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# taz.de -- Debatte um sexualisierte Gewalt: Mitgefühl ist nicht begrenzt
> Weinstein, #MeToo: Berichte von Frauen, die vergewaltigt oder belästigt
> wurden, auf allen Kanälen. Aber was ist mit Erfahrungen von Männern?
Bild: Lasst uns reden
Dies ist eine These, es ist keine endgültige Analyse. Es ist der Versuch,
öffentlich zu denken. Also bitte, schickt mir keine Hassbriefe oder
Vergewaltigungsdrohungen, sondern solidarische Post und erzählt mir von
euren Vergewaltigungserfahrungen.
Denn so wichtig ich #MeToo auch finde – und ich finde den Hashtag, unter
dem die Schauspielerin Alyssa Milano aufrief: [1][„Wenn ihr sexuell
belästigt oder vergewaltigt worden seid, schreibt ‚me too‘ als Antwort auf
diesen Tweet“] und der daraufhin viral ging, wirklich essentiell – fehlen
mir dabei doch ganz viele Stimmen. Nämlich die der Männer.
Natürlich gibt es auch Männer, wie Schauspieler Jensen Ackles, der [2][„für
meine Frau, für meine Töchter, für alle Frauen … Ich bin an eurer Seite“
tweetete]. Das ist reizend, doch das meine ich nicht. Was ist mit den
Männern, die genauso Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben?
Warum schreiben nur ganz, ganz wenige von ihnen hier? Weil #MeToo eindeutig
an Frauen gerichtet ist. Wenn Männer aufgefordert werden, sich zu
beteiligen, dann, indem sie darüber nachdenken sollen, warum sie „so etwas“
machen.
Das ist verständlich, schließlich ist das, wie wir in der Regel über
sexualisierte Gewalt sprechen. Aber #MeToo tritt mit der Verheißung an,
etwas zu ändern und das Schweigen zu durchbrechen. Aber dann lasst uns das
doch für alle machen. Denn Reden kann so viel bewegen, wie ich gemerkt
habe, seit meine Kulturgeschichte der Vergewaltigung herausgekommen ist.
Nach nahezu jeder Lesung kommen Menschen und erzählen mir ihre Geschichten
oder schreiben sie mir. Und überraschend viele dieser Mails kommen nicht
von Frauen. Ein Leser mailte, dass er Opfer von sexualisierter Gewalt ist
und eine der Sachen, die für ihn Heilung besonders schwer machen, ist, dass
er in allen Texten und kulturellen Botschaften über Vergewaltigung immer
als (potenzieller) Täter angesprochen wird, weil er ja ein Mann ist.
## Reden verändert die Welt
Bei einer Lesung in Berlin meldete sich jemand und sagte: „Und was ist mit
den Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die bis vor nicht allzu
Langem völlig legal hier um die Ecke verübt wurden?“ Damit meinte er die
euphemistisch als „geschlechtsangleichend“ bezeichneten Operationen an
Neugeborenen, deren Genitalien nicht „eindeutig genug“ waren, in der
Berliner Charité. Richtig, was ist damit? Warum reden wir nicht auch davon,
wenn wir über sexualisierte Gewalt sprechen? Schließlich gehört das
zusammen.
Noch einmal: Reden kann die Welt verändern. Vor einer Weile saß ich im Zug
nach Hause und die beiden angeschickerten jungen Männer mir gegenüber
hatten ein dringendes Gesprächsbedürfnis: „Was hast du hier in Frankfurt
gemacht?“ Eine Lesung. „Eine Lesung?“ Ja, eine Lesung. Bis ich ihnen
schließlich den Titel meines Buchs verriet und der Angetrunkenere der
beiden rief: „Du denkst bestimmt, dass nur Frauen vergewaltigt werden
können! Aber ich bin ein halbes Jahr lang regelmäßig von meiner Exfreundin
vergewaltigt worden.“ Worauf der andere kommentierte: „Na, wenn du das
nicht gewollt hättest, hättest du sie ja verlassen können.“
Es war eine Sternstunde, den beiden sagen zu können, dass natürlich auch
Männer vergewaltigt werden und wir inzwischen wissen, wie schwierig es ist,
sich aus Missbrauchsbeziehungen zu lösen. Denn der zweite fragte den ersten
danach bierernst: „Meinst du, ich bin nicht gut mit dir umgegangen?“
Wenn ich darauf hinweise, wird mir oft gesagt: Das sind die Ausnahmen, die
die Regel bestätigen. Besser bekannt als die 90/10-Regel, die besagt, dass
der größte Teil der Opfer Frauen sind und der größte Teil der Täter Männe…
Es sei dahingestellt, ob das ein gutes Argument ist, schließlich leidet man
als Ausnahme nicht weniger. Doch neuere Forschungsergebnisse rütteln auch
an dieser Bastion der Gewissheit.
