# taz.de -- Frankreich auf Sparkurs: Auf Kosten der Banlieue | |
> Die Kürzung von staatlicher Subventionen in den Vorstädten sei | |
> kontraproduktiv. Das sagt der betroffene Bürgermeister Stéphane Gatignon. | |
Bild: Sevrans Bürgermeister Stéphane Gatignon im Hungerstreik (Archivbild vo… | |
SEVRAN taz | Noch vor dem Flughafen Paris-Roissy geht die Autobahnausfahrt | |
Richtung Norden rechts raus in die Industriezone. Dem Wegweiser „Sevran | |
Centre“ folgend gelangt man an Hochhaussiedlungen vorbei, bis man einer | |
Tankstelle gegenüber vor einem umzäunten Neubau steht. Über dem Tor, auf | |
dem drei Trikoloren im Wind wehen, steht „Hôtel de ville“. Das bezeichnet | |
in Frankreich nicht ein Hotel, sondern den Sitz der Stadtbehörde. „Unser | |
altes Rathaus ist 2005 abgebrannt“, erklärt Bürgermeister Stéphane | |
Gatignon. Ort und Datum sagen schon alles über die Brandursachen. Denn | |
damals wurden bei Jugendunruhen in den Vororten der Großstädte, und vor | |
allem im Nordosten von Paris, neben Tausenden von Autos auch öffentliche | |
Einrichtungen und Geschäfte zerstört. | |
Wenn Sevran seitdem wieder gelegentlich in Frankreichs Medien negativ | |
auffällt, dann mehr wegen Gewalt auf dem Drogenmarkt oder ein paar | |
Radikalisierten, die sich in Syrien oder Irak dem Dschihad angeschlossen | |
haben. In Paris – einer anderen Welt – ist vor allem der Name des Quartiers | |
Les Beaudottes in Sevran im übel beleumdeten Departement „93“ | |
(Seine-Saint-Denis) ein Synonym für ein heißes Pflaster in einer Siedlung. | |
In der gilt Gerüchten zufolge mehr das Faustrecht von Banden als das Gesetz | |
der Republik. | |
Der 48-jährige Gatignon kann über solche Klischees nur seufzen. Als zu | |
Beginn der 90er Jahre Kodak und Westinghouse ihre Fabriken schlossen, ging | |
es mit Sevran bergab. Er versucht zu „reparieren“, wie er das nennt. Er ist | |
seit 2001 Bürgermeister und weiß, was auf seine Initiative hin getan wurde, | |
um das Zusammenleben zu verbessern. | |
An der Zusammensetzung der Bevölkerung kann und will er nicht viel ändern: | |
„Wir haben hier 73 Nationalitäten, und fast die Hälfte sind Kinder und | |
Junge unter 30.“ Die Jugendarbeitslosigkeit liege bei mehr als 30 Prozent, | |
die Hälfte der Haushalte seien zu arm, um Einkommensteuern bezahlen zu | |
müssen. „Wir sind auf die Unterstützung des Staates angewiesen, schon so | |
sind unsere lokalen Steuern vergleichsweise enorm hoch.“ | |
Vor fünf Jahren musste Gatignon vor der Nationalversammlung mit einem | |
Hungerstreik erzwingen, dass er 4 bis 5 Millionen Euro bekam, die eine | |
staatliche Agentur für die Renovierung Sevrans schuldete. Auch wollte er | |
auf die Finanzprobleme der armen Vorstädte hinweisen: „Meine Aktion war | |
extrem, hat aber gewirkt. Seither hat sich einiges gebessert. Doch wir sind | |
bei den kommunalen Investitionen sehr vorsichtig. Wir setzen unsere | |
Hoffnung auf zwei langfristige Projekte: Erstens die urbane Erschließung | |
dank des Vorhabens Grand-Paris mit dem Bau von zwei Metrolinien bis Sevran. | |
Und zweitens die Olympiade von 2024. Sevran soll einer der Austragungsorte | |
werden. Wir spüren schon jetzt die positiven Auswirkungen in Form von | |
Investitionen. Die Immobilienpreise beginnen zu steigen, und ich fürchte, | |
das fördert bald die Gentrifizierung.“ Das war bis vor Kurzem noch ein | |
Fremdwort in Quartieren wie Les Beaudottes, wo nur Leute hinziehen, die | |
keine andere Wahl haben. | |
## Das Geld wird noch knapper | |
Trotz seiner langfristigen Zuversicht bereitet Gatignon die unmittelbare | |
Zukunft Sorgen. Die Regierung hat angekündigt, dass die Regionen, | |
Departemente und Kommunen weniger Geld bekommen und dass die Zahl der | |
emplois aidés, das heißt der staatlich subventionierten Stellen in | |
kommunalen Dienstleistungen oder Vereinen zur Eingliederung von | |
Arbeitslosen um 120.000 verringert wird. Die noch laufenden Stellen will | |
der Staat nach Kritik des Rechnungshofes nur noch zur Hälfte und nicht mehr | |
zu 70 Prozent finanzieren. | |
„Wir unterzeichnen in Sevran ohnehin nur dann solche Verträge für emplois | |
aidés, wenn wir sicher sind, dass am Ende eine Festanstellung möglich ist“, | |
versichert Gatignon, der die pauschale Begründung der Kürzung für nicht | |
legitim hält. „Offenbar weiß die Regierung nicht, welche Konsequenzen das | |
etwa für Sportvereine und vor allem für den Fußball haben wird, der bei uns | |
das beste Mittel zur Integration der Jungen darstellt!“ | |
Die staatliche Subventionskürzung sei kontraproduktiv, sagt Gatignon. Er | |
war bei seiner ersten Bürgermeisterwahl Kommunist, dann trat er den Grünen | |
bei und setzte danach vergebliche Hoffnungen in das zusammen mit Daniel | |
Cohn-Bendit lancierte Projekt Europe-Ecologie-Les Verts (EELV). Bei den | |
Präsidentschaftswahlen unterstützte er – „mangels besserer Alternative“… | |
den jetzigen Staatschef Emmanuel Macron. | |
Heute bezeichnet sich Gatignon als „parteilos engagiert“. Wie viele der | |
eher halbherzigen Fans im Frühling ist er im Herbst ernüchtert, aber nicht | |
überrascht. „Macron ist gewiss äußerst brillant, aber er ist autoritär“, | |
lautet das Urteil aus Sevran. Dass die Regierung nun ausgerechnet auf | |
Kosten der Kommunen sparen will und dabei nicht zwischen reichen Städten | |
und armen Dörfern oder Vororten unterscheidet, bestätigt Gatignons Bild von | |
Macron. | |
„Realitätsfremd“ findet er die offizielle Zuversicht der Regierung. Die | |
hoffe anscheinend, irgendwie werde die Rechnung aufgehen. „Das erinnert | |
mich an meinen Besuch in der DDR als Jungkommunist 1987. Als wir dort die | |
ostdeutschen Genossen fragten, wie die DDR das angekündigte Ziel des | |
BRD-Lebensstandards erreichen wolle, antworteten sie mit entwaffnender | |
Naivität: ‚Mit dem Plan‘!“ | |
11 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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