Tresen, am Stammtisch und in der letzten Kneipenecke wird über die Wahl | |
| am 24. September diskutiert. Die taz hört zu. Diesmal in Prenzlauer Berg. |