## 38 Prozent der Opfer waren männlich
Das amerikanische Justizministerium befragt jedes Jahr rund 90.000
Haushalte für die National Crime Victimization Survey. 2012 kamen sie zu
dem überraschenden Ergebnis, dass 38 Prozent der Opfer von sexualisierter
Gewalt männlich waren, während die Zahlen für Männer sich bis dahin in der
10-Prozent-Zone bewegt hatten (genauer zwischen 5 Prozent und 14 Prozent).
Noch verblüffender waren die Ergebnisse der National Intimate Partner and
Sexual Violence Survey von 2010, für die die amerikanischen Centers for
Disease Control neben „gegen den eigenen Willen penetriert werden“ eine
weitere Definition für Vergewaltigung zuließen, nämlich „gezwungen zu
werden, eine andere Person zu penetrieren“.
Plötzlich schrumpfte der Unterschied zwischen Männern und Frauen – andere
Geschlechter kannte die Umfrage nicht – auf unter ein Prozent: 1.270
Million Frauen und 1.267 Million Männer gaben an, in ihrem Leben Opfer von
sexualisierter Gewalt geworden zu sein.
Wie kann das gehen? Wie kann man einen Mann dazu bringen, jemanden gegen
seinen Willen zu penetrieren? Schließlich braucht er dazu eine Erektion,
und eine Erektion ist per Definition der Beweis dafür, dass er erregt ist.
Nicht wahr?
Nicht wahr. Wir wissen inzwischen, dass physische Erregung nicht mit
psychischer Erregung korrespondieren muss. Wir wissen auch, dass Orgasmen
eine Möglichkeit für des Nervensystem sind, unerträgliche Anspannung
abzubauen – so unerträglich wie zum Beispiel die Anspannung, vergewaltigt
zu werden. Für Menschen – jeglichen Geschlechts – ist es besonders
belastend, bei einer Vergewaltigung einen Orgasmus zu erleben. Als würde
der eigene Körper einen betrügen, oder – noch schlimmer? – als wolle man …
in Wirklichkeit doch. Victim blaming eigenhändig.
## Frauen als Täterinnen
Nun muss man Statistiken immer mit einer Prise Salz betrachten. Genau das
tat Lara Stemple, Leiterin des Health and Human Rights Law Project der
University of California, und erstellte 2014 zusammen mit Ilan H. Meyer
eine Metastudie der verfügbaren Daten zu Männern als Opfern und 2016 eine
zu Frauen als Täterinnen von sexualisierter Gewalt. Lara Stemple ist eine
bekannte Feministin. Das ist wichtig vor den Ergebnissen zu erwähnen.
Sexuelle Gewalt gegen Männer (nach der FBI Definition) wurde in 68,6
Prozent der Fälle von Frauen verübt und bei „gezwungen werden, eine andere
Person zu penetrieren“ in 79,2 Prozent der Fälle.
Ich weiß nicht, in wie weit diese Zahlen auf Deutschland übertragen werden
können. Oder wie hoch der Informationsgehalt von Zahlen überhaupt ist.
Schließlich steckt hinter jeder dieser Zahlen eine eigene Geschichte. Aber
ich war beeindruckt von Lara Stemple Aussage, dass der Feminismus so lange
und so hart gegen Vergewaltigungsmythen gekämpft hat – wie die, dass eine
Frau, die vergewaltigt wurde, irgendwie selbst schuld sei, weil sie einen
zu kurzen Rock getragen hat etc. – doch dass ein vergleichbarer Kampf gegen
Vergewaltigungsmythen in Bezug auf Männer noch aussteht. Sie betont, dass
Männer damit nicht die eigentlichen Opfer sind oder die wichtigeren Opfer.
Die Anerkennung von männlichen Opfern verringert in keiner Form die
Anerkennung von weiblichen Opfern, denn „Mitgefühl, ist keine begrenzte
Ressource.“
Geld natürlich schon. Und ich sehe jetzt schon dreimalschlaue AfDler, die
Frauenberatungsstellen in Männerberatungsstellen umwandeln wollen. Das darf
natürlich um keinen Preis geschehen! Aber wäre es nicht an der Zeit
aufzuhören über Vergewaltigung als ein Verbrechen zu sprechen, das Männer
Frauen antun, und statt dessen miteinander zu sprechen? Das ist keine
Forderung, sondern eine offene Frage. Lasst uns reden.
20 Oct 2017
## LINKS
[1] https://twitter.com/Alyssa_Milano/status/919659438700670976
[2] https://twitter.com/JensenAckles/status/920149248880009217
## AUTOREN
Mithu Sanyal
## TAGS
Harvey Weinstein
Schwerpunkt #metoo
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